Meckelfeld. Ivar Buterfas-Frankenthal kämpft gegen das Vergessen. Die Anspannung bei seinem Besuch in Meckelfeld war spürbar.
Und plötzlich bekommt die deutsche Vergangenheit ein Gesicht, das Schicksal der im Naziregime verfolgten Juden eine Stimme. Und es scheint, als ständen sie, die Schülerinnen und Schüler des Gymasiums Meckelfeld, mittendrin in der Zeit des Nationalsozialismus. Sie zucken zusammen, als jemand schreit: „Buterfas, tritt einmal hervor, du kleiner Judenlümmel. Du bist Jude, du verschwindest sofort von unserem Schulhof und lässt dich hier nie wieder sehen.“
Stille. Die Anspannung ist spürbar. Die Bilder sind zum Greifen nah: Wie der kleine Schuljunge seine Sachen zusammenrafft und losrennt, verfolgt von einer Horde Mitschülern. Wie sie den Siebenjährigen an den Armen packen und festhalten, ihm die Hose runterziehen und ein Loch hineinbrennen. Ihn anschließend gewaltsam auf eine Kasematte zerren und den darunter liegenden Papiermüll anzünden. Und wie sie schreien: „Jetzt werden wir die kleine Judensau mal rösten!“
Holocaust-Zeitzeuge berichtet Hamburger Schülern vom Naziregime
Stille. Fassungslosigkeit. Kopfschütteln. „Wie so etwas passieren konnte“, fragen sich die 250 Jugendlichen, die im Forum der Schule zuhören. Vorn, auf dem Podest, sitzt der kleine Junge von damals: Ivar Buterfas-Frankenthal. 89 Jahre ist er inzwischen. Er ist einer der letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus, der an die Grauen der NS-Herrschaft erinnern kann. Nichts davon hat er vergessen. „Noch immer kommen nachts die Alpträume“, sagt er. „Diese Alpträume sind einer der Gründe, warum ich seit 30 Jahren mit meiner Frau unterwegs bin und davon berichte.“ In Schulen und Gemeindehäusern, in Theatern und Veranstaltungssälen in ganz Europa erhebt der Bendestorfer seine Stimme gegen das Vergessen.
An diesem Donnerstag im Mai tut er das zum 1521. Mal. „Ich war in den vergangenen Wochen an den Schulen in Buchholz und Hittfeld, jetzt kommen noch Jesteburg und Stade dran“, sagt er. „Meine Reise neigt sich dem Ende. Wer weiß, wie lange ich das noch machen kann.“
2,6 Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben Ivar Buterfas-Frankenthal und seine Frau Dagmar in den vergangenen drei Jahrzehnten erreicht, sie mitgenommen in die Zeit zwischen 1933 und 1945. Als Hitler an die Macht kommt und Deutschland in eine Diktatur verwandelt, in der politische Gegner ausgemerzt und die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Deutschlands systematisch verfolgt und brutal ermordet wurden. „Die Nationalsozialisten töteten während ihrer Herrschaft bis 1945 ungefähr sechs Millionen Juden aus ganz Europa“, sagt Ivar Buterfas-Frankenthal. „Für diese Menschen kann ich gar nicht laut genug meine Stimme erheben. Ich habe mit meiner Frau ein Abkommen: Solange ich noch von den jungen Menschen verstanden werde, solange werde ich nicht aufgeben. Denn für euch bin ich unterwegs, damit ihr eine vernünftige Zukunft habt.“
„Wir müssen helfen. Ihr müsst helfen!“
Er beugt sich nach vorn, ganz nah ans Mikrofon, und beginnt zu erzählen. Von einer Geschichte, die fassungslos macht. Wie er am 16. Januar 1933 als jüngstes von acht Geschwistern in Hamburg geboren wird, 14 Tage bevor Adolf Hitler als Reichskanzler an die Macht kommt. Wie die Familie, „meine Mutter war der arische Teil, mein Vater der jüdische“, erleben muss, wie jüdische Händler, Handwerker, Anwälte und Ärzte boykottiert, Künstler, Wissenschaftler und andere bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus ihren Funktionen verdrängt werden. Wie sie im Zuge der „Nürnberger Gesetze“ 1935 zu Bürgern zweiter Klasse erklärt, ihre Geschäfte und Synagogen in Brand gesetzt werden. Wie die Nationalsozialisten die Juden mit Kriegsbeginn systematisch verfolgen, versklaven und ermorden.
