Hamburg. Der Sechsjährige wurde beim Ballspielen auf dem Schulhof attackiert. Der Halter hatte die Tiere mit Beißtraining abgerichtet.
Es gibt Dinge, auf die ist man nicht vorbereitet. Selbst nicht, wenn man beruflich oft mit den Schattenseiten des Lebens zu tun hat, so wie die Einsatzkräfte, die am 26. Juni 2000 um 11.42 Uhr, einem Montag, zur Grundschule an der Buddestraße in Hamburg-Wilhelmsburg alarmiert wurden.
Als sie eintrafen, stießen sie auf einen kleinen Jungen, der mit zerbissenem Gesicht und Nacken auf dem Rasen lag. Sie sahen sich zwei Kampfhunden gegenüber: „Zeus“, halb Pitbull, halb American Staffordshire, knapp 37 Kilo schwer, und „Gipsy“, eine 26 Kilo schwere Mischung aus Pitbull, American Staffordshire und Bullterrier. 18 Kugeln aus Maschinenpistolen waren nötig, um die Tiere, die den kleinen Jungen wie im Blutrausch zu Tode gebissen hatten, zu stoppen. Schließlich lagen auch die Tiere tot auf dem Rasen.
Hamburg-Wilhelmsburg: 6-Jähriger von Kampfhunden zu Tode gebissen
Eine Notärztin und ihr Team, die an diesem Tag dorthin alarmiert worden waren, versuchten noch, den leblosen Jungen zu retten. Sie beatmeten ihn, machten Herzmassage und spritzten Adrenalin. 30 lange Minuten. Ihre Mühen waren vergeblich. Noch auf dem Schulhof stellten sie den Tod von Volkan fest. Der Junge wurde sechs Jahre alt.
Erst durch die Gerichtsverhandlung wurde festgestellt, was sich an diesem Morgen des 26. Juni für eine Tragödie auf dem Schulhof abgespielt hatte. Volkan hatte mit anderen Kindern in der zweiten großen Pause Ball gespielt, als die beiden Kampfhunde über die rund eineinhalb Meter hohe Mauer sprangen. Erst „Gipsy“, der, wie Kinder, die Augenzeugen dieser furchtbaren Beißattacke wurden, später berichteten, auf Volkan zu rannte, der einen gelben Ball hatte.
Kampfhund-Attacke in Hamburg-Wilhelmsburg: Volkan versuchte, wegzulaufen
„Gipsy“ habe sich auf das Kind geworfen und ihm gleich in den Kopf gebissen. Der kleine Junge versuchte, wegzulaufen. Der Hund holte ihn ein, riss ihn wieder zu Boden. Dann kam der zweite Hund „Zeus“ dazu, der ebenfalls auf Volkan los ging.
Nicht nur viele Schüler sahen bei dem Todeskampf des Jungen zu. Auch Lehrer waren unter den Augenzeugen. Eingegriffen haben sie nicht. Selbst die Polizei wurde zuerst von einer 13 Jahre alten Schülerin informiert.
Polizei Hamburg tötete die Kampfhunde auf dem Schulhof
Zwar versuchte der Besitzer von „Zeus“, der damals 23 Jahre alte Ibrahim K, genannt „Ibo“, die Hunde von dem Kind wegzureißen. Geschafft haben es aber zwei andere. Es waren Hüseyin A., ein 33 Jahre alter Türke, der als selbstständiger Bauarbeiter arbeitet und sich an einem nahen Kiosk mit Bekannten getroffen hatte, und Dragon J., damals 29, ein Bosnier, der in der Nähe war, weil er bei einem Umzug half. Er packte zuerst „Zeus“, Hüseyin A. griff sich „Gipsy“. Wenig später trafen die ersten alarmierten Polizisten ein und töteten die Hunde.
Wie grausam der Tod des kleinen Jungen war, unterstrich auch die Obduktion der Tiere. So wurde im Magen von „Zeus“ die Oberlippe und die Nase von Volkan gefunden. Aus dem Magen von „Gipsy“ holte ein Gerichtsmediziner bei der Obduktion die Augenlider und einen Haarschopf des kleinen Jungen.
Hamburg führt nach Angriff auf Kind Hundeverordnung ein
Die Tragödie hatte bundesweit Auswirkungen. An der Stelle, an der der sechsjährige zu Tode gebissen wurde, häuften sich in den Tagen nach der Tragödie Blumen. Eltern und Kinder demonstrierten gegen die Haltung von Kampfhunden. Und selbst der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach von „Kampfmaschinen“ die von der Straße müssten.
Hamburg führte nach dem Tod des Sechsjährigen als erstes Bundesland eine Hundeverordnung und 2006 ein entsprechendes Gesetz ein, das 2012 noch einmal verschärft wurde. American Pitbull Terrier, American Staffordshire Terrier, Staffordshire Bullterrier und Bullterrier sowie Mischlinge mit diesen Rassen gelten seit Einführung des Gesetzes immer als gefährliche Hunde.
Außerdem wurde der Hundekontrolldienst gegründet, der lange beim Bezirksamt Mitte angesiedelt war und mittlerweile bei der Wasserschutzpolizei, die in Hamburg für Tierschutzdelikte zuständig ist, angesiedelt ist.
