“Man fühlt sich wie in einem Cabaret totaler Dämlichkeit.“ Alan Gilbert und Doug Fitch über ihre Ligeti-Oper in der Elbphilharmonie.

Als Alan Gilbert noch Chef der New Yorker Philharmoniker war, hatte er eine sehr spezielle Requisite aus „Le Grand Macabre“ in seinem Büro: ein großes Herz, das gewisse Ähnlichkeiten mit einem gewissen männlichen Körperteil aufwies. Fast zehn Jahre nach dem spektakulären Auftakt seiner Amtszeit dort steht Ligetis einzige Oper wieder in seinem Terminkalender: Als aufwendigster Programmpunkt im diesjährigen Hamburger Musikfest wird das Stück nach mehr als vier Jahrzehnten wieder in Hamburg aufgeführt, diesmal aber im Großen Saal der Elbphilharmonie.

Die Herausforderungen sind immens, musikalisch wie szenisch. 2010 hatte Gilbert die Endzeit-Satire mit dem Künstler und Bühnenbildner Doug Fitch realisiert. Gilbert und Fitch sind alte Freunde, sie haben diverse Opern erarbeitet, Fitch hat sogar die Inneneinrichtung für das damalige New Yorker Appartement von Gilbert entworfen. Zwischen zwei Proben berichteten sie im Liebermann-Studio, wie und warum sie sich diesen Stress mit Ligeti antun.

Hamburger Abendblatt: Wer hatte die irre Idee, diese aufwendige Inszenierung, die für einen eckigen Saal wie die Laeiszhalle maßgeschneidert wurde, in einen runden Saal wie den der Elbphilharmonie zu klemmen?

Alan Gilbert: Ich schätze, dafür bin ich verantwortlich – oder derjenige, der die ‚Schuld‘ hat. Vor einigen Jahren haben wir beide Wagners „Rheingold“ in Stockholm gemacht, ein großes, aufwendiges Projekt – wir haben die Saalorgel beleuchtet, damit sie wie Walhalla aussieht, Erda haben wir mitten im Publikum platziert. Wir wollten symphonische Oper in einem Raum realisieren, der dafür nicht gedacht ist und der dadurch verändert wird, was Doug dort mit ihr anstellt. Die Elbphilharmonie an sich ist bereits sehr ikonisch. Doch eine meiner Vorlieben ist es, verschiedene Kunstformen zusammenzubringen. Das hat ein bisschen etwas von dem, was Wagner „Gesamtkunstwerk“ nannte.

Im Video: Vorbereitung auf eine schräge Oper

Was war Ihr erster Gedanke, als sie den Hamburger Saal zum ersten Mal sahen? Verdammt, wieso habe ich DAS zugesagt?

Doug Fitch: Nein, gar nicht. Schon als wir 2010 das Stück in New York realisierten, hatten wir sehr schnell auch die Idee, es auch hier in Hamburg umzusetzen. Aber das Gebäude war damals noch nicht fertig.

Wo platzieren Sie was im Großen Saal? Es soll Video-Leinwände geben und Puppen, die gefilmt werden.

Fitch: Damit jeder etwas sehen kann, haben wir zwei Leinwände, die wir wie eine Haut über die Ränge spannen und auch schnell entfernen können. Dann gibt es noch eine Miniaturtheaterwelt, die wir filmen und dorthin projizieren.

Gilbert: Das Erlebnis wird sehr intensiv sein. Das Publikum ist mitten im Geschehen, Musiker sind auf verschiedenen Positionen platziert, der Chor läuft herum, Sänger kommen und gehen... Es gibt verschiedene Erfahrungsschichten. Manchmal geht es um eine Bühne, dann um eine Requisite, dann um eine Idee oder eine Metapher. Einige Videos sind vorproduziert, andere zeigen, was live passiert ...

Als Sie Ihren „Grand Macabre“ 2010 in New York präsentierten, gab es zunächst große Skepsis. Am Ende waren die drei Vorstellungen komplett ausverkauft, die „New York Times“ jubilierte „Meisterwerk!“, die Performance wurde zur „Oper des Jahres“ gewählt. Wie befriedigend war das?

Gilbert: Es war nicht nur befriedigend, es war für mich auch sehr wichtig. Einige der Beteiligten hatten damals nicht gewusst, worauf sie sich einließen ...

Und Sie haben es auch lieber nicht erklärt?

