Hamburg. Monika Wergin nimmt für jedes Konzert vier Stunden Fahrzeit in Kauf – und sie weiß, wie man (fast) immer an die begehrten Karten kommt.
Der Rekord kommt fast bescheiden daher. Es wird wohl der Kleine Saal, nicht der große. Es wird wohl „Therese“, eine Kammeroper, es wird wohl im Mai passieren: Nummer 200 – wenn nicht ein neuer Spontankauf die Reihenfolge durcheinanderwirbelt. Monika Wergin lächelt zufrieden. Eine freundliche ältere Dame, alleinstehend, kurzes, graues Haar, fliederfarbene Bluse.
Eine Konzertgängerin wie viele; auf der Plaza der Elbphilharmonie fällt sie an diesem Abend, kurz vor einem Gastspiel der Sächsischen Staatskapelle mit Christian Thielemann am Pult, nicht weiter auf. Sie schaut auf ihre Karte, „Bruckner“, sagt sie, „ist doch schön“, und nickt dem Kartenabreißer zu. Sie bewegt sich routiniert. Sie kennt sich aus. Aber sie ist alles andere als eine Konzertgängerin wie viele.
Fast 200 Konzerte in der Elbphilharmonie gehört
Monika Wergin ist womöglich der größte Fan der Elbphilharmonie. Hunderte von Fotos hat sie von dem Konzerthaus gemacht, aus allen Perspektiven, bei allen Wetterlagen. Fast 200 Konzerte hat sie in gut zwei Jahren gehört. Meistens Klassik, manchmal Weltmusik, selten Jazz, nie Pop – aber alle an derselben Adresse.
200 Konzerte – das ist selbst im Vergleich mit Kollegen, die das beruflich machen, eine stolze Summe. Jeffrey Tate, sechs Tage nach der offiziellen Eröffnung, war der erste, danach riss es nicht mehr ab. Neun Abonnements nennt Monika Wergin mittlerweile ihr eigen: Die Philharmoniker sieht sie regelmäßig, sonntags im Großen Saal und bei den Kammerkonzerten im Kleinen Saal.
Bei ProArte hat sie die Solisten abonniert, Anne-Sophie Mutter, Daniel Hope, vor allem der Schlagwerker Martin Grubinger hat es ihr angetan. Das NDR Elbphilharmonie Orchester hört sie im Großen Saal, „Musik der Welt“ im Kleinen Saal. Außerdem die Hamburg-Musik-Reihe „für Abenteurer“ und ein Orgel-Abo, „weil man in den Kirchen meist bloß die gängigen Sachen zu hören bekommt“.
Wie kommt sie an all die Karten für die Elbphilharmonie?
Dazu kommen unzählige Einzeltickets – und die ProArte-Pianisten sowie eine Reihe mit Alter Musik. In der Laeiszhalle. „Über das Geld darf ich gar nicht nachdenken“, sagt Monika Wergin und winkt ab. Wichtiger sei, dass sich die Termine nicht überschneiden.
Zwei grundsätzliche Fragen stellen sich trotzdem: Warum? Und: Wie macht sie das bloß? Wie kommt eine pensionierte Lehrerin an all die Karten für die, wie doch seit der Eröffnung jeder weiß, immerzu ausverkauften Elbphilharmonie-Konzerte, was ist ihr Trick?
Das Warum ist schnell zu beantworten, mit der simplen Gegenfrage: Warum nicht? In den 1980er-Jahren hat sich Monika Wergin für Liedermacher begeistert. Klassik? Weniger. Durch eine schwere Krankheit aber war sie gezwungen, früher als gedacht in Pension zu gehen. „Und da hab ich mich gefragt: Was machst du mit der ganzen Zeit?“ Sie hat sich Ballettvorstellungen angeschaut, Neumeier, manche Inszenierungen fünf oder sechs Mal.
Wergin hat sich ins Losverfahren der Elbphilharmonie reingefuchst
Ein Schnupper-Abo in der Laeiszhalle kam hinzu, daraus wurde ein ganzes. „So richtig aber fing es eigentlich erst mit der Eröffnung der Elbphilharmonie an.“ Die doch, seit sie da ist, immer ausverkauft ist? „Ach was. Ich lege mich früh fest“, sagt sie und zuckt mit den Schultern, als sei damit alles erklärt. „Viele wollen sich spontan entscheiden. Ich möchte lieber nicht so viel Geld ausgeben und bin darum durchgeplant bis zum Sommer, zum Teil bis ins nächste Jahr. Man muss sich allerdings kümmern. Das tue ich.“
Kümmern, das bedeutet: Viel lesen, alle Newsletter abonnieren, die der Orchester, den der Elbphilharmonie. Jeden Vorverkaufsstart verlässlich erwischen. Das Losverfahren, mit dem das Konzerthaus eine vergleichsweise gerechte Kartenverteilung versucht, nicht nur nutzen, sondern vor allem verstehen: „Ich hab mich da reingefuchst. Für 20 Karten habe ich mich beim letzten Mal beworben, 18 Mal hat es geklappt. Ich sehe das sportlich. Meist zahle ich 30 Euro oder weniger pro Karte.“
Plätze in der Pause wechseln
Im Konzert setzt sie sich mitunter um, in bessere Kategorien, wo Plätze auch mal kurzfristig frei bleiben. „Wandern gehen“, nennt sie das. Nicht während der Musik, versteht sich, „das finde ich unhöflich. Und zu Beginn traue ich mich noch nicht, es wäre ja peinlich, wenn da noch jemand käme. Ich wechsle in der Pause.“
Die Frage nach dem besten Platz beantwortet Monika Wergin so smart wie ein Profi: „Es kommt darauf an.“ Vergnügtes Lächeln. Die Frage wird ihr nicht zum ersten Mal gestellt. Und die Güte der Plätze beurteilt sie ohnehin nicht allein nach der Akustik, sondern auch pragmatisch: Je schneller man wegkommt, desto besser ist der Platz. Ihr Rekord sind achteinhalb Minuten, von Ebene 15 bis zum Bahnsteig am Baumwall.
