Hamburg. Wie der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel dabei half, dass ein unschuldig Verurteilter nach 14 Jahren freigesprochen wird.
Immer wieder hat er seine Unschuld beteuert. Er hat gehofft, dass man ihm glauben möge. „Ich bin kein Mörder“, sagte Manfred Genditzki. Es hat ihm nichts genützt. Der Mann wurde zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, weil er eine 87-Jährige getötet haben soll. Weit mehr als 13 Jahre saß er im Gefängnis. Jetzt endlich wurde der heute 62-Jährige freigesprochen – wegen erwiesener Unschuld.
Der Mann, der kein Mörder war, aber 4912 Tage im Knast saß: Dieser Fall aus Bayern hat die Gemüter erregt, die Justiz über drei Prozesse und viele Jahre lang beschäftigt – und einen redlichen Mann kostbare Zeit seines Lebens gekostet. „Einen Grund zum Jubeln habe ich nicht“, sagte Manfred Genditzki nach seinem Freispruch. „14 Jahre sind weg.“
Crime-Podcast: Hamburger Rechtsmediziner über „Badewannenmord“
Den spektakulären Fall, der in den Medien auch als „Badewannenmord“ bezeichnet wurde, haben sich Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher und Rechtsmediziner Klaus Püschel für ein besonderes Jubiläum im Abendblatt-Crime-Podcast ausgesucht: Es ist die 100. Folge von „Dem Tod auf der Spur“, und über die Jahre haben mehr als 4,6 Millionen Hörerinnen und Hörer beim Podcast zugeschaltet.
„Der wichtigste Augenblick in diesem besonderen Fall ist doch wahrscheinlich der 12. August 2022“, meint Mittelacher. „An diesem Tag öffnen sich für Manfred Genditzki die Türen des Gefängnisses, allerdings nur vorläufig, weil es neue Erkenntnisse und damit Zweifel an seiner Schuld gibt. Nach 4912 Tagen kann er ,raus‘ aus der Haft. Endlich hingehen, wo er möchte. Seine Liebsten umarmen, tief durchatmen, Freiheit riechen.“
Prozess: Wurde eine 87-Jährige niedergeschlagen und ertränkt?
Darum geht es in dem Fall: Am 28. Oktober 2008 wird die 87 Jahre alte Lieselotte Kortüm tot in ihrer Badewanne vorgefunden. Nachdem ein bayerischer Rechtsmediziner zunächst von einem natürlichen Tod ausgeht, ändert er später seine Meinung. Nach einer Besichtigung der Örtlichkeiten geht der Rechtsmediziner nunmehr davon aus, dass zwei Hämatome am Kopf der Seniorin nur durch Schläge entstanden sein können.
Er kommt zu dem Schluss, dass die Frau niedergeschlagen, in die Badewanne verbracht und dort ertränkt wurde. Nun gerät Manfred Genditzki als Verdächtiger in den Fokus der Ermittlungen. Der damals 48-Jährige ist ein langjähriger Bekannter der Frau und Hausmeister in der Wohnanlage, in der Lieselotte Kortüm gewohnt hat. Es wird ermittelt, dass er der Letzte war, der die Frau lebend gesehen hat.
Urteil: Manfred Genditzki bekommt lebenslange Haft wegen Mordes
Dass er einen Einkaufsbon vorweisen kann, der belegt, dass er zur mutmaßlichen Tatzeit nicht in der Wohnung der Frau, sondern in einem Geschäft war, kann die Ermittler nicht überzeugen. Auch dass es im Badezimmer keinerlei DNA von ihm gibt, irritiert die Polizei nicht. Manfred Genditzki kommt in Untersuchungshaft, wird schließlich vor Gericht gestellt. Ihm wird mit der Anklage vorgeworfen, er habe die Rentnerin bewusstlos geschlagen und anschließend ertränkt.
