Hamburg. Wo ist es in der Stadt am schönsten? Teil 36: Gegensätze machen das Viertel der kleinen Leute groß – und vor allem lebenswert.

Man soll ja ehrlich sein: Diese Überschrift ist Unsinn. Wie käme ich dazu zu behaupten, Wandsbek sei Hamburgs bester Stadtteil? Nicht weil ich allen anderen damit Unrecht täte – sie könnten das schon aushalten. Ich glaube vielmehr: Wandsbek ist viel zu bescheiden, ein solches Kompliment anzunehmen. Es würde sagen: Jetzt übertreibst du aber! Dieser Stadtteil hat sich nie angemaßt, der schönste zu sein oder das, was man so für schön hält. Genau das gefällt mir.

Aber es gibt Menschen, für die Wandsbek sehr wohl der schönste Stadtteil ist. Und sie haben gute Gründe, davon überzeugt zu sein. Man kann ihnen im einstigen Morewood-Stift begegnen, einem historischen weißen Backsteinbau, in dem früher Witwen ihren Alterssitz fanden. Heute treffen sich hier jeden Dienstagnachmittag die Damen und Herren vom Bürgerverein Wandsbek von 1848, eingerahmt von Bildern, Karten und Vi­trinen eines kleinen Heimatmuseums.

In Wandsbek kommt man ins Gespräch – bei Karstadt und im Café

„Wir leben alle sehr gern hier“, sagt Ingrid Voss (80), die Vorsitzende. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten für ihren Stadtteil. Dafür, dass es mehr Menschen wie sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter vom Bürgerverein gibt: die in Wandsbek leben, weil sie genau hier leben wollen und nicht, weil sie der Zufall hergetrieben hat oder weil sie sich das Leben woanders nicht leisten können.

Was das Leben hier lebenswert macht? Ich notiere Stichworte, die am Tisch fallen: die Vielseitigkeit, die Natur, die Nahversorgung, die Verkehrsanbindung, die Infrastruktur, dass es hier von Krankenhäusern bis zu Schulen alles gibt, was man so braucht. Aber auch: dass man sich hier kennt, miteinander ins Gespräch kommt, im Café oder bei Karstadt, auf dem Markt oder im Quarree.

Wandsbek: Das sind die Fakten

  • Einwohner: 36.149
  • Davon unter 18: 4907
  • Über 65: 6491
  • Durchschnittseinkommen: 28.567 € (2013)
  • Fläche: 6,0 km²
  • Anzahl Kitas: 15
  • Anzahl Schulen: 4 Grundschulen, 2 Gymnasien
  • Wohngebäude: 3926
  • Wohnungen: 20.184
  • Niedergelassene Ärzte: 70
  • Straftaten im Jahr 2018: Erfasst: 4169; Aufgeklärt: 1892

Ein großes Dorf, auch wenn es nicht so aussieht. Als solches hat auch Wandsbek natürlich einmal angefangen, auch wenn aus der Frühzeit nicht mehr viel übrig ist. Mehr als andere hat sich dieser Stadtteil immer wieder neu erfinden müssen: Aus der stormarnschen Bauernsiedlung wurde ein dänischer Fabrikort, eine preußische Stadt, schließlich ein Hamburger Stadtteil und Bezirk.

Die Kriegszerstörungen haben Wunden aufgerissen, die eher zweckmäßig geschlossen wurden. Sie sind es auch, die Wandsbek uneinheitlich erscheinen lassen. Man könnte auch sagen: widersprüchlich. Es sind die Gegensätze, die diesen Ort so anziehend machen.

Mausoleum gilt heute als Wandsbeks bedeutendstes Baudenkmal

Wo also anfangen, um dem Stadtteil auf die Spur zu kommen? Das Schloss, das der Gutsherr und Sklavenhändler Heinrich Carl von Schimmelmann Ende des 18. Jahrhunderts auf den Resten der alten Wandesburg errichten ließ, wäre sicher ein guter Ausgangspunkt gewesen. Doch es wurde, obwohl völlig intakt, 1861 abgerissen.

Und so gilt Schimmelmanns Mausoleum nahe der Christuskirche heute als Wandsbeks bedeutendstes Baudenkmal. Direkt gegenüber findet sich ein sehr viel bescheideneres Grab, unter dem der berühmteste Bürger des Stadtteils liegt: Matthias Claudius. Der Journalist und Dichter hat mit dem „Wandsbecker Bothen“, den er von 1771 bis 1775 herausgab, dem Ort ein literarisches Denkmal gesetzt.

