Hamburg. Mitarbeiter von „Hinz&Kunzt“ fanden ihren Verkäufer Milan in Hamburger Einrichtung und berichten Schreckliches. Wie Behörde reagiert.

Es sollte eigentlich ein fröhlicher Tag werden. Ende April machten sich Isabel Kohler und Gabor Domokus, Mitarbeiter des Verlags Hinz&Kunzt, auf den Weg zur Obdachlosenunterkunft an der Friesenstraße, um dem dort untergekommenen Magazinverkäufer Milan (Name geändert) gute Neuigkeiten zu überbringen. Nach einem Schlaganfall im vergangenen Dezember sollte sich der unter anderem an Diabetes leidende Ungar in besagter Unterkunft vom städtischen Unternehmen „Fördern & Wohnen“ in Hamburg-Hammerbrook erholen.

„Bei unserem Besuch wollten wir ihm erzählen, dass er endlich in den Krankenversicherungsschutz fällt, vielleicht sogar ein Kandidat für das neue Pflegeheim in Niendorf sein könnte“, erzählt Kohler nun im Gespräch mit dem Abendblatt. Doch es sollte anders kommen. Als Kohler und Domokus von „Hinz&Kunzt“ an diesem Tag die Tür von Milans Zimmer im dritten Stock öffneten, schlug ihnen ein beißender Geruch entgegen. Fliegen schwirrten in der stickigen Luft umher, „wir hatten sofort Würgeanfälle und wussten, da stimmt was nicht“, so Domokus.

Obdachlose Hamburg: Milan völlig verelendet in „Fördern & Wohnen“-Unterkunft gefunden

Das Bild, das sich ihnen bot, werden die beiden Hamburger wohl nie wieder vergessen: „Da lag unser Milan, fast nackt und mit aufgerissenen Augen, unglaublich dünn, verkotet, verlaust und mit lauter Wunden am Körper“, erinnert sich Isabel Kohler zurück. „Ich habe sofort meine Hand auf seine gelegt, habe ihm gesagt, dass wir jetzt da sind und alles gut wird. Er konnte weder sprechen noch schlucken, doch er hat mir in die Augen geschaut und schien zu verstehen, dass jetzt Hilfe kommt“, erzählt Domokus.

Die Obdachlosenunterkunft von „Fördern & Wohnen“ an der Friesenstraße in Hamburg-Hammerbrook. Hier wurde Milan gefunden.
Die Obdachlosenunterkunft von „Fördern & Wohnen“ an der Friesenstraße in Hamburg-Hammerbrook. Hier wurde Milan gefunden. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Knapp zehn Minuten später traf der Rettungswagen ein. „Die Rettungssanitäter waren sichtlich schockiert und meinten, dieser Zustand könne nicht an einem einzigen Tag erreicht worden sein“, so Kohler. Sofort wurde der Mittfünfziger in das St.-Georg-Krankenhaus eingeliefert. Die Diagnose: Nierenversagen, Blutvergiftung und ein weiterer Schlaganfall. „Er musste ins künstliche Koma versetzt werden“, sagt die gelernte Sozialpädagogin.

Einrichtung in Hamburg-Hammerbrook Teil des Winternotprogramms

Doch wie konnte es so weit kommen? Um sich einer Antwort zu nähern, braucht es einen Blick auf die Struktur der Einrichtung an der Friesenstraße. Jedes Jahr vom 1. November bis zum 1. April ist die Unterkunft Teil des Hamburger Winternotprogramms und bietet Schlafplätze für obdachlose Frauen und Männer.

Auf Anfrage sagt Anja Segert, Sprecherin der Sozialbehörde, dazu: „Die Einrichtung Friesenstraße wird nach Ende des jeweiligen Winternotprogramms zur Anschlussunterbringung besonders vulnerabler obdachloser Menschen genutzt. Es handelt sich um Personen, die aus gesundheitlichen Gründen bei einer Rückkehr beziehungsweise einem Verbleib auf der Straße an Leib und Leben akut gefährdet wären.“ Es handele sich dabei allerdings nicht um eine Pflegeeinrichtung nach dem Sozialgesetzbuch, sondern um eine Notübernachtungsstätte.

Pflegedienst besucht Obdachlosenunterkunft in Hammerbrook regelmäßig

„Schwerst pflegebedürftige Menschen können hier in der Regel nicht aufgenommen werden, da die entsprechende Versorgung in den Räumlichkeiten einer Notübernachtungsstätte nicht gewährleistet werden kann“, so Segert weiter. Dennoch gebe es unter den Klientinnen und Klienten immer wieder Einzelfälle mit erhöhtem Pflegebedarf,die in der Einrichtung verbleiben, weil nicht in jedem Fall eine Verlegung an geeignete Einrichtungen erfolgen kann, insbesondere wegen fehlender Leistungsansprüche.“ So wie beispielsweise bei Milan ein fehlender Krankenversicherungsschutz.

