Hamburg. 43 Schülerinnen und Schüler der Volksschule Reitbrook feiern Ehemaligen-Treffen. Düstere Erinnerungen an Kinderverschickungen.
Christa und Wolfgang bekommen einen Blumenstrauß. Christa, weil sie aus Ulm angereist ist und den weitesten Weg hinter sich hat. Wolfgang, weil er der Älteste ist. 43 ehemalige Schülerinnen und Schüler der Reitbrooker Volksschule feierten im Fährhaus Tatenberg ein Wiedersehen. Auch der Mitschüler aus Kanada wäre gern gekommen. War aber dann doch zu weit.
Mit einem Klassentreffen hätten die Organisatoren Reinhard (Heymann) und Reinhard (Meyer) nur noch sieben Ehemalige zusammengebracht. Also entschieden sie sich pragmatisch für ein Treffen der ersten vier Jahrgänge. All die, die einst im gleichen Klassenraum saßen. Große Frage: Wie findet man nach dieser langen Zeit alle, die von 1947 bis 1965 am Vorderdeich 151 eingeschult wurden? Ernüchternde Antwort: nicht mithilfe der Schulbehörde.
Volksschule Reitbrook: 43 ehemalige Deichkinder“ feiern Wiedersehen
„Reinsche“ Meyer fasst sich kurz: „Ich habe natürlich eine Anfrage gestellt. Die schriftliche Antwort lautete, dass eine Verfolgung der Schuldaten nur möglich sei, wenn wir von jedem ehemaligen Schüler die Zweitschrift des Zeugnisses vorlegen könnten. So fing das schon mal gut an. Am Ende hatten wir den Eindruck, dass die Schule Reitbrook bei der Behörde nie existiert hat. Das war ein kleiner Schock für uns.“
Nach dem Rückschlag schalteten die beiden Reinhards den „Landfunk“ ein. Gemeinsam wurden alte Fotos ausgetauscht, gesichtet und sich auf die Suche gemacht. Bei Neffen und Nichten erkundigte sich „Reinsche“ nach den neuen Nachnamen ehemaliger Schulkameradinnen. „Die waren ja meist schon mit 20 verheiratet, während die Jungs da büsch’n zurückgeblieben sind.“
Die Anreise aus Kanada war dann doch zu weit
Die Suche war schließlich erfolgreich. Weil in Reitbrook auch heute noch einer den anderen kennt. Das Ergebnis: 43 fitte Ehemalige klönen im Fährhaus Tatenberg. Es gab drei Absagen, 20 Verstorbene und 14, die keine Lust hatten oder nicht aufzutreiben waren. „Wenn die das jetzt mitbekommen, sollen sie sich unbedingt melden“, bittet Reinhard Heymann. Er will in den nächsten Jahren noch viel mehr Storys aus der Schulzeit hören.
„Wir waren frei“, schwärmt „Reinsche“ Meyer über seine Kindheit, von der er keinen Tag missen möchte. Bei ihrer Einschulung 1960 zu zehnt, saßen die beiden Reinhards mit drei Jahrgängen in einem Klassenzimmer. „Das war toll“, sagt auch Reinhard Heymann. Selbst wenn man wie er nach Absprache zwischen Eltern und Lehrerin auch manchen Nachmittag zum Nachsitzen am Vorderdeich verbrachte.
Von Sanostol, Rotbäckchen oder gar Kinderverschickung
Die Schulanfänger genossen das Zusammensein mit den Älteren, schauten sich viel ab. Zur Schule kamen alle zu Fuß oder mit dem Rad. Bei Wind und Wetter, auch im Flutjahr 1962. „Da gab es für jedes Kind eine weiße Tüte mit Korinthen“, erinnern sich die heute 70-Jährigen an das Nahrungsergänzungsmittel ihrer Kindheit.
Die damals angeordneten Kinderverschickungen waren eher ein Graus. Wer nicht in den Index passte, dessen Eltern wurden von den Schulärzten ermahnt. Dann gab es Sanostol oder Rotbäckchen. Reinhard Heymann musste trotzdem im Alter von acht Jahren ins Landschulheim nach Föhr. „Ich hatte vom ersten Tag an Heimweh. Das Essen war grausam, und wir wurden schlecht behandelt. Heute wäre das so sicher nicht mehr möglich.“
In dem historischen Gebäude ist heute eine Tagesförderstäte untergebracht
An Hunger erinnern sich die beiden Reinhards nicht. Sie waren dünn, weil sie immer auf Achse waren. Das Leben spielte sich draußen ab. Die Wurst vom elterlichen Hof war fetter als heutzutage und es gab Gerichte, die heute keiner mehr kennt. Aus gutem Grund. „Ich bekam vieles nicht runter. Meine Mutter hat mir in ihrer Verzweiflung dann Lebertran-Kapseln in die Mettwurst vom Pausenbrot gedrückt. Das waren so eklige Gel-Pastillen. Die wurden auf dem Schulweg sofort aussortiert“ erinnert sich „Reinsche“.
Neben den Höfen, die damals Landwirtschaft oder Gartenbaubetriebe beherbergten, spielte ab der Einschulung das Haus am Vorderdeich die Hauptrolle. Das Gebäude wird heute von der Pestalozzi-Stiftung als Tagesförderstätte für junge Menschen mit verschiedenen Einschränkungen betrieben.
Hochdeutsch war für viele Kinder die erste Fremdsprache
In den 50er- und 60er-Jahren herrschte ein anderer Ton. Vor der Tafel wechselten sich Fräulein Luise und Fräulein Ursula ab. Beide wussten sehr genau, wo der Rohrstock war. „Es war schwer, wenn du nicht der Liebling warst“ erinnert sich „Reinsche“. Ihm kam in die Quere, dass er in der ersten Klasse auch seine erste Fremdsprache lernen musste. Hochdeutsch war unverständlich für alle, in deren Zuhause platt gesnackt wurde.
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Im Fährhaus Tatenberg wird hochdeutsch und platt gesnackt. Viele Fragen gilt es noch zu klären. Zum Beispiel, wann es dem Turntempel auf dem Schulhof an den Kragen ging. Das Konstrukt eines Dachs auf Stelzen diente vier Generationen von Schulanfängern als Klettergerüst und hat während dieser Zeit nie einen TÜV-Prüfer gesehen. Geklärt ist dafür, welches Auto Fräulein Luise fuhr. Es war ein DAF-Automatik. „Wir nannten es Gummibandauto“, sagt einer der Reinhards lachend. Luise musste nicht schalten. Damit war sie bei den Jungs weit vorn.
Die Organistoren haben eine umfangreiche Internetseite für das Treffen zusammengestellt: schultreffen.reitbrook.de/