Gilbert: Doch, schon. Ich sagte ihnen, wir spielen Ligetis „Grand Macabre“ und sie antworteten: „Okay.“ Danach begannen sie zu erkennen, was das bedeutet. Und es brachte jeden an seine Grenzen.

Dieser extradicke Opern-Brocken ist eine Art Voreröffnung Ihrer im Herbst beginnenden Amtszeit als NDR-Chefdirigent. Eine Nummer kleiner hätten Sie es dafür nicht gehabt? Hätte es nicht auch eine nette „Traviata“ oder eine harmlose „Bohème“ getan?

Gilbert: Nein, gar nicht. Mir gefällt, dass Ligeti starke Verbindungen zu Hamburg hatte. Für mich ist der „Macabre“ eine der bedeutendsten Opern des 20. Jahrhunderts. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass vieles von dem, was damals noch fantastisch und surreal war, sich heute erschreckend real anfühlt. Manches war ja als komplett überdrehte Parodie gemeint. Und jetzt finden wir uns sehr nahe an dem, womit sich diese Oper beschäftigt, jetzt, in unserer postfaktischen Zeit – dafür muss ich nicht die Auswirkungen auf der anderen Seite des Atlantiks oder hier erwähnen... Der Blödsinn, den die beiden Minister in der Oper von sich geben, könnte auch aus einer Politiker-Rede sein, die sie heutzutage im Fernsehen bringen. Diese Oper passt also extrem gut in unsere Gegenwart.

Fitch: Ein Stück wie dieses ist perfekt für einen Ort wie die Elbphilharmonie. Diese Oper wurde geschrieben, um die Regeln zu brechen. Nicht ohne Grund hat Ligeti sie „Anti-Anti-Oper“ genannt. Nekrotzar, die Hauptfigur, ist eine Gestalt, die sich vor unseren Augen erfunden hat. Er kommt als Niemand auf die Bühne und überzeugt alle, dass er die Welt untergehen lässt.

Ligeti: Die Abendblatt-Kritik von 1978

Ist diese Inszenierung ein Remake der New Yorker Produktion?

Gilbert: Sie ist sehr ähnlich, aber dennoch eine neu durchdachte Version.

Obwohl Ligeti immer betonte, dass er Politisierung und Verortung im Konkreten nicht ausstehen könne – wie schwer war es für Sie als New Yorker, der durchgeknallten Hauptfigur nicht eine orangefarbene Perücke aufzusetzen?

Fitch: Es ist sehr einfach, das nicht zu tun. Und es ist auch nicht notwendig. Das Stück ist ja wie ein Märchen, solange die Charaktere umfassend genug sind, können sie alles Mögliche verkörpern. Verengt man das, können sie nur noch eine Person sein.

Gilbert: Ligeti wollte sich ausdrücklich mit den großen Themen beschäftigen, den tiefen menschlichen Wahrheiten, mit Liebe, Tod, Sex, Hunger, Durst. Er wollte aber keine verkopften Deutungen, zu offensichtlich, zu predigend.

Fitch: Das Stück ist so toll komponiert. Man fühlt sich wie in einem Cabaret totaler Dämlichkeit. Auch wenn es immer alberner wird, am Ende hat es seine eigene Wahrheit.

Wenige Monate nach der Uraufführung fand die deutsche Erstaufführung im Herbst 1978 an der Hamburger Oper statt. Im Abendblatt war damals vorab zu lesen: Obwohl viele europäische Radiostationen an der Premiere enormes Interesse und sich über 100 Kritiker angemeldet hätten, sei das Ganze dem NDR wohl komplett egal gewesen. Und Ligeti sei mächtig sauer gewesen. Dann ist diese Produktion also auch eine späte Wiedergutmachung?

Gilbert: (amüsiert) Davon wusste ich nichts. Aber ich freue mich, wenn es auch diese Aufgabe erfüllt.

Bei einem Gespräch mit ihm sagte mir Ligeti 1998, dass die Hamburger Version von allen schlechten vielleicht die schlechteste gewesen wäre.

(Beide lachen)

Fitch: Falls es was bringt: Ligetis Witwe fand damals, dass die New Yorker Version die beste gewesen sei.

