Hamburg. Sie war wegen Mordes an 69-Jährigem angeklagt, saß sieben Monate in U-Haft getrennt von ihrem Baby. Was den Richter jetzt bedrückt.

Sie ist aufgewühlt. Sie ist angespannt. Sie hat eine extrem schwere Zeit hinter sich. Catalina R. (Name geändert) stand unter dem Verdacht, eine Mörderin zu sein. Sieben Monate lang saß die 38-Jährige in Untersuchungshaft – die allermeiste Zeit getrennt von ihrem Baby. Jetzt aber kann die Kolumbianerin aufatmen. Das Landgericht Hamburg hat sie vom Vorwurf freigesprochen, einen 69 Jahre alten Mann getötet zu haben.

„Sie hat den Mann nicht umgebracht“, betont der Vorsitzende Richter Matthias Steinmann im Prozess in Bezug auf das Verbrechen an dem Opfer, das am 12. Mai vergangenen Jahres in dessen Wohnung an der Bürgerweide in Borgfelde ermordet worden war. Jose L. aus Hamburg war durch massive Gewalt gegen Kopf und Oberkörper gestorben.

Prozess Hamburg: Richter spricht von einer „brutalen und grausamen“ Tötung

Catalina R. sei zur fraglichen Zeit „nicht am Tatort gewesen, sondern sie war ein paar Kilometer entfernt“, erklärt der Richter. Der Vorsitzende spricht von einem „wasserdichten Alibi“ der Angeklagten.

Zudem sei kein Motiv erkennbar, warum die Angeklagte einen Mann „so brutal und grausam hätte töten sollen, den sie kaum kannte und den sie vorher nur einmal getroffen hatte“. Wie aussagekräftig allerdings das Alibi der Angeklagten ist, habe sich erst im Laufe des Prozesses gezeigt, nach der Vernehmung der entsprechenden Zeugin durch die Verfahrensbeteiligten, so Richter Steinmann.

„Wenn sich im Rahmen einer Beweisaufnahme herausstellt, dass die Angeklagte nicht die Täterin gewesen sein kann, ist das kein Skandal – sondern Folge eines funktionierenden Strafjustizsystems. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ Andererseits sei der Freispruch „auch etwas beängstigend, weil sicher feststeht: Der oder die Täter sind noch auf freiem Fuß. Das ist bedrückend.“

Vorsitzender Richter: „Der oder die Täter sind noch auf freiem Fuß“

Der Vorsitzende spricht ausdrücklich sein Bedauern aus, dass Catalina R. so lange im Untersuchungsgefängnis war, bis sie am 19. Juli schließlich auf freien Fuß gekommen ist. „Es tut mir sehr leid, dass die Angeklagte letztlich viele Monate unschuldig in Haft war“, so Steinmann. Für die Zeit im Gefängnis stehe der 38-Jährigen eine finanzielle Entschädigung zu, sagt der Richter, ohne diese allerdings zu beziffern. Üblich sind in Deutschland 75 Euro für jeden Tag, den ein Verdächtiger unschuldig in Haft gesessen hat.

Als Jose L. in seiner Wohnung getötet wurde, war Catalina R. im neunten Monat schwanger. In Verdacht geriet die 38-Jährige unter anderem, weil am Tatort, insbesondere am Leichnam und an dessen Kleidung, DNA festgestellt worden war, die der Frau zugeordnet wurde. Am 14. Dezember vergangenen Jahres kam die junge Mutter in Untersuchungshaft.

Ihr Baby, zu diesem Zeitpunkt gerade fünfeinhalb Monate alt, wurde dem Jugendamt übergeben, war zunächst in einer Pflegefamilie und schließlich in Jugendschutzhäusern untergebracht. An einigen wenigen Tagen durften sich Catalina R. und ihr kleiner Sohn im Gefängnis sehen.

Zur Tatzeit war die Angeklagte im neunten Monat schwanger

Jetzt sind Mutter und Kind wieder beisammen. Am letzten Verhandlungstag vor dieser Urteilsverkündung hat Catalina R. ihren kleinen Sohn mit ins Gericht gebracht. Jetzt, zum Prozessende, kommt die 38-Jährige ohne den Jungen – aber flankiert von ihren Verteidigerinnen, die von Beginn an betont hatten, dass ihre Mandantin unschuldig sei.

Die Angeklagte geht nach dem Urteilsspruch aus dem Strafjustizgebäude. Die wegen Mordes an einem Senior angeklagte 38-Jährige ist vom Landgericht Hamburg am Montag freigesprochen worden.
Die Angeklagte geht nach dem Urteilsspruch aus dem Strafjustizgebäude. Die wegen Mordes an einem Senior angeklagte 38-Jährige ist vom Landgericht Hamburg am Montag freigesprochen worden. © dpa | Christian Charisius

Die Hauptverhandlung könne „nach vier Tagen mit einem Freispruch beendet“ werden, haben die Anwältinnen zum Prozessauftakt gesagt. Dass Fasern und DNA, die ihrer Mandantin zugeordnet wurden, in der Wohnung des Opfers gefunden wurden, lasse sich durch ganz unverdächtige Umstände erklären. Denn Catalina R. habe fünf Tage, bevor der Mann getötet wurde, in dessen Wohnung Haushaltstätigkeiten ausgeführt, haben die Anwältinnen argumentiert.

