Hamburg. Wo ist es in Hamburg am schönsten? Teil 32: Grüne Idylle und Singen unterm Tannenbaum. Hier geht's mit dem Trecker zur Schule.

"Müller, acht Personen – gehen Sie gern durch. Es ist angerichtet.“ Karl-Heinrich „Kalle“ Pieper übernimmt wie jeden Abend (bis auf mittwochs, da ist Ruhetag) das Empfangskomitee. Liebenswürdig bittet er seine Gäste in die Gaststube. Und holt sich von einem weiblichen Gast noch schnell ein „Moin Kalle, mein Lieber“ samt herzlicher Umarmung ab.

Seit 1967 führt der 78-Jährige gemeinsam mit Frau Asta (73), einer geborenen Offen, das mehr als 300 Jahre alte Gasthaus Offen in Lemsahl-Melling­stedt. Mehr als 50 Jahre ist Pieper auch mit seiner Asta verheiratet. Alles, aber auch alles würde er wieder so machen wie früher. Und als Lebensmittelpunkt immer wieder Lemsahl-Mellingstedt wählen. „Weil es hier so dörflich ist und die Menschen zusammenhalten“, sagt der gebürtige Ohlstedter. Und wegen der Natur.

„Das Schönste für mich ist es, von der Bank vor dem Gasthaus über die gegenüberliegenden Felder zu schauen.“ Wenn der ehemalige Postbote Pieper dann in den Himmel blickt, kann er sogar das Wetter für den nächsten Tag voraussagen. Spricht’s und knuddelt erst mal Enkelin Rike (23). Die hat heute Dienst im Service und flitzt gleich wieder in die Küche, wo Oma Asta gerade die legendären Bratkartoffeln schwenkt.

Die „Klönecke“ am Lemsahler Dorfplatz befindet sich unter einer alten Eiche.
Die „Klönecke“ am Lemsahler Dorfplatz befindet sich unter einer alten Eiche. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Vom Klönschnack bei Offen geht’s auf den Lemsahler Dorfplatz in die „Klön­ecke“. Steht da so geschrieben, auf dem Schild an der Eiche über den Bänken. Hier lasse ich mich nieder, genieße die Stille und tauche für einen Moment ein in die Geschichte. Lemsahl kommt von „Sahl“ für lehmigen Tümpel, im Mittelalter lagen im Stadtteil Ziegeleikuhlen. „Mellingstedt“ deutet auf eine rund 1000 Jahre alte sächsische Besiedlung hin. 1271 wurden Lemsahl und Melling­stedt erstmals urkundlich erwähnt. Ab 1866 stand Lemsahl-Mellingstedt unter preußischer Hoheit, bis es 1937 nach Hamburg eingemeindet wurde.

Feuerwehrleute gründeten den Heimatbund

Hier auf dem Dorfplatz treffe ich Vertreter des Heimatbunds Lemsahl-Melling­stedt. Ihn haben 1964 einige Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr des Stadtteils gegründet. Er ist mit 712 Mitgliedern der größte Heimatverein im Bezirk Wandsbek. Und setzt sich, so Schatzmeister Carsten Diercks (58), gezielt für Naturschutz und kommunale Belange ein, hält konsequent Kontakt zu Behörden, Parteien und Vereinen. „Unser Ziel ist es, den Dorfcharakter zu erhalten“, sagt Diercks. Will heißen: Hier wird ein Wörtchen mitgeredet bei der Bebauung des 7,9 Quadratkilometer großen und rund 6800 Einwohner zählenden Stadtteils, der mit Bergstedt, Duvenstedt, Volksdorf und Wohldorf-Ohlstedt zu den Walddörfern zählt.

Vertreter des Heimatbundes auf dem Lem­sahler Dorfplatz: Heinz Feltmann (v. l.), Anja von Wagner, Hans-Jürgen von  Appen und  Carsten Diercks.
Vertreter des Heimatbundes auf dem Lem­sahler Dorfplatz: Heinz Feltmann (v. l.), Anja von Wagner, Hans-Jürgen von Appen und Carsten Diercks. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Auch wenn die Verstädterung mit Neubausiedlungen zwischen Fiersbarg und Tannenhof voranschreitet (die Quote an Eigenheimbesitzern ist die höchste in Hamburg und das Einkommen höher als der Hamburger Durchschnitt): Die Verfechter urbanen Lebens haben bei der jüngsten Bebauung am Spechtort mit Einfamilienhäusern, Doppelhaushälften, Town-Houses eine moderate Bebauung mit 145 Einheiten durchgesetzt.

