Itzehoe/Brokstedt. Krankenpfleger und Beamter schildern entsetzliche Szenen aus dem Zug. Und welchen Eindruck sie von Ibrahim A. hatten.

Den Beruf hat er ergriffen, um anderen Menschen zu helfen, für sie da zu sein, wenn es ihnen schlecht geht. Dass das längst nicht immer klappt, hat Mohammad R. auf besonders brutale Weise erfahren.

R. ist Krankenpfleger – und einer der Fahrgäste aus der Regionalbahn RE70 von Kiel nach Hamburg, in der im Januar bei Brokstedt zwei junge Menschen getötet und vier weitere Fahrgäste schwer verletzt wurden.

Er versuchte zu helfen, Menschenleben zu retten, erzählt der junge Mann am Dienstag vor Gericht. Nur dass für Danny (19) jede Hilfe zu spät kam, als der Krankenpfleger, begleitet von einem Polizisten, im Zug nach weiteren Opfern suchte. Das war am 25. Januar.

Messerattacke von Brokstedt: Der Tag, der viele Leben veränderte

Bis heute bekommt R. die schrecklichen Bilder des toten Jungen, bei dem Gerichtsmediziner zwölf Stiche und Schnitte festgestellt hatten, nicht mehr aus dem Kopf. Oder die Bilder der schwer verletzten Fahrgäste – und das des ebenfalls verletzten Angeklagten. Auch um den hatte sich Mohammad R., der Krankenpfleger, auf dem Bahnsteig gekümmert und ihn medizinisch versorgt.

„Seit dem Tag geht es mir schlecht, wenn ich daran denke. Vor dem 25. Januar war ich ein glücklicher Mensch“, erzählt der Fahrgast von dem Tag, der sein Leben veränderte.

Wie hatte sich Mohammad R. auf diesen Tag in Hamburg gefreut. Das Geld hatte er zusammen, um sich endlich ein neues Instrument kaufen zu können. Er liebe Flamenco und klassische Musik, erzählt der Hobbymusiker aus Neumünster am Dienstag vor Gericht in Itzehoe.

Zeuge von Brokstedt war mit der Bahn auf dem Weg nach Hamburg

Hier wird am Landgericht über die „Messerattacke von Brokstedt“ verhandelt, die bundesweit Entsetzen und Fassungslosigkeit ausgelöst hatte. Angeklagt ist der 34 Jahre alte Ibrahim A., ein nach eigenen Angaben staatenloser Palästinenser. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord aus niedrigen Beweggründen und in Heimtücke an der 17-jährigen Ann-Marie und ihrem Freund Danny sowie vierfachen versuchten Mord vor. Eines der verletzten Opfer nahm sich erst vor Kurzem das Leben, andere dürften ein Leben lang gezeichnet sein von den Messerangriffen.

Statt beim Musikinstrumentenverkäufer in Hamburg endet die Zugfahrt für Mohammad R. an diesem nasskalten 25. Januar in Brokstedt. Es fällt ihm vor Gericht sichtlich schwer, über diese traumatischen Erlebnisse zu sprechen. „Jedes Mal, wenn ich an den Tag denke, geht es mir schlecht“, sagt Mohammad R. Aber anders als Zeugen vor ihm schafft es Mohammad R., den links von ihm sitzenden Angeklagten ins Gesicht zu blicken.

Ein Opfer von Brokstedt wollte sich nicht helfen lassen

Bis zum Stopp in Brokstedt bekommt der junge Krankenpfleger nicht mit, was um ihn herum passiert. Kopfhörer auf den Ohren und Noten in der Hand, vertieft er sich in seine Musik. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Durch die Fensterscheibe sieht er eine Frau auf dem Bahnsteig, das Gesicht blutüberströmt, erzählt R. stockend im Prozess. „Ich habe doch die Verpflichtung zu helfen“, sagt Mohammad R. Nur, dass die im Gesicht stark blutende Frau mit den grauen Haaren nicht wollte, dass er sich um sie kümmerte und ihr half.

Er, mit seinen schwarzen Haaren, einer, der „nicht aussieht wie ein Deutscher“, sagt der Krankenpfleger über sich. Was er vor Gericht nicht sagt: der aus Sicht eines schwer verletzten und stark traumatisierten Opfers ein wenig aussehen könnte wie der Täter.

Stattdessen wendet sich Mohammad R. den verbliebenen Fahrgästen zu, animiert sie laut eigener Aussage, den Zug zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen; bittet Menschen in der Nähe, sich um die verletzte Frau zu kümmern; versorgt einen ebenfalls im Gesicht stark blutenden jungen Mann. Und dann trifft er auf Ibrahim A., ohne sich wirklich sicher zu sein, dass der Mann, der da auf dem Bahnsteig kauert, auch der Täter aus dem Zug ist.

Zeuge über Angeklagten: „Ständig fragte er nach Zigaretten“

Gemeinsam mit einem Polizisten kümmert sich Mohammad R. auch um den „macht- und kraftlosen Mann“, der mit dem Rücken zum Zug hockt. Der Krankenpfleger verbindet A. die offensichtlich mit Messerschnitten verletzten Hände. Ob sich der Angreifer selbst verletzte, als er wahllos auf die Menschen einstach, oder ob er sich die Verletzungen bei den Abwehrversuchen seiner Opfer zuzog, ist unklar.

Mohammad R. beschreibt Ibrahim A., wie er da auf dem Bahnsteig saß, als „zusammengebrochenen“ Mann, der keine Schmerzen zu empfinden schien. Einen Mann mit einem Gesicht „weiß wie die Wand“, und das, obwohl er eine „Hautfarbe hat wie ich, nur etwas dunkler.“ Das Einzige, was A. wirklich interessiert habe, sei zu rauchen. „Ständig fragte er nach Zigaretten.“ Irgendwann erfüllte irgendjemand Ibrahim A. dann diesen Wunsch.

Brokstedt: Der Angreifer guckte, als sondiere er die Lage

Einen Wagen von Mohammad R. entfernt saß an jenem Mittag Sven A. Als hätten sich die Bilder ins Gedächtnis gebrannt, erzählt der Beamte vor dem Gericht detailreich von dieser „ganz normalen und langweiligen Zugfahrt“. Langweilig und normal, bis RE70 in den Bahnhof von Brokstedt einfuhr. Doch dann hörte er, so der 55-Jährige, einen nicht enden wollenden Schrei einer Frau, der mehr klang wie der „Schrei eines Tieres mit furchtbaren Schmerzen“. Und er sah eine junge Frau, die auf dem Boden liegend versuchte, einen Messerangriff abzuwehren.

Andere Fahrgäste warnend, floh A. instinktiv, wie er sagt, auf den Bahnsteig. Hierher hatten sich etliche Fahrgäste in Sicherheit gebracht. Von „Blutpfützen“ auf dem Boden berichtet der Zeuge – und wie er plötzlich den Täter sah. „Der stand auf dem Bahnsteig, guckte in unsere Richtung, als sondiere er die Lage.“ „Unaufgeregt“ und „gelassen“ sei der Angreifer später in der Menschenmenge aus seinem Blickfeld verschwunden, sagt Sven A. Und plötzlich habe er ihn wieder gesehen: mit T-Shirt und Hose nur leicht bekleidet, auf dem Boden hockend, leicht vornübergebeugt und eine Zigarette rauchend“.

Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.