Hamburg. Wolfgang Timpe lebt seit 2004 im neuen Stadtteil und ist seit 2019 Chefredakteur der „HafenCity Zeitung“. Er hat einen besonderen Blick.
Wahrscheinlich benötigt man ein Faible für Baustellen. Als 2004 am Sandtorkai die ersten Wohnungen bezugsfertig wurden, wagte Wolfgang Timpe mit seiner Frau den Umzug in die Einöde. Eineinhalb Jahrzehnte später machte er seinen Wohnort zum endgültigen Lebensmittelpunkt: Der frühere Chefredakteur der „Neuen Westfälischen“ und der „Hessischen Allgemeinen“ übernahm den Job als Chef und Herausgeber der „HafenCity Zeitung“.
Seit 2019 berichtet er vom Kaiserkai und sieht die HafenCity als Labor für ganz Hamburg. „Das Leben in der Großstadt wird sich radikal verändern. In der HafenCity ist das schon deutlicher spürbar als in anderen Stadtteilen: Die Bedürfnisse nach Grün, nach Freizeit, aber auch nach wirklich gelungenem Städtebau und guter Architektur wachsen.“
HafenCity – ein Labor für ganz Hamburg: Wolfgang Timpe gehörte zu den Wohn-Pionieren
Timpe selbst hat das Wachsen und Werden des Stadtteils von Beginn an erlebt – als einer der Pioniere. „Der Sandtorkai war damals eine leere Fläche, wir guckten zwei Jahre lang auf die Elbe, sahen die ,Queen Mary 2‘ vorfahren und den Hafenverkehr. Es war nichts da außer dem Kaispeicher A, der einem nackten Klotz glich“, erinnert sich der heute 68-Jährige.
Damals trieb ihn der Zufall in den neuen Stadtteil. „Wir waren gerade aus Berlin gekommen und bekamen angesichts der Immobilienpreise in Hamburg einen Kulturschock. Vor 20 Jahren war Hamburg viel teurer als Berlin. Bei der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung sind wir auf die HafenCity gestoßen und haben uns auf das Abenteuer eingelassen. Wir haben es nicht bereut, ganz im Gegenteil.“
Der HafenCity-Zeitungsmacher verliebte sich in der Jugendherberge in Hamburg
Der gebürtige Hannoveraner hatte sich schon viel früher in den Hafen verliebt. „Ich bin als Schüler mit dem Hafen groß geworden, weil unsere Kunstklasse jedes Jahr nach Hamburg in die Jugendherberge gefahren ist. Von den Etagenbetten konnten wir auf den Hafen schauen. Der Hafen und seine Lichter haben uns fasziniert.“
Timpe dürfte nicht der Einzige sein, der sich am Stintfang in Hamburg verliebt hat – vielleicht ist die Jugendherberge nicht nur einer der ältesten Werbeträger der Stadt, sondern auch der erfolgreichste.
Schnell wurden die Timpes im neuen Stadtteil heimisch. Auch den meisten Nachbarn erging es so. „Das ist das Schöne: Die HafenCity ist ein Dorf. Schätzungsweise 70, 80 Prozent der Nachbarn, mit denen wir im Stadtteil gemeinsam heimisch geworden sind, sind geblieben. Allein in unserem Haus haben sich fünf Freundschaften mit Menschen entwickelt, die alle noch in der HafenCity leben. Es gibt hier eine klassische, eine gute Nachbarschaft. Das glauben viele nicht.“
Timpe erklärt, wie die Nachbarschaften gewachsen sind. „Zunächst gab es ja keine Restaurants. Man hat sich fast ausschließlich zu Hause getroffen, was den schönen Nebeneffekt hatte, dass man die Menschen schnell sehr persönlich kennenlernt. Wir leben in einem tollen, offenen Stadtteil.“
Großzügigkeit in der Hamburger HafenCity – im Osten sei sie verloren gegangen