In einer Kritik über die Hamburger Premiere stand: „Das Stück dürfte nach ein paar sensationsgeilen Aufführungen bald auf dem Friedhof jener Opernwerke landen, die an ihrem Libretto starben.“ Sie tragen also enorme Verantwortung. Und Christoph von Dohnányi – Ihr Vorvorgänger beim NDR, bei dem Sie in Cleveland Assistent waren – hatte das Stück während seiner Zeit als Opernchef nach Hamburg geholt. Haben Sie sich mit ihm darüber ausgetauscht?

Gilbert: Nein, das wusste ich nicht.

Sie hatten den Kampf-Titel „Anti-Anti-Oper“ schon erwähnt. Irgendeine Ahnung, was das bedeutet?

Fitch: Ja! Ihn haben diese „neuen“ Opern aufgeregt, modernistisch, dekonstruktivistisch. Für ihn lenkten sie vom Geschichtenerzählen ab, ihm waren diese „Anti-Opern“ zu intellektuell. Also ist „Macabre“ eine Oper – aber auch nicht. Es ist nicht keine Oper.

Es dürfte nicht ganz so einfach sein, ein Orchester zum Umgang mit derart komplizierter Musik zu bekommen. Wie lief es in dieser Hinsicht bislang für Sie mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester?

Gilbert: Wir haben gerade erst angefangen, aber ich glaube, dass die Orchestermusiker sehr viel Spaß haben. Obwohl es sehr komplex ist, ist alles spielbar.

In Deutschland gibt es eine Büro-Weisheit, dass neue Chefs ihren Job mit den übelsten Grausamkeiten beginnen müssen.

Gilbert: Das Stück ist eine Herausforderung, es ist nicht unangenehm, und so modern ist es auch nicht. Obwohl: Es kommen Autohupen zum Einsatz, Türklingeln und Papiertüten. Der Klang-Einfallsreichtum ist unglaublich.

Denken Sie über weitere gemeinsame Opern-Projekte nach?

Gilbert: Ich hoffe, dass es nicht bei diesem einen Mal bleibt. Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter findet das Projekt toll, er hat uns enorm unterstützt und ihm gefällt die Vorstellung, den Konzertraum neu zu gestalten.

Sind die vielen musikalischen Späßchen, die sich Ligeti gönnt, inzwischen nicht gestrig und verjährt?

Gilbert: Den Eindruck habe ich nicht. Es gibt ältere Stücke, die zeitlos sind und nach wie vor neu wirken, Strawinskys „Sacre“ beispielsweise, der über 100 Jahre alt ist. „Grand Macabre“ kommt mir frisch vor. Diese Musik hat auch etwas Kindliches, Unschuldiges.

Braucht es derart spektakuläre Inszenierungen als Köder für ein Publikum, das sich ansonsten mit zeitgenössischer Musik zu schwer täte? Optische Ergänzungen zu Konzerten können ja auch danebengehen; besonders cheesy wird es gern, wenn bunte Scheinwerfer angeknipst werden.

Fitch: Alan sucht sich immer Stücke aus, die in ihrem Kern eine symphonische Struktur haben, die sich visualisieren lässt. Heutzutage wird ja gern einfach eine Leinwand über ein Orchester gehängt, da läuft dann „Star Wars“ und darunter wird die Musik gespielt. Der Gedanke, dass das eine Lösung sein soll, bringt mich um.

Gilbert: Ich bin sehr skeptisch, wenn es um optische Elemente geht, die einfach nur zur Musik hinzugefügt werden, um Dinge hochzujazzen. Manche sagen ja: Wir haben eine so bildorientierte Generation, die Musik allein genügt nicht mehr, man muss gleichzeitig auch dem Auge etwas bieten. Was ich bislang gemacht habe, zeigt hoffentlich, dass ich für viele Ideen offen bin – aber was dieses Thema angeht, da bin ich sehr konservativ. Kinkerlitz, einfach so, das interessiert mich wirklich nicht. Weil das auch die gefährliche Botschaft senden könnte, dass die Musik an sich nicht interessant genug wäre.

Wieso, in einem Satz zusammengefasst, sollte ich Ihre Elbphilharmonie-Aufführung von „Le Grand Macabre“ nicht verpassen?

Fitch: Weil Sie es für den Rest Ihres Lebens bereuen würden (lacht).

Gilbert: Weil es eine unglaublich wichtige und sehr unterhaltsame Oper ist, ein allumfassendes Erlebnis, philosophisch, musikalisch, visuell, dramatisch – ein theatralisches Ereignis.