Hamburg. Streit um Gebäude aus der Gründerzeit beschäftigt ganzes Viertel. Jetzt Gerichtstermin. Was die Stadt mit der Fläche vorhat.

Wer am Reiherstieg-Hauptdeich vorbeifährt, kennt das auffällige Haus: Gleich an der Ecke der viel befahrenen Straße in Wilhelmsburg steht das gelb-weiße Gebäude aus der Gründerzeit – auch eine bunte Fassadenmalerei macht die Immobilie zum Hingucker. Doch die Zukunft des Hauses an der Fährstraße 115 ist bedroht – und es ist ein Streit um seinen Erhalt entbrannt.

Auf der einen Seite steht die Stadt, die den Abriss plant, auf der anderen Seite die Bewohner, die um ihr Zuhause kämpfen. Gemeinsam mit der Nachbarschaft protestieren sie seit Jahren gegen die Absichten der Stadt Hamburg, gegen Pläne, die ihrer Meinung nach jeder Grundlage entbehren.

Hamburg-Wilhelmsburg: Bewohner kämpfen für ihr Hausprojekt

Beim Besuch des Abendblatts vor Ort haben sich einige der Mieter zu einer Führung durch das Haus zusammengefunden. Start ist im gemeinsam genutzten Wohnzimmer mit Bar, Küche und einem offenen Kleiderschrank, aus dem sich jeder an gebrauchten Klamotten bedienen kann. Die Philosophie des Teilens zieht sich durch die gesamte, seit 2007 als linkes Hausprojekt genutzte Fährstraße 115.

Der Sport- und Bewegungsraum im Haus in Hamburg-Wilhelmsburg.
Der Sport- und Bewegungsraum im Haus in Hamburg-Wilhelmsburg. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Im Dachgeschoss flutet das Licht in einen Sportraum, in dem Yogamatten ausgebreitet sind und Kurse für jeden Interessierten angeboten werden – auch Leute von außerhalb.

Matratzen liegen nebenan in einer Ecke: Für Musiker, die hier vorübergehend übernachten wollen. Im Gegenzug könne sich die Nachbarschaft über Wohnzimmerkonzerte freuen, sagt Mieter Steffen Reichel.

Der Student der Medientechnik, ein junger Mann in T-Shirt und dunkler Hose, genießt den Zusammenhalt hier besonders: „Ich finde es total schön, das ganze Haus nutzen zu können, ich gehe in den Garten oder in die Küche, und dann ist dort jemand“.

Fährstraße 115: Bewohner schätzen den Zusammenhalt

Die einzelnen Räume sind mit selbst gezimmerten Möbeln, aber auch mit Hinterlassenschaften ehemaliger Bewohner möbliert: Hier ein altes Sofa von der Oma, dort ein Ohrensessel – der Stilmix vermittelt ein Flair wie auf dem Flohmarkt. „Wir haben auch vieles selbst gemacht bei der Sanierung und im Garten, das gibt uns das Gefühl, das ist unser Haus“, sagt Steffen Reichel.

Hier haben die Nachbarn schon so manche Party gefeiert: der Gemeinschaftsgarten in der Fährstraße 115 in Hamburg-Wilhelmsburg.
Hier haben die Nachbarn schon so manche Party gefeiert: der Gemeinschaftsgarten in der Fährstraße 115 in Hamburg-Wilhelmsburg. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Und dieses Gefühl wollten die Mieter, die zum Teil schon mehr als zehn Jahre hier wohnen, auch in die Realität umsetzen: Im Februar 2020 standen sie kurz davor, den Kaufvertrag für die Immobilie zu unterschreiben.

Fährstraße 115 sollte Hausprojekt im Mietshäuser Syndikat (MHS) werden

Ihr Ziel: Die Fährstraße 115 sollte ein neues Hausprojekt im Mietshäuser Syndikat (MHS) werden. Dieser bundesweite Zusammenschluss aus über 180 Wohn- und Werkstattprojekten kollektiviert das jeweilige MHS-Gebäude, das dadurch vor Immobilienspekulation geschützt ist, sagt Norika Rehfeld, die wie die anderen Bewohner derzeit von einer günstigen Kaltmiete von unter acht Euro pro Quadratmeter profitiert, aber durch den Erwerb ebenfalls den Traum vom Eigenheim realisieren wollte.

Doch wenige Wochen später platzte der Traum: Überraschend teilte den Bewohnern Anfang März 2020 der Hamburger Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG) mit, dass das Gebäude mithilfe des städtischen Vorkaufsrechtes von der Stadt erworben – und in den kommenden Jahren abgerissen werden solle.

Hamburg-Wilhemsburg: Kauf des Hauses ist seit dem Jahr 2020 bedroht

Der Kauf des Hauses ist seither gestoppt, aber immer wieder Thema bei Sitzungen verschiedener Gremien und in der Politik. Auch die Nachbarschaft protestiert gegen einen Abriss. Im Info-Café wenige 100 Meter die Fährstraße hinauf hängen entsprechende Plakate.

Der Eingang zum Garten des Hauses in der Fährstraße 115 in Hamburg-Wilhelmsburg: Hier hängen Forderungen der Nachbarn.
Der Eingang zum Garten des Hauses in der Fährstraße 115 in Hamburg-Wilhelmsburg: Hier hängen Forderungen der Nachbarn. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Der Eingang zum Garten ist ebenfalls mit Aushängen zugepflastert: „Das Wohnprojekt muss bleiben“, heißt es da, ein Engagement, das Bewohner wie Norika Rehfeld freut, eine der direkt Betroffenen, die sich wie die anderen Mieter neben ihrer Arbeit, etwa als Sozialpädagogin, Doktorand oder Ingenieur, seit Jahren mit dem Projekt Fährstraße 115 beschäftigen.