„Für diese Personengruppe sind in den letzten Jahren die medizinisch-pflegerischen Angebote in den Notübernachtungsstätten des Winternotprogramms und den Anschlussunterbringungen im Sommer geschaffen und ausgebaut worden. Hierfür sucht ein Pflegedienst die Einrichtungen regelmäßig auf“, heißt es von der Sozialbehörde weiter.

Hamburger Einrichtung – hier sind nur ein bis zwei Pflegekräfte pro Schicht im Einsatz

Der Pflegedienst könne täglich von 7 bis 19 Uhr von den Bewohnern und Bewohnerinnen und insbesondere während der Wund- und Medikamentensprechstunde (täglich jeweils einmal vormittags und einmal nachmittags) in Anspruch genommen werden. Pro Schicht seien dabei ein bis zwei Pflegekräfte im Einsatz.

Der Schwerpunkt der Versorgung liege dabei allerdings vorrangig auf Behandlungspflege – „das bedeutet, dass vor allem Wundversorgung und Verbandswechsel in den dafür vorgesehenen Sprechstunden vorgenommen werden sowie Medikamente dosiert und verabreicht werden“, schränkt die Sprecherin ein.

Sozialarbeiterin kritisiert Hamburger Sozialbehörde

„Hinz&Kunzt“-Mitarbeiterin Isabel Kohler sieht hier jedoch „ein strukturelles Problem“ und die Sozialbehörde in der Verantwortung. Im gesamten Hilfesystem gebe es zu wenig Einrichtungen, in denen sich ausreichend und würdevoll um die Menschen gekümmert werden könne.

Es sei unzumutbar, ein bis zwei Pflegekräfte für schätzungsweise 80 pflegebedürftige Personen einzusetzen (Stand 30. Mai laut Behörde: 87 Personen) – und besonders dann, wenn eben diese Menschen wegen fehlender Leistungsansprüche und gesundheitlichen Defiziten vom Leben auf der Straße auf die Versorgung angewiesen seien. Milan beispielsweise sei offensichtlich körperlich gar nicht mehr in der Lage gewesen, den Pflegedienst aufzusuchen, ganz zu schweigen von einer Sprechstunde. Deshalb appelliert Kohler: „Sorgt euch doch bitte adäquat um die Menschen.“

Von der Sozialbehörde heißt es dazu: „Die Medikamentenausgabe erfolgt entweder in der Medikamentensprechstunde oder auch aufsuchend durch die Pflegefachkräfte, welche die Medikamente dosieren und verabreichen. Menschen, die ihr Zimmer nicht aus eigener Kraft verlassen können, werden in diesen Fällen durch den Pflegedienst auch in den Zimmern aufgesucht. Bei Personen, die einen besonderen medizinischen Unterstützungsbedarf benötigen, erfolgt eine Überweisung ans Krankenhaus.“

Fall Milan: „Hinz&Kunzt“ hat Strafanzeige gestellt, Hamburger Polizei ermittelt

Ob das wirklich passiert ist, ist nun auch Gegenstand polizeilicher Ermittlungen. Denn: „Hinz&Kunzt“ hat Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt. „So etwas darf einfach nie wieder passieren“, sagt Kohler. Von „Fördern & Wohnen“ heißt es auf Anfrage nach einem Statement, man solle sich direkt an die Sozialbehörde wenden. Diese verweist bei der Frage nach den Konsequenzen des Vorfalls auf das laufende Verfahren.

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Isabel Kohler und Gabor Domokus sind wütend. Wütend darüber, was Schützling Milan für Qualen erleiden musste. Wütend, weil niemand seinen Zustand bemerkt hat. Und wütend, weil sie ihn in der Unterkunft von „Fördern & Wohnen“ in Sicherheit gewogen hatten. „Unser Milan war ein gesunder Mensch, hat nie Drogen, Alkohol oder Zigaretten konsumiert“, sagt Kohler. „In den unterschiedlichen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe war er wahnsinnig beliebt, er sprach zwar kein Deutsch, aber hatte eine unglaubliche Präsenz, alleine schon wegen seiner charmanten Augen“, erinnert sie sich lächelnd.

Obdachlose in Hamburg: Milan wird für immer ein Pflegefall bleiben

Gesund wird Milan wohl nie wieder werden. „Es geht ihm schlecht, er guckt nur noch, reagiert nicht mehr und wird künstlich ernährt“, beschreibt Domokus seinen Zustand. „Ich wünsche mir, dass ein Wunder geschieht, aber Milan wird wahrscheinlich für immer ein Vollpflegefall bleiben.“

Das einzig Positive sei nun: „Er hat jetzt eine Krankenversicherung und bekommt deshalb im Krankenhaus diesmal das volle Programm. Hätte er die allerdings von Anfang an gehabt, wäre das alles gar nicht passiert“, so Isabel Kohler. Nach der Entlassung soll der Ungar für rund acht Wochen in die Reha verlegt werden. Danach geht die Suche nach einem geeigneten Pflegeplatz von vorne los.