Der Mord, der keiner war. 13 Jahre unschuldig in Haft
So hat es später auch das Gericht gewertet und den Hausmeister am 10. Mai 2010 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Nachdem Manfred Genditzki gegen das Urteil in Revision gegangen ist, kommt es zu einem neuen Prozess – mit demselben Ergebnis: lebenslange Freiheitsstrafe.
Das Urteil wird im September 2012 rechtskräftig. Genditzki sitzt nun in Strafhaft – bis er im August 2022 vorläufig freikommt. Über den Fall hat auch die ARD in der ausführlichen Dokumentation „Crime Time: Tod in der Badewanne“ berichtet.
Hamburger Rechtsmediziner Püschel hat das Verfahren mehrere Jahre begleitet
Rechtsmediziner Püschel hat das Verfahren gegen den Verurteilten seit mehreren Jahren begleitet und Manfred Genditzki recht gut kennengelernt. „Ich war immer wieder beeindruckt, wie aufrecht und gradlinig der Mann trotz der vielen Jahre hinter Gitter war“, sagt der Rechtsmediziner. „Und es ist so typisch für ihn, dass er nach der Entlassung aus der Haft nach so langer Zeit immer noch pragmatisch geblieben ist. Kein Drama, keine Tränen.“
„Dabei hätte er allen Grund zum Weinen gehabt“, findet Mittelacher. „Vor Freude, weil er endlich in Freiheit kam. Oder vor Kummer über die verlorenen Jahre. Dazu hat er gesagt: ,Ich kriege keine Minute zurück‘.“ Denn Manfred Genditzki hat zwei seiner Kinder nicht aufwachsen sehen können. Er konnte nicht zur Beerdigung seiner Mutter. Er hat die Geburt seines Enkelkindes verpasst.
„Es ist wirklich ein Drama“, meint Püschel. „In dem Fall wurde sehr viel falsch bewertet. Nach meiner Überzeugung hätte Manfred Genditzki überhaupt nicht in Haft kommen dürfen – keinen einzigen Tag.“
Hamburger Rechtsmediziner erarbeitet neues Gutachten
Deshalb hat sich der Rechtsmediziner in dem Fall seit Jahren engagiert. „Im Jahr 2017 hat sich die Verteidigerin von Manfred Genditzki, Rechtsanwältin Regina Rick, an mich gewandt“, erzählt Püschel. „Daraufhin bin ich tief in den Fall eingestiegen, habe alle Akten gelesen, speziell natürlich die rechtsmedizinischen Befunde. Zusammen mit Frau Rick habe ich eine Strategie für ein Wiederaufnahmeverfahren entwickelt.“
„Dann warst du also so etwas wie ein Regisseur?“, fragt Mittelacher. „Du hast Experten zusammengebracht, die Verteidigung beraten?“
„Zunächst habe ich ein ausführliches Gutachten erarbeitet, welches aufzeigte, dass Frau Kortüm nach einem Schwächeanfall in die Badewanne fiel und ertrank – zu einem Zeitpunkt, als Herr Genditzki schon lange nicht mehr in der Wohnung war“, berichtet Püschel.
Prozess um angeblichen Mord: Computersimulation bringt neue Erkenntnisse
Doch für eine Wiederaufnahme reicht es keineswegs aus, dass ein neues rechtsmedizinisches Gutachten erstattet und damit eine andere Auffassung vertreten wird. Es müssen völlig neue Tatsachen präsentiert werden. Es geht um Erkenntnisse, die mit neuen wissenschaftlichen Methoden gewonnen wurden – und so rechtfertigen können, dass die Überzeugung, die dem früheren Urteil zugrunde lag, erschüttert wird.
Also habe er überlegt, erläutert Püschel, „welche neuen Methoden entwickelt wurden, die für Todeszeitrekonstruktion und Sturz in die Badewanne neue Erkenntnisse bringen.“ Püschel und die Verteidigerin werden fündig.
