Hamburg. Thomas Krüger fordert mehr städtische Initiativen und sieht das XXL-Einkaufszentrum kritisch – vor allem für das Umland.

Er ist derzeit ein viel gefragter Experte: Thomas Krüger, Professor an der HafenCity Universität, gilt als einer der versiertesten Innenstadt-Forscher im Land. Und in dem Maße, in denen der Onlinehandel wächst, Inflation und Zinsen steigen und die Wirtschaft dümpelt, wachsen allerorten die Sorgenfalten. Das lange so lukrative Geschäft mit dem Handel in den Einkaufsstraßen, es funktioniert nicht mehr von allein.

„Das Schicksal der Innenstädte hängt an ihrer Struktur“, sagt Krüger, der seit 2000 zunächst an der TU Hamburg-Harburg und seit 2009 an der HafenCity Universität zu Projektentwicklung und Projektmanagement in der Stadtplanung forscht. „Wenn dort viele Menschen leben, Kulturangebote und Gastronomie in der Nähe sind, funktionieren Innenstädte auch in Zeiten der Einzelhandelskrise, wie etwa in Köln.“ Interessante Architektur könne helfen, entscheidend aber sei das vielfältige Leben in der Stadt. „Es gibt viele nette Fachwerkstädte auf dem Lande, die wunderschön sind, aber es fehlen die Menschen.“ 

Innenstadt-Forscher: Hamburg war extrem moderne Großstadt – das rächt sich nun

Es geht um die Mischung aus Kultur, Bildung, Wohnen und Arbeiten. Städte müssten interessant sein, immer wieder Anlässe für einen Besuch schaffen: „Sie müssen das Bedürfnis wecken, dorthin zu wollen und Menschen zu treffen.“ Hier liegt eines der Probleme der Hamburger City. „Bei mir ist es ein Jahr her, dass ich zum letzten Mal abends in der Innenstadt war“, sagt er im Podcast „Was wird aus Hamburg?“. Er vermisst attraktive Restaurants, interessante Kaffeehäuser zum Zeitunglesen, Bistros zum Verweilen.  

173776_224_cover.jpg

Die Folgen des Überseequartiers für Hamburg

Was wird aus Hamburg? Der Stadtentwicklungs-Podcast

Dieses Problem ist in der Hansestadt im ureigenen Wortsinn gewachsen. „Oberbaudirektor Fritz Schumacher hat mit dem Kontorhausviertel und dem Bau der Mönckebergstraße zu Beginn des 20. Jahrhunderts die moderne Stadt schlechthin gebaut – mit großen Büros und Einkaufsflächen“, sagt Krüger. „Dieser Weg wurde nach dem Krieg noch forciert und eine funktional optimierte Innenstadt errichtet, die auf Rendite optimiert war.“ Ob Kino, Café oder Clubs – sie alle verschwanden nach und nach aus den Einkaufsmeilen.

Falsche Weichenstellungen der Wirtschaftswunderjahre prägen bis heute die Hamburger City

„Leider ist im Krieg vieles kaputtgegangen, was gemischter und kleinteiliger angelegt war“, sagt Krüger. Der Wiederaufbau traf auf den Zeitgeist der Wirtschaftswunderjahre. „In den 50er- und 60er-Jahren war Konsum wichtig. Die Menschen kamen aus dem Umland am Hauptbahnhof an und fielen den Händlern und Immobilienbesitzern fast vor die Füße.“ 

Krüger selbst ist in den Sechzigern und Siebzigern aufgewachsen: „Das war eine schöne Zeit. Aber die Bedürfnisse haben sich verschoben, die Besuchsanlässe gewandelt. Da wird unsere Monostruktur im Großformat zu einem Riesenproblem.“ Die Münchner, aber auch die Kölner Innenstadt verfügten über eine kleinteiligere Struktur. Es mache einen Unterschied, ob ein kleines Geschäftshaus einer Familie gehöre oder eben einem Fonds, der woanders sitzt. „Für den werden ein Haus und eine Straße zu einer anonymen Excel-Tabelle.“  