Lehmsahl-Mellingstedt: Das sind die Fakten

  • Einwohner: 6803
  • Davon unter 18: 1346
  • Über 65: 1413
  • Durchschnittseinkommen: 75.191 € (2013)
  • Fläche: 8,0 km²
  • Anzahl Kitas: 5
  • Anzahl Schulen: 1 Grundschule
  • Wohngebäude: 2405
  • Wohnungen: 2866
  • Niedergelassene Ärzte: 3
  • Straftaten im Jahr 2018: Erfasst: 280, Aufgeklärt: 91

Einige Bewohner, unter ihnen viele junge Familien, seien bereits Mitglied im Heimatbund. Denn jeder, der hierherziehe, werde sofort mit einbezogen und über die jährlich zehn Veranstaltungen informiert. Das Osterfeuer, der legendäre Jazzfrühschoppen mit Flohmarkt, das Schweine-Bingo im Gasthaus Offen und das Singen unterm Tannenbaum zur Vorweihnachtszeit hier auf dem Dorfplatz gehören dazu.

Lehmsahler Mini-Einkaufszentrum

Und wer Lust aufs Shoppen hat, setzt sich einfach ins Auto oder in den Bus (Lemsahl-Mellingstedt ist mit den Buslinien 176, 276 und 476 des HVV an das öffentliche Hamburger Verkehrsnetz angebunden) und ist in zehn Minuten im Poppenbütteler Alstertal-Einkaufszentrum. Beschaulicher geht’s im Tannenhof zu – dem Lemsahler (Mini)-Einkaufszentrum mit Nahversorgerfunktion. Samt Supermarkt mit Bäcker, Poststelle, Ärzten, Apotheke, Reinigung und Friseurgeschäft. Das führt Marion Grass. Nach 20 Jahren in Poppenbüttel ist sie mit ihrem Betrieb vor sechs Jahren hier eingezogen. Und weiß es zu schätzen: „Hier ist es kuschelig, nicht wuselig“, sagt die Friseurmeisterin.

Das finden auch Brit Garn-Enge (75) und Rosemary Kluth (69), die ich hier vor dem Edeka-Markt beim gemütlichen Plausch treffe. Die Norwegerin und die Britin haben in der Hansestadt vor einigen Jahrzehnten ihre Liebe gefunden und Lemsahl-Mellingstedt für sich entdeckt. „Hier ist es heimelig, dazu hat Hans-Jürgen von Appen ganz stark beigetragen“, sagt Rosemary Kluth. Und meint damit den langjährigen ehemaligen Vorsitzenden des Heimatbundes. Den 77-Jährigen und seine Frau Helma (71) besuche ich spontan in ihrem Garten am Ödenweg. Ein echter Staudengarten auf 1500 Quadratmetern und ein Paradies für Insekten und Bienen. „Laufen Sie mal durch den Rosenbogen. Das bringt Glück“, sagt die passionierte Puppenmacherin zum Abschied.

Das mehr als 300 Jahre alte Gasthaus Offen in Lemsahl-Mellingstedt.
Das mehr als 300 Jahre alte Gasthaus Offen in Lemsahl-Mellingstedt. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Zur Einschulung geht's mit dem Trecker

Weiter geht’s in den Redderbarg zur 250 Jahre alten Lemsahler Grundschule. Kurios: Alle Jahre wieder kutschiert „Hinni“ Hans-Hinrich Jürjens (83) die Erstklässler zur Einschulung mit dem Trecker samt angehängten Landarbeiter-Wagen von 1928 von der Kirche zur Schule. Wenige Meter weiter lebt Heinz Feltmann mit seiner Familie in einem der ältesten, im Ursprung erhaltenen Reetdachhäuser.

