Hamburg. Vor 20 Jahren zerfleischten Kampfhunde einen Sechsjährigen. Senat verschärfte das Gesetz. Es ging auch um das Versagen von Behörden.
Es ist ein heller Sommertag, als der kleine Volkan auf der Wiese neben der Grundschule an der Buddestraße einem Ball hinterherrennt. Der Sechsjährige kickt ausgelassen mit seinen Freunden. An diesem 26. Juni schreitet um 11.42 Uhr der vorbestrafte Ibrahim K. (23) mit den Pitbull-American-Staffordshire-Mischlingen Zeus und Gipsy aus dem Nachbarhaus. Sekunden später hechten die muskelbepackten Hunde, Zeus, 37 Kilo, Gipsy, 26 Kilo schwer, über die 1,70 Meter hohe Mauer, rennen auf die Kinder los, verbeißen sich in den Kopf des Jungen. Ibrahim K. geht noch dazwischen, wird aber selbst von den Hunden attackiert. Alarmierte Polizisten erschießen Zeus und Gipsy mit Maschinenpistolen, 18 Kugeln brauchen sie. Sanitäter eilen zu Volkan, der in einer Blutlache am Boden liegt. Doch sie können das Leben des Jungen nicht mehr retten.
In den Tagen danach überschlagen sich die Ereignisse. Schüler demonstrieren mit Eltern und Lehrern, rufen „Kampfhunde raus“. Aus Berlin meldet sich Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Diese Kampfmaschinen müssen von der Straße.“ Der Senat verschärft sofort das Hundegesetz, setzt die Steuer für Kampfhunde drastisch hoch. „Wir werden grundsätzlich das Halten gefährlicher Tiere verbieten und nur im Ausnahmefall und unter bestimmten Bedingungen erlauben“, kündigt der damalige Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) im Abendblatt an.
Im Januar 2001 verurteilt das Landgericht Ibrahim K. wegen fahrlässiger Tötung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis, Im November 2002 wird er in die Türkei abgeschoben. Seine Freundin Silja W., Halterin von Gipsy, erhält ein Jahr Jugendstrafe auf Bewährung. „Volkan ist unvorstellbar qualvoll gestorben“, sagt Prof. Michael Tsokos 20 Jahre danach der „Berliner Morgenpost“. Der Mediziner, inzwischen Chef der Rechtsmedizin an der Berliner Charité, obduzierte als Arzt im Institut für Rechtsmedizin am UKE den Jungen und beide Kampfhunde.
Zeus wurde zu einer Kampfmaschine gedrillt
Er konnte nachweisen, dass Ibrahim K. log, als er vor Gericht aussagte, er habe nur Stöckchen-Holen mit den Hunden gespielt: „Die Eckzähne der noch jungen Hunde waren sehr stark abgenutzt. Ein Hinweis darauf, dass die Tiere das Beißen regelmäßig trainiert haben müssen.“
Wie überfordert Ibrahim K. und seine Freundin Silja W. mit der Haltung der Hunde waren, offenbarte sich in dem Prozess vor dem Landgericht. „Ich habe Gipsy behandelt wie mein Baby“, sagte Silja W. in der Verhandlung unter Tränen. Der Welpe, eine Kreuzung aus Pitbull und American Staffordshire, schlief bei ihr im Bett. Und wenn sie nicht gehorchte? „Dann habe ich ihr ins Ohr gebissen.“ Ihr Freund legte Zeus gern eine 4,6 Kilogramm schwere Eisenkette um, damit die Nackenmuskulatur noch kräftiger wurde. Auf dem Spielplatz machte Ibrahim K. seinen Hund zu einer Kampfmaschine. Zeus biss die Hartgummisitze von Schaukeln durch. „Nur die Besten überleben den Krieg“, das war der Erziehungsleitsatz von Ibrahim K..
„Es ist eine Geschichte von verantwortungslosen und überforderten Kampfhund-Besitzern und von sträflichem Staatsversagen“, sagt Tsokos 20 Jahre danach. Dieses Versagen fand auf allen Ebenen statt: Mitarbeiter des Gartenbauamts tauschten in einem Jahr 50 zerbissene Schaukeln aus – der Hinweis, dass auf diesem Spielplatz offensichtlich Kampfhunde gedrillt werden, unterblieb. Der Amtstierarzt, der Zeus beurteilen musste, als der Hund im Alter von sieben Monaten einen Schäferhund und dessen Besitzerin anfiel, erklärte ihn für „nicht bissig“, sondern nur „scharf gegenüber gegenüber anderen Rüden“. Er verordnete Leinenzwang.