„Es gab ein ganz neues Verfahren der Computersimulation. Diese zeigt, wie ein Mensch, der die Größe und das Gewicht von Lieselotte Kortüm hat, nach einem Schwächeanfall in die Badewanne rutschen würde – und genau in der Position zu liegen kommt, in der die Seniorin gefunden wurde.“
Für die neu ermittelte Todeszeit hatte der Angeklagte ein Alibi
„Und dann gab es doch außerdem ein sogenanntes thermodynamisches Gutachten“, berichtet Mittelacher, „das die damalige Wassertemperatur in der Badewanne betraf …“ „Die Wassertemperatur war von der Polizei ursprünglich gar nicht registriert worden“, erläutert Püschel. „Die Temperatur war aber entscheidend für die Rekonstruktion des Todeszeitpunkts von Frau Kortüm.
Und die nun neu ermittelte Temperatur ergab, dass die 87-Jährige nicht etwa, wie von der Staatsanwaltschaft angenommen, sechs, sondern maximal vier bis fünf Stunden im warmen Wasser lag. Und für diese neue Todeszeit hatte Manfred Genditzki ein sicheres Alibi. „Das sind ja wirklich beste Argumente für die Unschuld des Mannes“, findet die Gerichtsreporterin. „Wenn man bedenkt, dass er da ja schon etliche Jahre im Gefängnis verbracht hat!“
Unschuldig Verurteilter: Die ersten Jahre hatte er Wut, dann nicht mehr
Die neuen Erkenntnisse haben dazu geführt, dass es im September 2021 zu einem Wiederaufnahmeverfahren kommt. Das bedeutet, dass nun ein anderes Münchner Gericht angewiesen wurde, die neuen Beweismittel zu überprüfen. Und dann wurde Genditzki schließlich am 12. August 2022 aus der Haft entlassen, weil das Gericht keinen dringenden Tatverdacht mehr sah.
„Ich habe mich zwei Monate nach seiner Freilassung ausführlich mit Manfred Genditzki unterhalten“, erzählt Klaus Püschel. „Über die Zeit in der Haft hat er erzählt: ,Die ersten drei, vier, fünf Jahre hatte ich Wut. Das hat sich alles gelegt. Jetzt ist da keine Wut mehr‘.“ Er habe natürlich sehr viel an seine Familie gedacht und sie vermisst.
„Badewannenmord“ endet mit Freispruch wegen „erwiesener Unschuld“
Schließlich beginnt am 26. April 2023 der dritte Mordprozess gegen den mittlerweile 62-Jährigen. Zweieinhalb Monate später endet das Verfahren mit einem Freispruch, und zwar wegen „erwiesener Unschuld“, wie die Vorsitzende Richterin ausdrücklich betont.
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„Wir sind der Überzeugung: Frau Kortüm kam durch ein Unfallgeschehen ums Leben. Das ist nach der jetzigen Rekonstruktion nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich.“
Die Vorsitzende Richterin hat die Ermittlungs- und Justizbehörden scharf kritisiert. Sie spricht von einer „Kumulation von Fehlleistungen“, die dazu geführt hätten, dass Genditzki zweimal verurteilt wurde für ein Verbrechen, das es nach heutiger Auffassung des Gerichts nie gegeben hat. Für die jetzt feststellte Tatzeit habe Manfred Genditzki ein sicheres Alibi.
Zu Unrecht in Haft: Manfred Genditzki erhält 348.000 Euro Entschädigung
„Es tut uns wirklich aufrichtig leid“, sagte sie zu dem 62-Jährigen, „dass Sie mitten aus Ihrem normalen Leben gerissen wurden.“ Die Staatskasse müsse ihn für die zu Unrecht erlittene Haft entschädigen. Das wären 75 Euro für jeden der 4912 Tage, die er hinter Gitter saß, also insgesamt 368.400 Euro.
Im Zuschauerraum flossen Tränen. „Manfred Genditzki zeigte sich selber nach dem Freispruch erleichtert, aber auch ernüchtert“, erinnert sich Mittelacher. 14 Jahre unschuldig verurteilt. „Es ist wirklich ein Drama.“
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