Ivar Buterfas-Frankenthal, seine sieben Geschwister und seine Mutter überleben den Holocaust. Sie verstecken sich auf der Flucht vor der Deportation in den Kellern der zerbombten Häuser. „Wie die Menschen in Mariupol, die 60 Tage unter den schlimmsten Bedingungen ausharren mussten“, sagt er. „Das ist unvorstellbar. Sie hausen wie wir damals vor 80 Jahren in einem Kellerloch. Deswegen kann ich es verstehen, wie es den Menschen dort geht. Und wir müssen helfen. Ihr müsst helfen!“
Der gebürtige Hamburger möchte mehr als nur mahnen
Der gebürtige Hamburger möchte mehr als nur mahnen. Er möchte die Kraft der Erinnerungen dazu nutzen, die Kinder und Jugendlichen stark zu machen. Er möchte die junge Generation ermutigen, hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen. Er möchte antworten auf ihre Fragen, warum so etwas passieren konnte und warum so etwas wieder passieren könnte. „Mauern war das, was 1945 nach dem Kriege in Deutschland an der Tagesordnung war, bloß nicht mehr darüber schnacken“, sagt er. „Da hieß es: ‚Die Tied is vorbie.“ Die Jugendlichen hätten nie eine Antwort bekommen auf ihre Fragen. „Aber eh wir uns versehen, können sich die Zeiten wiederholen“, sagt er. „Diese Republik ist sehr fragil. Wir müssen sie schützen. Das ist eure Aufgabe später. Ihr seid die Jugendlichen von heute und die Erwachsenen von morgen. Auch eure Kinder haben ein Recht darauf, dass sich so etwas nie wiederholt.“
Er schweigt. Schaut in die Gesichter der Schüler. Dann sagt er: „Es wird von mir in meinem Bericht keine Ausführungen über Himalaya-hohe Leichengebirge geben – darüber rede ich nicht, obwohl ich es könnte. Nur das: Der Vater meiner Frau war Arzt. Er wurde als Jude verhaftet, kam ins Konzentrationslager Buchenwald in die Krankenbaracke. Dort musste er – auf Befehl der Frau des Kommandanten Koch – von Häftlingen, die ihr gut gefielen, die Köpfe schrumpfen. Sie stellte sich diese auf den Schreibtisch.“ Später werden diese als Beweisstücke bei den Nürnberger Prozessen gezeigt. Ebenso wie die Lampenschirme der Frau Koch. „Sie bestanden aus der Haut tätowierter Flüchtlinge“, sagt Buterfas-Frankenthal. „Noch heute kriege ich leises Zittern, wenn ich Tätowierte sehe.“
„Ich habe Morddrohungen bekommen“
All diese grausamen Ereignisse hat er aufgeschrieben in seinen Büchern. Im Herbst erscheint das dritte. „Von ganz, ganz unten“, lautet der Titel. Es ist seine persönliche Lebens- und Zeitgeschichte, zu der nicht nur die Zeit von 1933 bis zur Befreiung durch die Alliierten vom Nazispuk gehört, sondern auch die Jahrzehnte danach von 1945 bis in sein neunzigste Lebensjahrzehnt. Zeit, die er nicht nur mit seinen Vorträgen, sondern auch mit Taten der Erinnerungsarbeit gewidmet hat. Der Erhalt der Hamburger St. Nikolai-Kirche als Mahnmal gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus ist seinem Engagement zu verdanken.
Auch der Umbau des ehemaligen Straf- und Gefangenenlagers Sandbostel bei Bremervörde zu einer Gedenkstätte geht auf seine Kappe. Für seinen Einsatz wird er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz, der Europäischen Menschenrechtsmedaille und dem Weltfriedenspreis. Doch sein Engagement gefällt nicht allen. „Ich habe Morddrohungen bekommen“, sagt er. „Anonyme Nazis haben mir gedroht, mich zu vergasen.“ Seitdem ist sein Haus in Bendestorf eine Festung. Die Fenster sind aus Panzerglas, es gibt elektrische Jalousien, Alarmanlagen, über 20 Kameras, die das gesamte Grundstück und das Haus ausleuchten sowie 37 Lichtquellen mit Scheinwerfern.
Holocaust-Zeitzeuge: „Es ist nicht vorbei mit dem Antisemitismus"
„Noch heute gibt es Leute, die sagen, die Juden sind verantwortlich für alles, auch für den Ausbruch von Corona“, sagt er. „Es ist nicht vorbei mit dem Antisemitismus. Er wird uns wohl für alle Zeiten begleiten.“ Deshalb wird er weiter mahnen, hat drei Filme gemacht, um zu den Menschen zu sprechen, auch dann, wenn er nicht mehr zu ihnen kommen kann.
Am 20. September 2021 zeichnet ein Filmteam von Yad Vashem e.V. in Bendestorf seine Erinnerungen an die Nazigräuel auf. Zum selben Zeitpunkt wird sein Neffe bei einer „Mahnwache gegen Antisemitismus und für ein friedliches Miteinander“ in der Hamburger Innenstadt körperlich angegriffen und schwer verletzt. „Er wird vermutlich sein Augenlicht verlieren. Das“, sagt Ivar Buterfas-Frankenthal, „das ist Deutschland heute im 21. Jahrhundert. Die Zeiten sind unruhiger als vor 1933.“
Am Ende des Vortrags will eine Schülerin wissen, ob jemals ein Mensch auf ihn zugegangen sei und sich bei ihm entschuldigt habe. „Nein“, sagt er. „Nein. Eine Entschuldigung, die gab es bis heute nicht.“