Wer jeden Tag mit seinem Stadtteil zu tun hat, sieht vieles genauer – mitunter kritischer, mitunter wohlwollender. Timpe ist vor allem ein Fan der ersten Bauabschnitte, als der neue Stadtteil noch kleinteilig wuchs und überall Blicke auf das Wasser ermöglichte. Die hohe Dichte im Osten der HafenCity sieht er hingegen kritisch. „Das ist mir ein bisschen fremd, auch wenn ich verstehe, dass die Politik dort mehr Wohnungen wollte. Ich liebe den Sandtorkai, wo die Abstände zwischen den Gebäuden so großzügig sind, dass Kinderspielplätze hineinpassen.“ Genau diese Großzügigkeit sei Richtung Osten mehr und mehr verloren gegangen. „Das bedauere ich städtebaulich wie städteplanerisch.“
Timpe verweist darauf, dass ausgerechnet im Baakenhafen, wo die Bebauung heute so dicht ist, ursprünglich Kleingärten mit Einfamilienhäusern geplant waren. „Das ist schnell fallen gelassen worden, weil die Hamburger eben Pfeffersäcke sind“, sagt der Magister der Germanistik und Politikwissenschaft. Die ersten Straßenzüge der HafenCity hingegen waren tatsächlich als „Reichenviertel“ geplant, erzählt er. „Das wurde auch so genannt. Dieses Image werden wir leider nun nicht mehr los.“
„Ich habe immer noch Tränen in den Augen, weil das Science Center nicht gekommen ist“
Bis heute bedauert Timpe, dass das einst geplante Science Center im Überseequartier eine bloße Kopfgeburt blieb. Rem Kohlhaas und Ellen van Loon hatten übereinandergestapelte Container erdacht, in die eine große Wissensschau einziehen sollte. Die Finanzkrise 2008 beendete das Wagnis. „Ich habe immer noch Tränen in den Augen, weil das Science Center nicht gekommen ist. Die Elbphilharmonie war ein positives Beispiel für Architektur, die die Menschen begeistert. Sie hat gezeigt, dass man allen Problemen zum Trotz mit Geld und Druck ein Gebäude fertigstellen kann.“
Dieses Durchhaltevermögen hätte sich der HafenCity-Zeitung-Chefredakteur auch für das Science Center gewünscht. „Das Überseequartier war dann lange eine Pfütze, und die Menschen hatten sich schon daran gewöhnt. Aber für Wirtschaft und Stadtplanung war es ein Desaster, sodass die Stadt sehr froh war, als Unibail-Rodamco-Westfield als Investor auf den Plan trat.“
Der Experte erwartet die Eröffnung des Überseequartiers in Hamburg im ersten Quartal 2025
Timpe erwartet, dass der vierte Eröffnungstermin des Einkaufszentrums im ersten Quartal 2025 endlich eingehalten wird. „Das ist auch bitter nötig, denn für die Mieter sind diese Verschiebungen eine Katastrophe: 93 Prozent der Flächen sind vermietet.“ Die Kredite der Einzelhändler und Gastronomen liefen nun seit Langem, aber sie machten keinen Umsatz. „Besonders bitter ist, dass Westfield sie nicht rechtzeitig informiert hat. Die Mieter haben im April zwei Stunden vor der Öffentlichkeit erfahren, dass die Eröffnung verschoben werden muss. Da wurde viel Vertrauen verspielt.“
Die Idee des Elbtowers hat der Wahl-Hamburger von Beginn an begrüßt. „Die HafenCity benötigt einen städtebaulichen Abschluss. So wie die Elbphilharmonie den Stadtteil eröffnet, soll am Ende ein bekanntes Gebäude den Abschluss bilden. Der Entwurf von Chipperfield ist ein Statement, weil Hamburg bislang keine echten Hochhäuser, sondern nur Kirchtürme hat.“ Die Stadt müsse den Mut haben, Zeichen zu setzen. „Sind wir nun eine Kleingartenkolonie mit 1,8 Millionen Einwohnern, oder sind wir eine Großstadt? Ich finde, Hamburg sollte Großstadt sein, und zur Großstadt gehören markante Gebäude.“ Der Elbtower füge sich sensibel in die Silhouette der Stadt ein.
