Bergedorf/Reinbek. Drama im April 2000: Erster Bürgerentscheid in der Geschichte Hamburgs stoppt Bahnhofsabriss und Neubau. Kann ein runder Tisch helfen?

Es ist ein großes Datum: 1. Januar 2000 – der Jahrtausendwechsel. Auch wenn die Millenniums-Nacht wegen des befürchteten weltweiten Computerausfalls samt des Zusammenbruchs der Datennetze mit großem Unbehagen erwartet worden ist: Der Partylaune tut das keinen Abbruch. Und tatsächlich lautet die erste Titelzeile der Bergedorfer Zeitung im neuen Jahrtausend: „Befürchteter Computer-Crash blieb aus“. Die zweite Meldung des Tages soll aber schon ganz anderen Ärger andeuten: „Boris Jelzins überraschender Rücktritt — Wladimir Putin ist neuer Chef im Kreml“. Ein Geheimdienstler übernimmt pünktlich mit dem Jahreswechsel die Spitze der Supermacht Russland. Seine Ziele – zunächst unklar.

Große Ziele für Bergedorf hat im Jahr 2000 dagegen der Baukonzern Hochtief. Passend zum Aufbruch ins neue Jahrtausend will er im Schulterschluss mit dem Hamburger Senat den Bergedorfer Bahnhof aus den 1930er-Jahren abreißen und zusammen mit dem gesamten Umfeld samt ZOB, Post und dem Parkhaus des Einkaufszentrums CCB großflächig umgestalten. Ein neues Schwimmbad, eine riesige Shopping-Mall, dazu ZOB, Großraumdisco: Bergedorf soll eine neue Stadtmitte aus Stahlbeton und Glas bekommen, dem Markenzeichen von Hochtief. Doch es regt sich Protest, Hamburgs erster Bürgerentscheid droht.

Bergedorfer zeigen neuem Mega-Einkaufszentrum die Rote Karte

Tatsächlich sind die Pläne zum Start ins neue Jahrtausend bereits sehr konkret – und werden dann zu einer echten Zerreißprobe für Bergedorfs Bürger, Politik und Geschäftswelt. Befürworter sehen in dem Investment eine einmalige Chance für die Fortentwicklung Bergedorfs. Gegner fürchten den Entwurf, den Hochtief baugleich auch an zahlreichen anderen Standorten realisieren will. Sie sehen ihn als seelenlos und viel zu groß. Es formiert sich Widerstand, eine Bürgerinitiative rund um Sprecher Hartmut Falkenberg gründet sich. Und dann wird der Streit um Bergedorfs ZOB zu einer echten politischen Premiere für ganz Hamburg.

ZOB Bergedorf
So sahen die 150 Millionen Euro teuren Pläne des Baukonzerns für die Umgestaltung des alten Bergedorfer ZOBs zur „Neuen Mitte Bergedorf“ aus: Auch ein neuer Bahnhof sollte entstehen – und das gesamte Areal jenseits der Bergedorfer Straße bis zu den Stuhlrohrhallen mit einbezogen werden. © Matthias Jüschke | Matthias Jüschke

Nur wenige Monate zuvor ist in der Hansestadt die rechtliche Grundlage für mehr direkte Demokratie gelegt worden. Seitdem gehört die Initiierung von Bürgerentscheiden zur festen politischen Kultur in Hamburg. Und die „Neue Mitte Bergedorf“ bietet die perfekten Voraussetzungen, um als Hamburgs erster Bürgerentscheid in die Geschichtsbücher einzugehen. Die Bürgerinitiative nutzt die Chance, auch wenn das komplizierte Verfahren für alle Neuland ist. Doch die Gegner des Projekts bündeln ihre Kräfte – und meistern alle Hürden für Hamburgs ersten Bürgerentscheid.

Bergedorfs Kaufhäuser Karstadt, Woolworth und auch Marktkauf gegen neue Konkurrenz am Bahnhof

Der fordert nun die Verwaltung: Um die Stimmenabgabe Ende April 2000 korrekt durchzuführen, sollen die Bürger ihre Zustimmung oder Ablehnung in neun Abstimmungslokalen abgeben. Neben dem Votum für oder gegen das ZOB-Zentrum gibt es eine Stichfrage, die das weitere Prozedere regelt, falls es keine klare Mehrheit geben sollte. Es folgen Marktstände, Informationsabende und Plakate – die teilweise wegen irreführender Inhalte wieder abgenommen werden müssen. Wahlkampf außerhalb der politischen Wahlen, das gab es noch nie.