Vier Stunden Fahrzeit pro Konzert
Monika Wergin lebt in Lüneburg, wo sie viele Jahre an einer Grundschule unterrichtet hat, und sie ist auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Den Fahrplan hat sie längst verinnerlicht, um kurz nach halb Eins geht während der Woche der letzte Zug. „Zum Glück fährt der HVV bis Lüneburg“, sagt sie, „sonst könnte ich mir das gar nicht leisten.“ Knapp zwei Stunden ist sie jedes Mal unterwegs – pro Strecke. Vier Stunden Fahrtzeit pro Konzert. „Darüber denke ich gar nicht nach.“
Abgesehen von der persönlichen Logistik aber sei die Qualität der jeweiligen Plätze von Konzert zu Konzert, von Künstler zu Künstler höchst unterschiedlich, findet Monika Wergin. Sie führt auch darum Buch über die Abende. Ein schlichtes Din-A-5-Heft, „ELPHIE“ steht auf dem gelben Cover, die Seiten der Kladde sind eng beschrieben. „GS“ steht für Großer Saal, „KS“ für den kleinen. Alles hat sie darin notiert, jedes Konzert, ihren Platz, das Programm, die Kosten, die Besonderheiten. „Bei den leisen Stellen rauscht die Klimaanlage“, steht da zum Beispiel, Konzert Nr. 161, „aber keine eiskalten Beine.“
Dem Intendanten schreibt sie Briefe
„Verlust des grauen Schlauchschals“, heißt es an anderer Stelle, ergänzt um die nüchterne Erkenntnis: „wohl weg“. Immerhin: „Ein wunderbares Konzert mit zwei Zugaben!!“ Und das Geld für den Schal, der an der Garderobe verschwand, habe sie erstattet bekommen. Vom Haus.
Dem Intendanten schreibt Monika Wergin manchmal, wenn ihr etwas auffällt. Briefe, keine Emails. Das sei persönlicher „und die können das dann auch besser abheften, wenn sie möchten“. Mit einem Vorurteil übrigens könne sie auch gleich mal aufräumen, erklärt sie resolut: Toiletten nämlich gebe es ausreichend. „Die Leute stehen bloß immer falsch!“ Wie es richtig wäre? „Ich fahre direkt zur Pause auf die Ebene 13 und habe noch nie anstehen müssen.“ Triumphierender Lehrerinnen-Blick. Es klingt ein wenig wie bei den Karten: Man muss sich halt kümmern.
Am meisten für Cecilia Bartoli investiert
Besonders gern geht Monika Wergin zu Künstlern, über die es ambivalente Meinungen gibt. „Eigentlich müsste man jedes Konzert zweimal hören, um es wirklich beurteilen zu können“, findet sie. Am meisten hat sie bislang in eine Karte für Cecilia Bartoli investiert, mehr als 90 Euro. „Sie war es wert. Sie hat eine Zugabe nach der anderen gegeben. Es gibt so Musiker...“ Sie atmet tief ein, rückt das silbern eingefasste Brillengestell zurecht und blättert in der „ELPHIE“-Kladde nach Cecilia Bartoli. „Der Saal ist für die Klassik gemacht, behaupte ich mal“, sagt sie dabei. „Es ist erstaunlich, was für leise Töne man hören kann.“ Zu Hause hat Monika Wergin auch ein Klavier stehen, aber sie spielt es nicht mehr.
Einmal hat Sie dem Harfenisten Xavier de Maistre bei einer Autogrammstunde nach dem Konzert erzählt, dass sie an jenem Abend zum 75. Mal in der Elbphilharmonie war. „Das ist wie Nach-Hause-Kommen“, habe er geantwortet, wissend genickt und gelächelt. „Und das stimmt“, sagt Monika Wergin und lächelt auch.
Niemand will so oft wie sie ins Konzert gehen
Meist geht sie allein in die Konzerte, niemand will so oft wie sie. Sie fährt früh los, damit sie anderthalb Stunden vor Konzertbeginn da ist. Setzt sich auf eine Bank. Isst ein belegtes Brot oder einen Apfel. Foyer-Wein oder Pausensekt gibt es nicht, „zu teuer“. Aber hinterher, zu Hause, da trinkt sie manchmal noch ein Glas. Das gesparte Geld, natürlich, legt sie in Karten an.
Als „eine Art Elbphilharmonie-Junkie“ bezeichnet sie sich selbst und kichert ein bisschen, „ich habe das Elphie-Virus“. Das wirkt auch tagsüber: Sowohl in Hamburg als auch in Lüneburg ist Monika Wergin an der Volkshochschule angemeldet. Zum Goldschmiedekurs. Mal was anderes? Von wegen. „Ich schmiede lauter kleine Elphies!“ Sie baumeln an ihren Ohrringen, hängen an Armkettchen, formen einen Ring oder liegen, wie heute, um den Hals.
Im August wird Monika Wergin 70. Sie wird sich eine Konzertpause gönnen und eine Reise nach Armenien und Georgien machen – weil sie in der Elbphilharmonie so viele Künstler aus diesem Kulturkreis gehört hat. Monika Wergin deutet auf den massiven Silber-Anhänger am schwarzen Lederband. Die Elbphilharmonie-Wellen, kopfüber, selbstgemacht. Das Konzerthaus, sagt sie und klingt glücklich dabei, habe noch einmal ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt.