Hamburg. 19 Schülerinnen haben zur NS-Vergangenheit geforscht. Warum das Fernsehen aus Fernost sich für das Eimsbütteler Projekt interessiert.

Es geht emotional nah und bewegt. Es bewegt Jugendliche viel mehr, sich mit echten Menschen zu beschäftigen, die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, als in Schulbüchern über die Nazi-Diktatur zu lesen.

Anlässlich des 125-jährigen Bestehens des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums (kurz EWG) in Hamburg-Eimsbüttel haben sich ein Geschichtslehrer und 19 Schülerinnen außerhalb des regulären Unterrichts mit dem Schicksal dieser Menschen beschäftigt. Erstaunlich: Sie wurden dabei sogar teilweise vom japanischen Fernsehen begleitet.

Neun neue Stolpersteine vor Gymnasium in Hamburg-Eimsbüttel

Höhepunkt des Projektes von Geschichtslehrer Simon Raß und den Schülerinnen aus der zehnten Klasse und der Oberstufe war am Sonnabend eine feierliche Zeremonie vor der Schule an der Bundesstraße und die Verlegung von neun Stolpersteinen mit Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig – hamburgweit gibt es derzeit 6700 dieser kleinen Messingplatten. Erst Ende der Woche verlegte Demnig auch in Tonndorf seine glänzenden Erinnerungstafeln an der Gyula-Trebitsch-Schule.

Vor der Verlegung der Stolpersteine hatten die Schülerinnen neun Monate lang mithilfe von Christina Igla von der Hamburger Stolperstein-Initiative geforscht und in aufwendiger Arbeit herausgefunden, welche ehemaligen Mitglieder der Schulgemeinschaft, damals eine reine Mädchenschule, vom NS-Regime verfolgt und ermordet wurden. Mehr als 130 Namen ehemaliger Schülerinnen des heutigen EWG wurden zusammengetragen, die den Holocaust überlebt hatten.

Eimsbüttel: Schülerinnen erinnern an eine Lehrerin und acht ermordete Mädchen

Aber die Jugendlichen fanden auch ehemalige jüdische Schülerinnen und eine Lehrerin, die ermordet wurden.

Jetzt sind diese neun Menschen, darunter die Lehrerin Martha Behrend (3.12.1881–18.11.1941), die ehemalige Schülerin und spätere Widerstandskämpferin Magda Thürey (4.3.1899–17.7.1945) oder Julie Cahn (16.4.1904–23.9.1940), Tochter jüdischer Eltern, für die Schülerinnen lebendig geworden.

Und es ist genau das, was dieses Projekt so besonders macht. Der Zugang zu diesem schweren Thema über Einzelschicksale und nicht nur über mächtige Zahlen, wie zig Millionen ermordeter Menschen.

Geschichtsunterricht – das Menschliche bleibt hängen, weniger abstrakte Zahlen

„Uns wird in der Schule sonst häufig nur gesagt: ‚Dann recherchiert doch mal im Internet!‘“, sagt Sarah Benmeddah: „Dabei kommt das Menschliche aber nicht zum Vorschein, keine Gefühle.“

Die 16-Jährige findet bloße Zahlen zu abstrakt. „Dass sechs Millionen Juden ermordet worden sind, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. In dem Projekt wollte ich auf einzelne Personen eingehen.“ Im normalen Geschichtsunterricht bleibe das meiste zu oberflächlich – trotz der üblichen Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Künstler und Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig (kniend) verlegte mit seinem Team neun neue Stolpersteine vor dem Eimsbütteler Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium. 19 Schülerinnen unter ihrem Lehrer Simon Raß (zweite Reihe, r.) hatten in neun Monaten zu den Schicksalen ehemaliger Schülerinnen und Lehrerinnen geforscht.
Künstler und Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig (kniend) verlegte mit seinem Team neun neue Stolpersteine vor dem Eimsbütteler Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium. 19 Schülerinnen unter ihrem Lehrer Simon Raß (zweite Reihe, r.) hatten in neun Monaten zu den Schicksalen ehemaliger Schülerinnen und Lehrerinnen geforscht. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Dass Anne Frank in Bergen-Belsen – gerade einmal etwas mehr als 100 Kilometer von Hamburg entfernt in der Lüneburger Heide – gestorben ist, wusste Sarah nicht. „Warum machen wir keine Exkursionen dorthin?“ Genau solche Schicksale, sagt sie, seien es, die einen rühren, die hängen bleiben.

Geschichte: NS-Zeit erst ab Klasse 9 ist vielen Schülern zu spät

Manchen Zehntklässlerinnen – Jungs haben sich für das freiwillige Stolpersteinprojekt nicht gemeldet – kommt das Thema Nationalsozialismus in den Schulen zu spät. „Früher wäre besser, weil es so prägend und wichtig ist“, sagt Julie Tietgen (16).