Die Serie wird es von Mitte November an auch als Magazin geben: „Die 50  besten Hamburger Stadtteile“. Sie können  es schon vorbestellen unter 040/333 66 999 und auf abendblatt.de/diebesten. Es kostet 9 Euro, Abonnenten zahlen 7 Euro.
Die Serie wird es von Mitte November an auch als Magazin geben: „Die 50  besten Hamburger Stadtteile“. Sie können  es schon vorbestellen unter 040/333 66 999 und auf abendblatt.de/diebesten. Es kostet 9 Euro, Abonnenten zahlen 7 Euro.

Der 74-Jährige liebt wie viele Bewohner die Abwechslung in „seinem“ Stadtteil. Sei es das traditionelle Sommerfest, die sportlichen Aktivitäten beim Lemsahler SV, die Konzerte in der Jubilate-Kirche am Madacker oder die kulinarischen Genüsse auf rustikalem oder feinem Niveau. Wie wär’s mal mit einem schicken Einkehrschwung im Stock’s oder im Steigenberger Hotel Treudelberg mit angeschlossenem Golfplatz?

Wanderparadies mit Wiesen und Wäldern

Ich zähle eher zur Wanderfraktion. Alsterlauf, Kupferteich oder Wittmoor? Das ist jetzt die Frage. Ich entscheide mich fürs Wittmoor, dem einzigen Hochmoor im Norden Hamburgs. Starte am Fiersbarg, laufe vorbei an Heide und Weiden, an Wiesen und Wäldern. Nach Beendigung des Torfabbaus 1958 wurde das Wittmoor (niederdeutsche Bezeichnung für „weißes Moor“) 1978 unter Naturschutz gestellt.

Bianca Bödeker ist Reporterin beim Hamburger Abendblatt.
Bianca Bödeker ist Reporterin beim Hamburger Abendblatt. © Martina van Kann | Martina van Kann

Ich setze mich auf eine der 20 vom Heimatbund gestifteten Bänke. Wieder diese Stille (abgesehen von den überfliegenden Flugzeugen ...)! Ich hole meinen Proviant heraus. Restaurants gibt’s hier nicht, aber wunderbare Plätze für ein Picknick in der Natur.

In zwei Jahren wird der Stadtteil 750 Jahre alt. Das soll groß gefeiert werden. Lemsahl-Mellingstedt – so menschlich und modern, so dörflich und direkt. „Sowat gifft dat jümmers noch in Hamburg?“ Jawohl! Überzeugen Sie sich selbst, und schauen Sie doch mal vorbei im besten Stadtteil Hamburgs!

Lemsahl-Mellingstedt: Das sind die Highlights

Grafik Lemsahl-Mellingstedt
Grafik Lemsahl-Mellingstedt

1. Das Wittmoor

Wittmoor ist niederdeutsch und heißt „weißes Moor“, das letzte Hochmoor im Norden Hamburgs. Mehrere 1000 Jahre alt erstreckt es sich über Lemsahl-Mellingstedt, Duvenstedt bis nach Norderstedt Glashütte. Das Moor wurde bis 1958 großflächig abgetorft und 1978 unter Naturschutz gestellt. Hier gibt es eine schöne Gelegenheit für ein Picknick im Freien.

Stadtteilserie - Naturschutzgebiet Wittmoor
Stadtteilserie - Naturschutzgebiet Wittmoor

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    2. Gasthaus Offen

    Das Gasthaus Offen in Lemsahl ist eine Institution. Seit 1967 führt das Ehepaar Karl-Heinrich „Kalle“ und Asta Pieper das Restaurant. Legendär: die Bratkartoffeln der Chefin. Jährliches Highlight ist das vom Heimatbund ausgerichtete Schweine-Bingo im Dezember. Es ähnelt dem Bingo. Wer die richtigen Zahlen hat, nimmt ein halbes Schwein mit nach Hause.

    Stadtteilserie - Gasthaus Offen
    Stadtteilserie - Gasthaus Offen

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      3. Der Dorfplatz

      Er ist das Herz von Lemsahl-Mellingstedt: der Dorfplatz in der Lemsahler Dorfstraße. Ein Ort der Begegnung, auch dank des Heimatbundes. Der setzt sich ein für kommunale Anliegen und Naturschutz und lädt jedes Jahr ein zu zehn Events. Das Osterfeuer gehört dazu, der Jazzfrühschoppen im Juni und das Singen unterm Tannenbaum zur Vorweihnachtszeit.

      Stadtteilserie - Dorfplatz
      Stadtteilserie - Dorfplatz

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