Angeklagte hat ein Alibi – sie war mehrere Kilometer vom Tatort entfernt

„Sehen Sie sich die Angeklagte an!“, so die Anwältinnen an die Adresse von Gericht und Staatsanwaltschaft. „Sie soll einen Mann, den sie erst einmal gesehen hat, mit bloßen Händen getötet haben?“ Außerdem habe die Angeklagte für die vermutete Tatzeit ein Alibi, weil sie damals gemeinsam mit einer Kollegin in einem Hotel ein Zimmer gereinigt habe. Dieses Alibi wurde am achten Verhandlungstag durch die Aussage besagter Kollegin im Prozess bestätigt.

Daraufhin beschloss die Kammer, den Haftbefehl gegen Catalina R. aufzuheben. Die junge Mutter kam auf freien Fuß.

Am Tattag, dem 12. Mai vergangenen Jahres, hatte das spätere Opfer Jose L. vormittags noch mit seinem Handy telefoniert und WhatsApp-Nachrichten geschrieben. Dann muss er unerwarteten Besuch bekommen haben – von einem oder mehreren Menschen, die dem 69-Jährigen Gewalt antaten. „Hilfe! Hilfe“ hieß es in einer Nachricht, die um 11.17 Uhr vom Mobiltelefon des Opfers abgeschickt wurde.

Opfer sendete Hilferuf von seinem Handy, bevor er getötet wurde

Etwa zu dieser Zeit müssen der oder die Täter massiv gegen das Opfer vorgegangen sein. Unter anderem waren fast alle Rippen des Rentners gebrochen, zudem hatte er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, und er war stranguliert worden. „Er wurde brutal ermordet“, fasst Richter Steinmann das damalige Geschehen am Tatort zusammen. „Es müssen sich in der Wohnung grausige und schlimme Szenen abgespielt haben.“

Als besorgte Verwandte des 69-Jährigen schließlich am Nachmittag in die Wohnung von Jose L. kamen, fanden sie den Mann auf dem Bett liegend vor, wo er offenbar von seinen Mördern abgelegt worden war. „Er ist kalt“, teilte der Neffe bei einem Notruf an die Feuerwehr mit. Für Jose L. war jede Hilfe zu spät gekommen.

Faserspuren und DNA brachten die Angeklagte ins Visier der Ermittler

Bei der Auswertung vom Handy des Opfers waren die Ermittler unter anderem auf einen Chat zwischen Jose L. und Catalina R. gestoßen. Offenbar hatte die 38-Jährige sich auf eine Stellenanzeige des Rentners gemeldet, in der dieser eine Haushaltshilfe gesucht hatte. Als bei den Ermittlungen schließlich Fasern und DNA gesichert wurden, die der 38-Jährigen zugeordnet wurden, schien aus Sicht von Polizei und Staatsanwaltschaft klar: Catalina R. müsse die Mörderin sein.

Die Verteidigerinnen machten allerdings geltend, dass die damals schwangere Frau am 7. Mai, also fünf Tage vor dem Mord, in der Wohnung von Jose L. unter anderem Wäsche gebügelt und Gläser gespült – und dabei diverse Spuren hinterlassen habe. Einem Gutachten eines Kölner Experten zufolge, das die Verteidigerinnen in Auftrag gegeben haben, würden sich, so es denn diese Haushaltstätigkeiten gegeben habe, die DNA-Spuren daraus erklären lassen.

Richter in der Urteilsbegründung: „Es gibt nichts, was es nicht gibt“

Nach Überzeugung der Kammer hat indes den Ausschlag für ihre Entscheidung, Catalina R. freizusprechen, das Alibi einer Kollegin gegeben, die im Prozess geschildert hatte, sie habe zur Tatzeit gemeinsam mit der 38-Jährigen in einem Hostel an der Kieler Straße, also mehrere Kilometer vom Tatort entfernt, Zimmer gereinigt. „Diese Angaben waren glaubhaft und ließen sich nahtlos mit weiteren Beweismitteln in Einklang bringen“, betont der Vorsitzende Richter.

Es sei „zwingend geboten“ gewesen, die Zeugin zu hören und deren Aussage genau zu prüfen sowie insgesamt in der Beweisaufnahme „Zweifel, Unsicherheiten und Unklarheiten zu klären. Es lehrt die Berufserfahrung: Es gibt nichts, was es nicht gibt.“ Nichts diene der Aufklärung von Sachverhalten mehr als eine Hauptverhandlung, sagt Steinmann. „Die Aktenlage ist das eine, die Beweisaufnahme das andere.“

Nach der Urteilsverkündung schildern die Verteidigerinnen von Catalina R., Fenna Busmann und Katrin Hawickhorst, wie ihrer Mandantin, Mutter zweier weiterer Kinder, die nicht in Deutschland leben, insbesondere die Zeit im Untersuchungsgefängnis zugesetzt habe. „Unsere Mandantin ist ein optimistischer Mensch“, sagt Hawickhorst. „Wenn sie das nicht wäre, hätte sie die Monate, die hinter ihr liegen, nicht überstanden.“

Prozess Hamburg: Ihren Sohn gehen lassen zu müssen, „brach ihr das Herz“

Drei Monate lang habe die 38-Jährige ihren kleinen Sohn überhaupt nicht sehen dürfen, danach erstmals für kurze Zeit. „Es brach ihr das Herz, als sie ihn nach dem Besuch wieder gehen lassen musste.“

Je länger Catalina R. in Haft gesessen habe, desto mehr habe sie die Hoffnung verloren. „Sie verstand nicht, wie ihr ein derartiges Schicksal ausgerechnet in Deutschland widerfahren konnte.“ Der Tag ihrer Entlassung aus der Haft habe der 38-Jährigen allerdings ihre Zuversicht zurückgegeben. „Er war – nach den Geburten ihrer Kinder – der glücklichste Tag in ihrem Leben.“