Sarah Benmeddah erzählt von jungen Schülern, die das Wort Jude als Schimpfwort gebrauchen. „Die wissen ja häufig nichts über die Nazizeit, daher ist es wichtig, schon viel früher darüber in der Schule zu lernen.“

„Auch ich habe mich schon in der siebten Klasse für die NS-Zeit interessiert, aber wir wurden immer von den Lehrern vertröstet, dass das Thema später kommt“, sagt Matilda Korn. „Dass es erst in der zehnten Klasse behandelt wird, finde ich viel zu spät. Man kann das Ganze ja auch kindgerecht aufarbeiten.“

Nationalsozialismus – jede Schule, jeder Lehrer entscheidet über zeitlichen Umfang

In Hamburg aber steht die Zeit des Nationalsozialismus als Thema des Geschichtsunterrichts zumeist in den Jahrgangsstufen 9 oder 10 auf dem Lehrplan. Das liegt laut der Schulbehörde vor allem am didaktisch-methodischen Aufbau des Unterrichts: Im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I werden die historischen Epochen entlang der Zeitachse, von der Frühgeschichte über Altertum und Mittelalter bis in die Neuzeit und Gegenwart, vermittelt.“

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts – und damit die NS-Zeit mit all ihren Folgen – findet zumeist im Unterricht der Jahrgangsstufen 9 oder 10 statt. „Mit welchem zeitlichen Umfang das Thema im Unterricht behandelt wird, entscheidet die einzelne Schule beziehungsweise die einzelne Lehrkraft“, so Behördensprecher Peter Albrecht.

Eimsbüttel: Japanischer Fernsehsender dreht Beitrag über Eimsbütteler Schüler

Darüber, wie in Deutschland die NS-Vergangenheit aufgearbeitet wird, dreht auch das japanische Fernsehen Tokyo Broadcasting System (TBS) derzeit einen Beitrag. Darin wird TBS unter anderem über die Stolpersteine berichten und war daher mit einem Team auch bei der Verlegung vor der Schule dabei.

Schülerin Hannah Klostermeier vom Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium in Eimsbüttel wird von den japanischen Fernsehredakteuren Kiyomi Ikenaga (l.) und Tadashi Nishimura zum Thema Umgang mit der Nazi-Vergangenheit an Deutschlands Schulen interviewt.
Schülerin Hannah Klostermeier vom Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium in Eimsbüttel wird von den japanischen Fernsehredakteuren Kiyomi Ikenaga (l.) und Tadashi Nishimura zum Thema Umgang mit der Nazi-Vergangenheit an Deutschlands Schulen interviewt. © FUNKE Foto Services | Genevieve Wood

Darüber hinaus möchte das Fernsehteam auch den Unterricht besuchen und darstellen, wie in Hamburg Geschichte unterrichtet wird. Der Direktor von TBS, Tadashi Nishimura, interessiert sich besonders dafür, wie sich die Schüler und Schülerinnen im Unterricht mit der Tätergeschichte Deutschlands auseinandersetzen.

Japanisches Fernsehen zeigt auf, dass in Deutschland anders unterrichtet wird

Wie intensiv in Deutschland an den Schulen das Thema der Nazi-Vergangenheit angegangen wird, hat den TBS-Korrespondenten Tadashi Nishimura sehr beeindruckt: „Japaner sind ja auch Täter, wir trauern auch um die Opfer zum Beispiel von Hiroshima, aber wir haben die Täter nicht so sehr im Fokus.“

In den Schulen in Japan werde immer weniger über die Täterseite Japans im Zweiten Weltkrieg unterrichtet, da die konservative japanische Regierung dies nicht gut finde. „Außerdem wird in Japan Frontalunterricht praktiziert, und es gibt sehr wenig Möglichkeit für die Schüler und Schülerinnen, miteinander zu diskutieren. Wir möchten zeigen, dass in Deutschland anders als in Japan unterrichtet wird.“

EWG-Schülerinnen trauern symbolisch mit den Opfern der NS-Zeit

Beim Interview mit dem japanischen Fernsehen sagt Hannah Klostermeier (16): „Die Stolpersteine sind ein gutes Symbol dafür, dass wir Deutschen mit den Opfern von damals trauern. Es ist eine gute Sache, an diese Zeit zurückzudenken, die Erinnerung an die Opfer ist sehr wichtig.“

Simon Raß, Geschichts- und Englischlehrer und Initiator des Stolpersteinprojektes: „Die Schülerinnen sagen, dass sie das viel beeindruckender finden als den normalen Geschichtsunterricht. Sie mussten in dem Projekt selbst aktiv werden, waren sehr gefordert und haben viel Arbeit hier reingesteckt.“

Eimsbütteler Schülerinnen sind bereit, Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen

Es werden nicht nur Opfer benannt, sondern auch Täter. „Die Tragödie und die Katastrophe belastet die Schülerinnen. Dass es die Deutschen waren, wird von den Schülerinnen aber nicht als Hindernis aufgefasst, die Vergangenheit aufzuarbeiten“, so Simon Raß.

Ganz im Gegenteil. Das Bedürfnis, Verantwortung zu nehmen, sei für viele selbstverständlich, ohne eine Last zu sein.