Timpe fordert die Stadt auf, den Bau des Elbtowers zu unterstützen
Timpe rechnet damit, dass der 245 Meter hohe Wolkenkratzer weitergebaut wird. Sein Optimismus speist sich aus seiner Erfahrung mit der Elbphilharmonie. „Das Schlimmste wäre, ihn so zu lassen, wie er jetzt ist.“ Derlei Forderungen aus der Stadtgesellschaft zeugten von wenig Sachverstand. Timpe nimmt den Senat ausdrücklich in die Pflicht: „Es ist unglücklich, dass die Stadt nicht mehr so zum Projekt steht wie zu dem Zeitpunkt, als man ihn mit großer Mehrheit beschlossen hat.“ Bei einem solchen Gebäude könne sich die Stadt nun nicht einfach heraushalten. „Macht es wie bei der Elbphilharmonie: vernünftig und kostenorientiert. Die Stadt muss nicht einsteigen, aber sie soll die Investoren motivieren und beim Konsortium helfen. Darin liegt eine Verpflichtung.“
Der HafenCity-Experte hat viele Lieblingsplätze im jungen Stadtteil: „Ganz neu und noch ein kleiner Geheimtipp ist der Strandkai mit dem Amphitheater gegenüber der Elbphilharmonie. Man guckt die Elbe hinunter, sieht alles, was den Hafen ausmacht, die Landungsbrücken, die Musicaltheater. Und das ist ein toller Sonnenuntergangsplatz.“
Ein Geheimtipp ist der Amerigo-Vespucci-Platz nahe den Elbbrücken
Zudem empfiehlt Timpe den Amerigo-Vespucci-Platz nahe den Elbbrücken. „Dort entsteht das Digital Art Museum. Das wird ein attraktiver Platz am Ende des Baakenhafenbeckens.“ Hier zeige die Idee der HafenCity, erst die Infrastruktur und später die Gebäude zu errichten, ihre Stärke. „Das war das Mantra der HafenCity – und es war richtig. Eigentlich ist das Herzstück der HafenCity die U4.“
Was aber macht der Chefredakteur der „HafenCity Zeitung“, wenn der Stadtteil bald fertig gebaut ist? An Aufhören denkt Timpe jedenfalls nicht: Vielmehr erwägt er, seine Zeitung auf andere Viertel auszudehnen. Statt „Nachrichten von der Hamburger Stadtküste“ könnte es in Zukunft heißen „Nachrichten aus der neuen Mitte Hamburgs“. „Die HafenCity und die Innenstadt werden die neue Mitte der Stadt“, sagt Timpe. „So formuliert es ja auch der Masterplan. Die neue Innenstadt reicht von der Binnenalster bis zur Elbe. Nun liegt die Aufgabe darin, das auch zu leben.“
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Ganz Hamburg, meint er, könne vom neuen Stadtteil lernen. „Wenn die HafenCity wirklich mal fertig ist – und sollte es 2030 so weit sein, haben wir alle Glück gehabt –, kommt gegenüber der neue Stadtteil Grasbrook. Und damit wird die Stadt noch einmal richtig wachsen.“
Fünf Fragen an HafenCity-Experte Wolfgang Timpe
- Welche ist Ihre Lieblingsstadt? Meine Lieblingsstadt ist meine Geburtsstadt Hannover, dann folgt New York und schließlich Hamburg. Hannover hat alles, was alle Weltstädte haben, aber eben nur einmal. Die Stadt ist sehr grün, hat den schönen Maschsee und die wunderbare Mannschaft Hannover 96. Und mit den Nana-Figuren der Künstlerin Niki de Saint Phalle hatte Hannover einen der ersten deutschen Kunstskandale der Nachkriegszeit.
- Welchen Hamburger Stadtteil mögen Sie am liebsten? Mein Lieblingsstadtteil ist die HafenCity, wo ich seit 19 Jahren lebe. Als wir an den Sandtorkai gezogen sind, war das noch keine Straße, sondern eine Fläche mit Steinen und Sandhügeln.
- Welches ist Ihr Lieblingsgebäude in Hamburg? Mein Lieblingsgebäude ist die Elbphilharmonie. Aber ich mag auch die Katharinenkirche sehr – für mich ist sie eine der schönsten Kirchen.
- Wo halten Sie sich am liebsten auf? Ich habe einige Lieblingsplätze in der Innenstadt. Es ist gut, dass der Burchardplatz nun mehr Grün bekommt als geplant. Ich hoffe auch auf den Hopfenmarkt, der neu gestaltet wird. Und ich mag den Rathausmarkt – er ist zu Recht die Mitte Hamburgs.
- Worauf könnten Sie in Hamburg verzichten? Einmal mit der Abrissbirne würde ich das neue Johann Kontor gleich wieder verschwinden lassen. Das Gebäude ist eine große Enttäuschung. Dafür musste der denkmalgeschützte City-Hof weichen. Über diese Hochhausscheiben konnte man ästhetisch trefflich streiten, aber sie haben Hamburg geprägt. Wenn man etwas Prägendes abreißt und etwas Gesichtsloses an die Stelle setzt, kann ich darin keinen Gewinn für Hamburg erkennen.