In Hamburg gehören zu viele Immobilien den „Dinosauriern“

Der Erfolg von gestern werde heute zur Belastung. „Lange Zeit waren Einkaufsstraßen in den Topstädten eine attraktive Anlage mit tollem Wachstum.“ Ganze Straßenzüge gehören inzwischen den „Dinosauriern der Immobilienwirtschaft“, großen Playern, „die fünf Entscheidungsebenen haben und mit denen man schlecht zusammenarbeiten kann. Die kennen oft nicht mal ihre Nachbarn. Hamburg war da sehr modern und weit vorne am Markt. Das rächt sich nun.“ 

Die Stadt müsse alle zur Zusammenarbeit bewegen: Vermieter, Händler, Gastronomen, Kulturschaffende. Krüger fordert: Investoren müssen gemeinsam erarbeiten, was sie benötigen und was sie selbst leisten können. „Innenstadt ist eine Gemeinschaftsveranstaltung“, sagt er.

Thomas Krüger wünscht sich ein Centre Pompidou am Gerhart-Hauptmann-Platz

Dem gebürtigen Hamburger ist um seine Heimatstadt nicht bange: Hamburgs Potenzial ist der starke Einzugsbereich mit drei bis vier Millionen Menschen, die in weniger als einer Stunde in der Innenstadt sein können. „Die City ist mehr als eine Konsumlage und muss ihre Attraktivität erhöhen, etwa mit Events und Institutionen. Eine Innenstadt muss bespielt werden.“ 

Krüger wünscht sich Orte, die die Menschen in die Stadt locken. „Ein Centre Pompidou wäre ein richtiger Knaller. Dieser Ort in Paris hat mich immer wieder beschäftigt und fasziniert.“ Das staatliche Kunst- und Kulturzentrum liegt eher in einer Randlage, habe aber „eine unglaubliche Ausstrahlung als öffentlicher Raum, als Treffpunkt und Kulturort. Es bietet den tollen Vorplatz, wo man einfach in der Sonne liegen kann. Mein Traum wäre, einen Teil der Obergeschosse des Karstadt-Gebäudes zum Gerhart-Hauptmann-Platz zu öffnen und daraus einen Platz zu machen, auf dem man sich wohlfühlt.“ Das wäre ein Grund für viele, wieder in die Innenstadt zu kommen.  

„Der Handel allein wird die Innenstadt nicht retten“

Der Handel allein wird es nicht richten: „Einkaufen wird die Innenstadt nicht retten und nicht auf Dauer stabilisieren, denn das geht auch im Internet oder in den Einkaufszentren der Stadtteile. Stattdessen muss das Herz der Stadt wieder werden, was es früher war: ein Ort des Aufenthalts, des Lebens, des Treffens, des Feierns, des Flanierens, des Draußensein.“ 

Krüger plädiert aber nicht für die Eventisierung der Stadt mit Großveranstaltungen, sondern für ein permanentes Tagesprogramm, für einen interessanten Alltag, um die Attraktivität zu erhöhen. „Großereignisse sind finanziell schwieriger geworden und überfordern schnell die Innenstädte mit Verkehr.“

Prof. Dr.-Ing. Thomas Krüger forscht seit 2009 an der HafenCity Universität Hamburg zu Projektentwicklung und Projektmanagement in der Stadtplanung.
Prof. Dr.-Ing. Thomas Krüger forscht seit 2009 an der HafenCity Universität Hamburg zu Projektentwicklung und Projektmanagement in der Stadtplanung. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Die Chance der Innenstadt liege darin, Dinge anbieten zu können, die Stadtteile nicht haben: „Das muss nur jemand in die Hand nehmen, man muss es managen, das entsteht nicht von selbst.“ Gastronomie sei ein wichtiger Faktor. „Wir benötigen Vielfalt: Die Menschen möchten beim Herumschlendern etwas erleben, hier etwas essen, dort Musik hören, dann etwas trinken.“ 

Thomas Krüger: „Wegen hübscherer Plätze kommt kaum jemand in die Innenstadt“

Die Programme der Stadt, nun in die Aufenthaltsqualität der Plätze zu investieren, seien nicht falsch. „Aber es bleibt eine Investition in Steine und nicht in Inhalte. Wegen hübscherer Plätze kommt kaum jemand in die Innenstadt. Das Geld müsste eher in ein echtes Stadtmanagement fließen, das die Akteure zusammenbringt und Projekte entwickelt.“ Es solle nicht nur geredet, sondern dann auch konsequent umgesetzt werden. 