Hamburg-Wilhelmsburg: Hundehalter absolvierte intensives Beißtraining
Dass die beiden Hunde „Kampfmaschinen“ waren, bestätigte sich später. Vor allem der bullige „Zeus“ war regelrecht abgerichtet worden. Er war an einen Besitzer geraten, der den Hund offenbar als Statussymbol zur eigenen Aufwertung und gleichzeitig als Respekteinflößer sah.
Ibrahim K., Sohn türkischer Eltern, die in den 1970er-Jahren aus Ordu, einer Provinz am Schwarzen Meer, als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren, wohnte mit seiner Freundin Silja W., der Halterin von „Gipsy“, in einem runtergekommenen Wohnblock in derselben Straße, an der auch die Schule liegt, auf dessen Gelände sich die Tragödie ereignete. Seine Lehre als Autolackierer hatte Ibrahim K. im dritten Lehrjahr abgebrochen.
Bei der Hamburger Polizei waren bis zum Zeitpunkt der Tragödie 18 Ermittlungsverfahren gegen ihn anhängig, darunter Raub, räuberische Erpressung oder Körperverletzung.
Vor Gericht gab sich Ibrahim K. als ein Hundehalter aus, der mit seinem Tier „Stöckchen-Holen“ gespielt hatte. Tatsächlich waren sowohl die Eckzähne von „Zeus“, wie auch von Gipsy“ stark abgenutzt, was von einem Sachverständigen als sicherer Hinweis auf intensives Beißtraining gewertet worden war. Es kam auch heraus, dass K. „Zeus“ immer wieder eine 4,6 Kilo schwere Eisenkette um den Hals gelegt hatte, um so die Nackenmuskeln des Kampfhundes zu trainieren.
Wo „Zeus“ „Beißtraining“ hatte, wurde auch klar. Mitarbeiter des Gartenbauamtes hatten auf einem nahen Spielplatz innerhalb eines Jahres 50 Sitze für Schaukeln aus Gummi ausgetauscht, weil diese durchgebissen waren. Gemeldet wurde das nicht. Überhaupt machte das Bezirksamt, damals war noch Harburg für Wilhelmsburg zuständig, keine „gute Figur“. Nur wenige Monate alt, war „Zeus“ durch eine erste Beißattacke gegen einen Schäferhund aufgefallen. Der Amtstierarzt stufte „Zeus“ als „nicht bissig“ ein.
Kampfhunde aus Hamburg-Wilhelmsburg wurden bereits auffällig
Eine zweite Beißattacke, diesmal wurde ein Labradormischling angegriffen, wurde durch einen Tippfehler zu einem „Erstfall“, weil man so den aktuellen Vorfall nicht den Bissen gegen den Schäferhund zuordnen konnte. Behördenpost, die an Ibrahim K. verschickt wurde, kam als „unzustellbar“ zurück. Zwei Monate vor der tödlichen Beißattacke auf den Sechsjährigen gab es einen dritten Angriff durch „Zeus“ auf einen anderen Hund. In dem Fall traf es einen Beagle.
Einen Maulkorb hatte Ibrahim K. nicht für seinen Hund gekauft. Er habe zwar einen in seinen Augen schönen Maulkorb gefunden. Der sei aber zu teuer gewesen. „Gipsy“ dagegen hatte so einen Maulkorb. Der war aber aus Stoff und von dem Tier zerkaut worden und damit nicht mehr nutzbar.
Hundehalter ließ Kampfhunde in Hamburg-Wilhelmsburg ohne Leine laufen
Ohnehin, so kam heraus, hatte es Ibrahim K, mit Auflagen nicht so ernst genommen. So hatte er an dem Tag, an dem der kleine Volkan sterben musste, seinen Hund „Zeus“ ohne Leine laufen lassen und entgegen Vorgaben den zweiten Kampfhund „Gipsy“ ebenfalls mitgenommen – auch ohne Leine.
Andere Dinge, die nach der Tragödie im Viertel über Besitzer und Hund verbreitet wurden, entsprangen wohl mehr der Phantasie. Da war von Hundekämpfen die Rede, bei denen „Zeus“ der Star gewesen wäre. Natürlich wären diese Kämpfe mit „Zuhältern von der Reeperbahn“ verabredet worden.
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Tatsächlich ergab die Sektion des Hundes, dass das Tier offensichtlich nicht an solchen blutigen Hundekämpfen teilgenommen hatte. Dafür hätte er Narben haben müssen.
Hamburg-Wilhelmsburg: Tod von Volkan – Hundehalter bekommt dreieinhalb Jahre
Im Januar 2001 wurde Ibrahim K., der zuvor Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte, wegen fahrlässiger Tötung zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Bereits im November 2003 wurde er in die Türkei abgeschoben. Seine damalige Freundin Silja W. kam mit einer Jugendstrafe über ein Jahr Haft auf Bewährung davon. Sie zog mit ihrer Familie in eine andere Stadt.
Die 1903 gegründete Grundschule an der Buddestraße gibt es nicht mehr. Dort ist im Rahmen der Internationalen Bauausstellung das sogenannte Bildungszentrum „Tor zur Welt“ entstanden, in das mehrere Schulen einzogen. „Wir bauen hier die teuerste Schule Hamburgs“, sagte der damalige und heutige Schulsenator Ties Rabe bei der Grundsteinlegung 2012.