Klage gegen das Vorkaufsrecht der Stadt Hamburg eingereicht

Schon im August 2020 reichten sie Klage ein, gegen das Vorkaufsrecht der Stadt. Zuvor hatten die Bewohner gegen den Ausübungsbescheid der LIG einen Widerspruch eingelegt. Doch dieser Widerspruch wurde abgelehnt. „Daher haben wir geklagt“, sagt Norika Rehfeld, „und unser Vermieter Herr Grevenkamp hat ebenfalls Klage gegen die Stadt eingereicht.“

Bisher hat sich am Status quo nichts geändert, der Vermieter ist nach wie vor Konrad Grevenkamp, der mit seiner „Impuls 21 Projektgesellschaft“ bekannt dafür ist, sich nach den Wünschen der Mieter zu richten und eine Schwäche für alternative Wohnformen zu haben. Darüber hinaus hatte auch der Denkmalverein den Erhalt des Gebäudes gefordert.

Abriss ohne konkrete Pläne für den Deichbau?

Norika Rehfeld versteht insbesondere nicht, dass die Stadt das 1905 gebaute Haus kaufen will, obgleich die weiteren Schritte nach Ansicht der Mieter noch gar nicht geplant sind.

Kurios: Der Abriss war im ersten Bescheid des LIG schon für 2023 angekündigt worden. Auf Abendblatt-Anfrage äußerte sich jetzt die zuständige Umweltbehörde (BUKEA): Die Stadt benötige die Fläche der Fährstraße 115 zur „ordnungsgemäßen Herstellung des bestehenden Deiches“, heißt es.

„Darüber hinaus laufen derzeit Planungen für eine Anpassung (Erhöhung) des Reiherstieg-Hauptdeiches an den aktuellen Bemessungswasserstand“, sagt Sprecher David Kappenberg. Dadurch entstünde ein weiterer Bedarf an Flächen.

Behörde: Abwägung zwischen Wohnraum- und Hochwasserschutz

Was die Fährstraße 115 angeht, „habe eine Abwägung zwischen den Belangen des Wohnraumschutzes und des Hochwasserschutzes im Rahmen des Ankaufs stattgefunden“, kontert die BUKEA die Vorwürfe der Mieter, wobei sie ankündigt, in Zukunft noch größeres Augenmerk auf den Erhalt der Bauten zu legen: Die Stadt untersuche, „ob es Optionen gebe, den Hochwasserschutz zukünftig ohne Inanspruchnahme des Wohnraums zu gewährleisten“, so die Behörde.

Denn schließlich gehört Wilhelmsburg zu den wachsenden Regionen der Stadt: Auch nach der Internationalen Bauausstellung (IBA) vor zehn Jahren werden weiterhin diverse Neubauten geplant. Wilhelmsburg ist damit nach wie vor ein Stadtteil, der vor etlichen Großbaustellen steht.

Viele Baumaßmaßnahmen in Hamburg-Wilhelmsburg geplant

Und das auf einer Elbinsel: Die Umweltaktivisten von Extinction Rebellion warnen bereits davor, dass bei einer Erderwärmung von vier Grad ganz Wilhelmsburg untergehen werde – ein entsprechendes Plakat an einer Hochwassermarke in der Nachbarschaft macht das deutlich.

Geplante Baustellen in Hamburg-Wilhelmsburg.
Geplante Baustellen in Hamburg-Wilhelmsburg. © HA Infografik | Frank Hasse

Die Bewohner wollen sich nicht grundsätzlich gegen diese Sorgen sperren. „Wir sind ja nicht gegen den Deichbau, wollen das nicht untergraben, aber die Pläne sollten mit sozialen Komponenten zusammengedacht werden“, sagt Mieter Steffen Reichel.

Schutz vor den Fluten auch durch Spundwände möglich?

Andere Stadtteile nördlich der Elbe machten vor, wie die Abschirmung gelingen könnte, ohne Häuser zu zerstören, sagt Norika Rehfeld. Die 39-Jährige nennt als Beispiel die Hochwasserschutzanlage zwischen der Elbphilharmonie und den Landungsbrücken: „Das ist eine Promenade, in die ein Café und ein Parkhaus integriert sind“. Aber natürlich gebe es auch günstigere Alternativen wie etwa Spundwände.

Der Kampf um den Erhalt des Hauses belastet die Wohngemeinschaft nun seit Jahren – auch finanziell. „Wir hatten bereits 200.000 Euro als Eigenkapital gesammelt“, sagt Norika Rehfeld zu dem geplanten Kauf, für den sie auch schon die Grunderwerbssteuer von 35.000 Euro bezahlt haben.

Wilhelmsburger fordern von der Stadt Alternativen zum Wohnen

Außerdem wünschten sich die Mieter seit dem Erhalt des Briefes im März 2020 von der Stadt einen Plan B, um weiterhin gemeinsam leben zu können. Als Alternative war von einem Grundstück um die Ecke die Rede. „Aber dort hätten wir neu bauen müssen. Das wäre finanziell nicht zu stemmen“, sagt die Mieterin.

Zwar haben alle Bewohner ein geregeltes Einkommen, doch sei eben auch alles teurer geworden: die Kredite, die Materialien, Handwerker.

Hamburg-Wilhelmsburg: Entscheidung fällt vor Verwaltungsgericht

Eine wichtige Entscheidung in der Sache fällt, nach Jahren des Kämpfens für die Wilhelmsburger, in dieser Woche: Am Mittwoch, dem 19. Juli, steht um 10 Uhr die Klage der Bewohner am Verwaltungsgericht auf der Tagesordnung. Verhandelt wird dort zunächst „nur“, ob die Stadt ein Vorkaufsrecht ausüben darf oder nicht.