Bürgerentscheid Bergedorf 2000
Iris und Maik von Heinemann lassen sich im April 2000 von Lutz Eilrich und Hartmut Falkenberg (v. l.) über den Bürgerentscheid gegen das Hochtief-Projekt auf dem Bergedorfer ZOB informieren. © bgz | Ulf-Peter Busse

Unterstützt werden die Hochtief-Pläne vor allem von SPD und CDU. Mitte März 2000 formiert sich dann auch die Unterstützung aus Teilen der Wirtschaft. Unter Führung von Optiker Klaus Binnewies und Klaus Derndinger, Inhaber des Baumarkts Behr, treten verschiedene Bergedorfer Geschäftsleute öffentlich auf den Plan, um das 150 Millionen Mark teure Großprojekt zu unterstützen. Doch auch die Wirtschaft bleibt uneins. So rufen kurz darauf unter anderem Karstadt, Marktkauf und Woolworth gegen die Neubaupläne auf – was wiederum für Unverständnis bei den Befürwortern sorgt: „Gerade die, die in den schlimmsten Bausünden wirtschaften, warnen jetzt vor angeblichen Bausünden am Bahnhof“, zitiert die bz die Bau-Experten von SPD und CDU. Der Ton wird schärfer.

Nur wenige Bergedorfer in den Abstimmungslokalen: Viele haben ihr Votum per Brief abgegeben

Doch während Bürgerinitiative, Politik und Wirtschaft bis zum Schluss um Unterstützung für ihre Standpunkte kämpfen, verläuft der eigentliche Abstimmungstag verhältnismäßig ruhig. Die bz berichtet am 26. April, dass die eigentliche Abstimmung am Vortag sehr verhalten erfolgt sei. 30.000 der insgesamt 82.000 Stimmberechtigten hatten ihr Votum schon per Briefwahl abgegeben. Tatsächlich bleiben die Wahllokale am Tag der Abstimmung überwiegend leer. Doch das Ergebnis ist eindeutig: Mit 59,7 Prozent lehnt eine Mehrheit der Bergedorfer die Hochtief-Pläne ab.

ZOB Bergedorf
Blick über den alten Bergedorfer ZOB zum ehemaligen Bahnhof. So sah das Areal im Jahr 2000 aus – fotografiert vom damals noch stehenden CCB-Parkhaus aus. © Busse | Busse

Der Senat verspricht, das Votum zu akzeptieren und damit „konstruktiv umzugehen“. Was das bedeutet und wie es rund um den ZOB nun weitergehen soll, darüber diskutiert fortan ein runder Tisch – „auf Augenhöhe und ergebnisoffen“, wie es heißt. Und er nimmt schnell seine Arbeit auf. Doch ebenso schnell wird klar, dass hier sehr unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, ein Kompromiss gar nicht so leicht zu finden ist.

Teures Ende der gescheiterten Planungen: Konzern Hochtief will Schadensersatz in Millionenhöhe

„Beschaulichkeit kontra Zentrumsfunktion“, bringt es die Bergedorfer Zeitung am 14. Dezember auf den Punkt. Da hat der runde Tisch bereits dreimal getagt. Ohne Ergebnis. Tatsächlich soll es noch Jahre dauern, bis in der zweiten Hälfte der Nullerjahre endlich die Bagger rollen. Das Ergebnis ist heute rund um den neuen Bergedorfer Bahnhof zu sehen. Das dicke Ende der gescheiterten Planung kommt dagegen schon im Jahr 2000 auf Bezirksamt und Senat zu: Mitte Juni titelt die Bergedorfer Zeitung, dass Hochtief jetzt von der Stadt Schadenersatz in Millionenhöhe für seine Planungsleistungen fordert.

Nach Überzeugung der Kritiker übertrug der Konzern Hochtief mit der „Neuen Mitte Bergedorf“ nur seine in vielen Städten realisierten Shopping-Zentrum-Planungen nur auf den ZOB. Ob die Flächen tatsächlich vermietbar waren und über diese Einnahmen auch noch die Baukosten wieder einspielen, sei den Managern egal.
Nach Überzeugung der Kritiker übertrug der Konzern Hochtief mit der „Neuen Mitte Bergedorf“ nur seine in vielen Städten realisierten Shopping-Zentrum-Planungen nur auf den ZOB. Ob die Flächen tatsächlich vermietbar waren und über diese Einnahmen auch noch die Baukosten wieder einspielen, sei den Managern egal. © dpa | A3276 Martin Gerten

Während Bergedorf anno 2000 kontrovers über seinen Bahnhof diskutiert, ist man in Reinbek, Wentorf und Aumühle deutlich weiter. Im Zuge der Ertüchtigung der Bahnstrecke Hamburg–Berlin zum Ende des ersten Jahrzehnts der Wiedervereinigung ist die Bahnstrecke jetzt eine Großbaustelle. Der Schienenverkehr rollt nur eingeschränkt, die Bahnhöfe werden neu gebaut – aus zwei Gleisen auf dem Bahndamm werden vier.