Das will er nicht als Kritik an der Innenstadtkoordinatorin Elke Pahl-Weber verstanden wissen. „Sie macht das gut, aber ihre Stelle ist Placebo. Da hat mich der Bürgermeister enttäuscht. Wir brauchen eine Projektentwicklung für die Stadt, für kulturelle, für soziale, für sportliche Aktivitäten.“ Zudem müsse man die Zuständigkeiten bündeln. 

Insgesamt habe Hamburg dem Problem zu lange zugeschaut, das sich durch die Pandemie noch einmal verschärft hat. Andere Großstädte hätten schneller und beherzter reagiert. „Hamburg hat sich zu sehr auf die Immobilieneigentümer verlassen, die das aber nicht können. Man hat die City im Gegensatz zur HafenCity mit dem Überseequartier stiefmütterlich behandelt.” 

Das neue Überseequartier sieht Krüger kritisch

In dem neuen Quartier mit seinen enormen Einkaufs- und Entertainmentangeboten sieht der 65-Jährige eine enorme Konkurrenz erwachsen: „Ich habe mich beim Zuschlag für Westfield über den Mut der Investoren gewundert.“ Denn dem neuen Überseequartier fehle jede Nachbarschaft. „Die HafenCity ist eine Insel: Nach Süden ist Wasser, nach Westen kommt länger gar nichts, nach Osten ist auch nicht viel, und im Norden ist die Hamburger Innenstadt, getrennt von der Speicherstadt und der ehemaligen Ost-West-Straße.“

Er trauert dem ursprünglichen Konzept hinterher, ein auf ein internationales Angebot, ein wirklich auf „Übersee“ ausgerichtetes Einkaufzentrum in der HafenCity, das in der Weltfinanzkrise 2008 unterging. Stattdessen bekomme Hamburg nun eine zweite City mit 70.000 Quadratmeter Fläche, 200 Geschäften und Gastronomiebetrieben.

„Das wird ein cooles Shoppingcenter, keine stickige Bude, sondern eine offene Architektur mit frischer Luft und einem Regenschutz“, sagt Krüger. Das Problem sei die Größe: „Da kommt auf einen Schlag ein AEZ dazu – allerdings nicht am Ring 2, sondern in einem Ort, der kein Umfeld hat.“

Krüger: „Ich bezweifele, ob der Investor Westfield glücklich mit dem Investment ist“

Es gab beim Zuschlag mahnende Stimmen, aber eben auch den ökonomischen Druck. „Einzelhandel ist ein wesentlicher Ertragsträger auch für die HafenCity. Sie sollte ja eine schwarze Null schreiben, und das funktioniert mit Handel besser, weil er die höchsten Mieten ermöglicht“, sagt der studierte Ingenieur. Vor Corona und dem Boom des Onlinehandels klang das logisch.

Als Professor der HCU ist er in der HafenCity zu Hause. „Die HafenCity ist ein toll gemachtes Projekt mit einer vorbildlichen Logik in der Stadtentwicklung. Aber ab 18 Uhr ist da tote Hose – abgesehen von schönen Sommertagen, wenn die Touristen unterwegs sind, allerdings zum Gucken, nicht zum Kaufen. Ich befürchte einen heftigen Wettbewerb zwischen der gewachsenen Innenstadt und dem Überseequartier.“

Der Investor Unibail-Rodamco-Westfield sei eine börsennotierte Aktiengesellschaft. „Ich bezweifele, ob der Investor glücklich mit dem Investment ist. Die müssen das jetzt durchziehen. Es ist zu groß zum Scheitern, sonst stehen ein paar Hundert Millionen Euro im Feuer.“