Der Journalist und Dichter Matthias Claudius hat mit dem „Wandsbecker Bothen“, den er von 1771 bis 1775 herausgab, dem Ort ein literarisches Denkmal gesetzt. Seine Grabstätte befindet sich in Wandsbek.
Der Journalist und Dichter Matthias Claudius hat mit dem „Wandsbecker Bothen“, den er von 1771 bis 1775 herausgab, dem Ort ein literarisches Denkmal gesetzt. Seine Grabstätte befindet sich in Wandsbek. © HA

Schon zu Claudius’ Zeiten wurde Wandsbek zum Gewerbegebiet. Bis zu 1500 Arbeiter waren einst in den Kattundruckereien beschäftigt. Hamburgs, jawoll, schönstes Werksgebäude ist denn auch in Wandsbek zu finden: die einstige Zigarettenfabrik Haus Neuerburg, 1926 bis 1928 nach den Plänen von Chilehaus-Schöpfer Fritz Höger gebaut. Heute wird der imposante Backsteinbau von der Telekom als Verwaltungsgebäude genutzt.

Die großen Fabriken gibt es nicht mehr. Aber nicht nur gefühlt ist Wandsbek ein Stadtteil der kleinen Leute geblieben. Selbst im Idyll der Gartenstadt, einer Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Eigenheimsiedlung, wird höchstens Bescheidenheit zur Schau gestellt.

Stadtteilserie - Wandsbek 2

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    Die Menschen im Stadtteil verdienen ein Viertel weniger als im Hamburger Durchschnitt und nicht einmal halb so viel wie die Nachbarn im Villenviertel Marienthal. Kinder gibt es vergleichsweise wenige. Das soll sich ändern: Die Nachkriegsbebauung wurde zuletzt nachverdichtet, wie es im Amtsdeutsch heißt. Mit den Wohnanlagen sind auch Familien und Akademiker gekommen.

    Verein City Wandsbek will zum Imagewandel beitragen

    Sie finden hier vor: 14 Kindergärten und fünf Grundschulen, Sportvereine und Freizeitangebote, Einkaufsmöglichkeiten vom Biomarkt bis zum Weinhaus – und überraschend viel Grün, das sich fast verschämt hinter industriellem Grau wegduckt. Tatsächlich sind es nur ein paar Schritte vom Verkehrsdickicht Wandsbeker Marktplatz zum Idyll des Eichtalparks, durch den sich verträumt die Wandse schlängelt. Ihrem Lauf folgend gelangt man auf natürlichem Weg bis fast in die Innenstadt. Schneller geht es mit der Bahn: Zehn Minuten sind es zum Hauptbahnhof, 15 zum Flughafen.

    Stadtteilserie - Wandsbek 3

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      Zuletzt sind mehr Menschen her- als weggezogen. Seit der Jahrtausendwende versucht der Verein City Wandsbek, die Zentrumsinsel auf dem Marktplatz wiederzubeleben und damit zum Imagewandel beizutragen. Im Sommer kann man jetzt im Beachclub Cocktails schlürfen, im Winter auf dem Weihnachtsmarkt eislaufen, im Frühjahr gibt es beim „Food Truck Weekend“ Spezialitäten aus der ganzen Welt, im Herbst beim Oktoberfest Brezn, Bier und Weißwurst.

      Der eigentliche Wandsbeker Markt versteckt sich auf dem Quarree hinter dem gleichnamigen Einkaufszentrum. Wobei der Name Wochenmarkt hier meint: Es wird die ganze Woche geschaut, gehandelt und geklönt. „Aber ohne Tratsch“, sagt Ingrid Voss. Auch das mache ihren Stadtteil aus.

      Natürlich finden auch die Lokalpa­trioten vom Bürgerverein etwas auszusetzen: dass hier gedealt wird; dass es kaum größere Veranstaltungsräume gibt; dass immer mehr alte Läden schließen müssen; es an neuen gastronomischen Angeboten jenseits von Shisha-Bars fehlt; und dass der Schwerlastverkehr auf dem Ring 2 und der ehemaligen B 75 dem Stadtteil Atem und Schlaf raubt. Aber es muss schon mehr passieren, um die überzeugten Wandsbeker hier wegzubekommen. Aus dem besten Stadtteil Hamburgs? Entscheiden Sie selbst!

      Wandsbek: Das sind die Highlights

      1. Wandsbeker Wochenmarkt

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        Wochenmarkt meint hier: Es ist die ganze Woche Markt (außer sonn- und feiertags). Gehandelt werden nicht nur Lebensmittel und Blumen, sondern auch die neuesten Informationen aus dem Viertel.

        2. Botanischer Sondergarten

        Für den Urlaub zwischendurch: Hier kann man besondere Pflanzen im Park, im Gewächshaus und in Pflanzkästen studieren – oder einfach nur die Natur mit allen Sinnen genießen. Der Eintritt ist frei.

        3. Decathlon

        Sportartikelkauf als Familienevent: Während die Kleinen Inlineskates testen, Holzpferd reiten oder Tischtennis spielen, können die Großen ungestört zwischen den Hochregalen stöbern.