Bahnlinie Hamburg-Berlin wird viergleisig ausgebaut – erhebliche Behinderungen im S-Bahn-Verkehr

Die bz berichtet regelmäßig vom Fortschritt der einzelnen Bauabschnitte. Für 7,6 Millionen Mark wird auch der Reinbeker Bahnhof saniert. Doch den Wermutstropfen erfahren die Reinbeker am 14. Januar aus ihrer Zeitung: Künftig halten alle Züge nur noch am Mittelbahnsteig, der barrierefreie Hausbahnsteig entfällt – trotz 1800 Unterschriften, die sich für den Erhalt ausgesprochen hatten.

Bahnhof Aumühle
Viergleisiger Ausbau der Trasse Hamburg-Berlin für getrennten Verkehr von Fern- und S-Bahn-Verkehr im Bahnhof Aumühle. © guetschow | guetschow

In Wohltorf entzweit dagegen ein riesiger Graben das Ortsbild: Hier sollten im Frühjahr eigentlich die Arbeiten an der neuen Bahnunterführung auf die Zielgerade gehen – wenn nicht Unerwartetes zutage gekommen wäre. So berichtet die Bergedorfer Zeitung am 19. Januar über einen vier Tonnen schweren Findling in der Erde, der sämtliche Arbeiten ausbremse. Den Gesamtzeitplan wirft der aber nur marginal durcheinander. Und Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt (SPD) bringt Mitte Februar sogar zusätzliche Tempo ins Projekt: Er gibt zusätzliche 800 Millionen Mark aus dem lange umstrittenen und jetzt gescheiterten Transrapid-Projekt frei, um noch innerhalb des Jahres 2000 die Strecke zwischen Hamburg und Berlin so weit zu ertüchtigen, dass Züge hier mit Tempo 200 fahren können.

CDU-Spendenaffäre: Altkanzler Kohl schweigt zu den Geldgebern – und kommt damit durch

Doch das Jahr 2000 steht nicht nur für Fortschritt, sondern auch für einen der größten Politikskandale der Bundesrepublik: Die Spendenaffäre stellt die CDU völlig auf den Kopf. Es geht um illegale Parteispenden, nicht ausgewiesene Spender und den 1998 als Kanzler abgewählten Helmut Kohl, der zu all dem schweigt. So titelt die bz bereits am 4. Januar: „CDU immer tiefer im Spendensumpf. Ermittlungen gegen Helmut Kohl laufen“. Und am 18. Januar folgt die Frage: „Rollen noch heute die ersten CDU-Köpfe?“. Doch das passiert am Ende nicht. Im Gegenteil: Eine Woche später berichtet unsere Zeitung: „Kohl bleibt rechtlich unbehelligt – doch Herkunft von zwölf Millionen Mark weiter ungeklärt.“

Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl (l.) nimmt zusammen mit dem CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble und der Generalsekretärin Angela Merkel Ende November 1999 an einer Pressekonferenz zur CDU-Spendenaffäre teil.
Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl (l.) nimmt zusammen mit dem CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble und der Generalsekretärin Angela Merkel Ende November 1999 an einer Pressekonferenz zur CDU-Spendenaffäre teil. © dpa | A2955 Wolfgang Kumm

Der Skandal kocht weiter und sorgt für reichlich Schlagzeilen. Mitte Februar zieht immerhin Wolfgang Schäuble die Konsequenzen und tritt als Vorsitzender der CDU und ihrer Bundestagsfraktion zurück. Er macht damit den Weg frei für einen Neuanfang. Der erst 44-jährige Friedrich Merz tritt die Schäuble-Nachfolge als Fraktionschef an. Am 21. März folgt die zweite Personalie – „Merkel soll Parteichefin werden“, titelt die bz. Für beide stellen sich damit im Jahr 2000 die Weichen für die Zukunft.

Nachfolger für Peter Walter: Neuer Bürgermeister von Geesthacht wird Ingo Fokken

Auch im Geesthachter Rathaus beginnt eine neue Ära: Ingo Fokken wird mit 40 Jahren neuer Bürgermeister. Der unbekannte Kandidat aus dem friesischen Versmold kann sich überraschend gegen den Geesthachter Samuel Bauer durchsetzen und tritt im April die Nachfolge von Peter Walter an. Fokken soll zehn Jahre lang die Geschicke im Rathaus der Elbestadt prägen. Er stirbt 2010 kurz nach seinem 50. Geburtstag völlig unerwartet bei einer Golfpartie in Escheburg an einem Herzinfarkt.