18 Ermittlungsverfahren gegen Ibrahim K.
Dabei hätte ein Blick in die Strafakte genügt, dass man Ibrahim K. nicht einmal einen Zwergdackel hätte anvertrauen dürfen. 18 Ermittlungsverfahren und Verurteilungen gingen vor dem Drama in Wilhelmsburg auf sein Konto: Vom Raub über Körperverletzung bis zur räuberischen Erpressung. Spätestens nach dem nächsten Beißvorfall – diesmal verbiss sich Zeus in einen Labradormischling – hätte auffallen müssen, dass Ibrahim K. die Leinenpflicht ignoriert. Doch im Bezirksamt Harburg wurde der Name des Halters falsch eingegeben. Durch den Tippfehler wurde aus Ibrahim K. wieder ein Ersttäter. Statt entschieden gegen ihn vorzugehen, forderte die Behörde den Halter nur erneut auf, den Hund beim Amtstierarzt vorzustellen. Und dieser Brief kam als unzustellbar zurück, die richtige Adresse wurde nicht ermittelt. So konnte Zeus im April 2000 wieder zubeißen, diesmal bei einem Beagle. Zwei Monate später starb Volkan.
Im Strafprozess fragte der Richter, warum Zeus nicht den zuvor vom Amt vorgeschriebenen Maulkorb trug. Ibrahim K. sagte, er habe zwar einen Beißschutz, der über die riesige Schnauze von Zeus gepasst hätte, in einem Laden gefunden. Der hätte auch schick ausgesehen. Aber die 160 D-Mark hätte er gerade nicht dabeigehabt. Gipsy, die sechs Wochen vor Volkans Tod ein zwölfjähriges Mädchen in den Arm gebissen hatte, erhielt dagegen einen Maulkorb. Aus Stoff. Spendiert von Silja W.s Mutter. Gipsy zerkaute ihn zu Fetzen.
Das „sträfliche Staatsversagen“, das Rechtsmediziner Tsokos so kritisiert, endete erst nach den tödlichen Bissen an der Buddestraße. Der Senat verschärfte die Hunde-Vorschriften binnen weniger Tage so radikal, dass manche Halter ihre Tiere bei der nächsten Polizeiwache abliefern wollten. 2012 wurde das Hundegesetz noch einmal verschärft.
Diskussion um Kampfhunde flammt nach Attacken immer wieder auf
Wer gefährliche Hunde halten will – dazu gehören auch American Pitbull Terrier und Staffordshire Bullterrier sowie Kreuzungen aus diesen Rassen – braucht die Erlaubnis der Behörden. Straftäter haben kaum eine Chance auf diese Genehmigung. Zudem müssen diese sogenannten Listenhunde in der Öffentlichkeit immer einen Maulkorb tragen. Die Diskussion um Kampfhunde flammt nach Attacken immer wieder auf. 2018 biss der Staffordshire-Terrier-Mischling Chico in Hannover seine Halterin (52) und deren Sohn (27) tot. Auch sie waren mit der Haltung überfordert.
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Der Deutsche Tierschutzbund hält es für falsch, „wenn aufgrund einzelner Ereignisse bestimmte Hunderassen oder große Hunde generell als gefährlich eingestuft werden.“ Dies werde der „überwiegenden Mehrzahl der freundlichen, zuverlässigen Hunde dieser Rassen und vor allem den vielen Mischlingen nicht gerecht“. Auch Rechtsmediziner Tsokos sieht das Problem eher am anderen Ende der Leine, bei überforderten Haltern. Er kann der niedersächsischen Lösung eines verpflichtenden Hundeführerscheins mit Theorie- und Praxisprüfung viel abgewinnen. Die Schädel von Zeus und Gipsy legte Tsokos nach der Obduktion in die Vitrine seines Büros – als mahnendes Bespiel für falsch verstandene Tierliebe.