Immobilien Hamburg: Das Überseequartier wird Kaufkraft aus den Dörfern abziehen

Das Quartier werde 50 Prozent teuer als ursprünglich geplant. „Das Überseequartier ist zum Erfolg verdammt, und der Investor wird alles tun, um Menschen dorthin zu locken. Hier managt ein Unternehmen die gesamte Fläche und zwingt alle Mieter zur Kooperation, hinzu kommt die Erfahrung aus Dutzenden Städten. Das wird heftig für die gewachsene Hamburger Innenstadt.“

Laut Studien soll ein knappes Drittel der Umsätze des neuen Einkaufsquartiers von außerhalb der Region, vor allem aus dem Ausland kommen – insbesondere über das integrierte Kreuzfahrtterminal. „Ich habe große Zweifel. Das mag in München oder in Frankfurt funktionieren, die vom internationalen Tourismus profitieren. In Hamburg erwarte ich eher ein Publikum aus dem Umland. Das Überseequartier wird Kaufkraft aus den Dörfern abziehen.“ Er sehe als Buchholzer die Probleme des Einzelhandels in den Kleinstädten. „Die werden brutal leiden. Und damit drohen die Kleinstädte ihre örtliche Mitte zu verlieren.“  

Mehr zum Thema

  • Miniatur Wunderland: Was Gründer Frederik Braun sich für Hamburg wünscht
  • Neue Kühne-Oper wäre für Kultursenator Carsten Brosda „Aufbruchssignal für Hamburg“
  • Hamburg: Was wird aus der City? Die Stadt kann stolz auf sich sein

Am Ende geht es um den Erfolg der europäischen Stadt. „Noch beneidet uns die ganze Welt um unsere hochattraktiven, lebendigen, gewachsenen Zentren. Das sind nicht nur die Metropolen, sondern auch unsere Kleinstädte mit der Kirche in der Mitte, dem Rathaus, mit kleinen Geschäften, wo die Menschen sich kennen, mit einem Wochenmarkt. Ich fürchte, sie werden die Rechnung zahlen.“

Fünf Fragen an Prof. Thomas Krüger

Meine Lieblingsstadt neben Hamburg ist Köln. Ich bin begeistert von der Lebensfreude, die dort herrscht. In der Bahn lachen sich die Menschen an, in Hamburg gucken alle weg. In Köln ist es unkompliziert, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Die mediterrane Lebenskultur fängt eigentlich am Rhein an. Als ich dort lebte, dachte ich, die Römer sind noch dort.

Mein Lieblingsstadtteil hat sich leider verändert. Ich habe 20 Jahre in Ottensen gelebt, am Anfang sehr gern, aber dann wurde es immer schwieriger. Ich habe nur noch meinesgleichen getroffen: Akademiker, Lehrerinnen, Sozialpädagogen. Zuletzt haben IT-Leute mit dem Zuwachs an teuren Eigentumswohnungen den Stadtteil erobert. Ich habe mich dann nicht mehr so richtig wohlgefühlt. Gut gefallen hat mir auch Barmbek-Süd, wo früher unsere Hochschule lag. Um die Ecke waren tolle Italiener, aber eben auch Autowerkstätten. Da lebten viele normale Leute, eine schöne Atmosphäre.  

Mein Lieblingsgebäude liegt leider nicht in Hamburg – es ist das Centre Pompidou in Paris. In Hamburg mag ich das Barlach Museum im Jenischpark, diese klassische Moderne der 60er-Jahre. Auch der frühere Standort der Universität an der Hebebrandstraße hat eine unprätentiös klare Architektur mit Leichtigkeit und Offenheit für verschiedene Nutzungen.

Mein Lieblingsplatz ist die Strandperle, wenn schlechtes Wetter ist. Dann ist es dort nicht so voll und die Atmosphäre eine andere: Das ist Hamburg pur!  

Einmal mit der Abrissbirne würde es den Wiwi-Bunker am Von-Melle-Park treffen. Das ist ein grässlicher Betonbau. Das gilt außen wie innen, fast überall ist man auf Kunstlicht angewiesen.