2000 blickt die ganze Welt auf Hannover: Ab Juni lädt die niedersächsische Landeshauptstadt zur Expo 2000 ein. Zunächst sorgt die Weltausstellung nur für überschaubare Resonanz – so titelt die bz am 7. Juni: „Der Preis ist nicht das Problem“ und schreibt von einer Entlassungswelle beim Personal wegen Besuchermangel sowie von der Forderung, schnell den teuren Eintrittspreis von 69 Mark deutlich zu senken. Das passiert zwar nicht. Doch die Faszination der Expo spricht sich langsam herum. „Die Expo 2000 kommt in Schwung“ titelt die bz am 5. August. Es wird immer voller auf dem Messegelände und im Deutschen Pavillon. Dessen Chef, Prof. Claus Groth, ist übrigens gebürtiger Bergedorfer, wie unsere Zeitung berichtet. Am Ende zählt die Ausstellung immerhin 18 Millionen Besucher, ursprünglich erwarteten worden waren 40 Millionen.

Absturz der Concorde in Paris – und in Reinbek trainiert die Deutsche Fußballnationalmannschaft

Die Katastrophe des Jahres ereignet sich am 25. Juli um kurz vor 17 Uhr. Direkt nach dem Start stürzt bei Paris eine vollbesetzte Concorde ab. 113 Menschen sterben bei der Explosion des Überschalljets – fast alle Insassen sind deutsche Touristen auf dem Weg in den Urlaub. Es ist der Anfang vom Ende des Linienflugverkehrs mit Überschall. Alle Zeitungen berichten groß über den Absturz — nur die Bergedorfer nicht. Der ist der Absturz lediglich einen kleinen Zweispalter wert – was intern für große Diskussionen in den nächsten Tagen gesorgt hat. In Zeiten von Online-Medien heute undenkbar.

Rudi Völler beim Training
Wird am 16. August 2000 Teamchef und kommt knapp zwei Wochen später mit der Deutschen Fußballnationalmannschaft nach Reinbek: Rudi Völler beim Training auf dem Platz der TSV Reinbek. © DPA Images | Stefan Hesse

Gleich ein ganzes Haus voller Promis hat das Waldhaus Reinbek Ende August zu vermelden. Mehrere Tage steht das Hotel am Waldrand unter Polizeischutz – schließlich ist die gesamte Fußballnationalmannschaft angereist. Unter der Überschrift „Bundestrainer prüft Rasengüte“ berichtete die bz schon am 24. August über die Vorbereitungen. Dafür nimmt der neue Teamchef Rudi Völler nämlich tatsächlich die Trainingsplätze der TSV Reinbek in Augenschein. Sechs Tage später berichtet die bz über den Trainingsauftakt – und über geduldiges Autogrammeschreiben von Völler und Stars wie Oliver Bierhoff und Oliver Kahn. Die Vorbereitung in Reinbek sollen sich lohnen – die Nationalelf siegt beim Länderspiel gegen Griechenland mit 2:0 im Volksparkstadion.

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Und noch ein ganz anderes Phänomen prägt in den ersten Monaten des Jahres 2000 unsere Zeitung: Täglich, zum Teil gleich auf mehreren Seiten, schalten die konkurrierenden Mobilfunkanbieter Vodafone und Mannesmann ganzseitige, farbige Anzeigen unter dem Motto „Ja, ich tausche“. Hintergrund: An der Börse tobt eine gigantische Übernahmeschlacht um die Aktienmehrheit im Zukunftsfeld Mobilfunk – und mithilfe der Anzeigen sollen die Kleinaktionäre vom Verkauf ihrer Anteile überzeugt werden. Weil das für die gesamte Presselandschaft in Deutschland gilt, wird die Aktion zur teuersten Anzeigenkampagne aller Zeiten.

Vodafone setzt sich am Ende durch – und übernimmt D2 Mannesmann. Hauptgewinner sind am Ende aber die Tageszeitungen – die teuren Anzeigen sorgen für opulente Zusatzeinnahmen in den ersten beiden Quartalen 2000 und machen das Jahr zu einem hochprofitablen Jahr für die Medien – bevor die Presselandschaft im neuen Jahrtausend mehr und mehr in schwierige Zeiten rutschten soll.