Hamburg. Panik zum Millennium: 1999 bedroht ein Programmierfehler das junge Internet und fast den kompletten Alltag. Doch es kommt ganz anders.

Wird die Welt untergehen? Weil alle Computersysteme plötzlich versagen? Das sogenannte Y2K-Syndrom, der gefürchtete Millenium-Bug in seiner schlimmsten Form, mit abstürzenden Flugzeugen, falsch ausgelösten Nuklearwaffen, dem Einbruch der Aktien- und Devisenmärkte plus einer eventuellen Zahlungsunfähigkeit der Banken? Ausnahmezustand, Revolten und Gewalt auf den Straßen? Steht der Weltuntergang konkret am 11. August bevor, als die Mittagssonne plötzlich verschwindet?

Die Antwort lautet, wie wir alle mittlerweile wissen: klares Nein. Obgleich die Bergedorfer Zeitung am 28. Januar 1999 kurioserweise das Ende der Welt quasi genau 100 Jahre später ankündigt, im Titelaufmacher „2099 etwa sechs Meter unter Wasser“. Der Bericht beschäftigt sich mit den Erkenntnissen von neuseeländischen Forschern, die Auswirkungen einer Polschmelze infolge der Erderwärmung prognostizieren: „Der Einfluss des Klimawechsels ist an den Polen doppelt so groß wie im Erddurchschnitt“, heißt es in dem Agenturbericht, der außerdem noch eine „Mini-Eiszeit in Europa“ voraussagt, sollte sich die Atmosphäre weiterhin so erwärmen.

Serie 150 Jahre bz: 1999 grassiert Angst vor Computerpannen zur Jahrtausendwende

Zurück zum Jahr-2000-Problem: Ist das eine reale Bedrohung? Auch unsere Zeitung beschäftigt sich damit, so zum Beispiel in einer Titelgeschichte vom 9. August 1999, in der es um Sicherheitsprobleme im Geesthachter Kernkraftwerk Krümmel geht. Dort sei der „Datenumsprung“ simuliert worden. Mit bedenklichem Ergebnis: Kernüberwachungs- sowie Abgasrechner hätten „verrückt“ gespielt. Ein enormes Sicherheitsproblem, das eigentlich einen „Krümmel-Notstopp“ nach sich ziehen müsste?

Blick ins Innere des Atomreaktors Krümmel: Mitarbeiter des Kernkraftwerks warten im Reaktorsicherheitsbehälter die Anlagen.
Blick ins Innere des Atomreaktors Krümmel: Mitarbeiter des Kernkraftwerks warten im Reaktorsicherheitsbehälter die Anlagen. © dpa | A3417 Ulrich Perrey

Auch die Bergedorf-Redakteure machen sich am 20. September Gedanken um Systemabstürze, PC-Ausfälle, dunkle Bildschirme. Sie schauen bei EDV-Dienstleistern und Programmentwicklern vorbei. Die sehen zum Glück nicht ganz so schwarz in puncto Jahrtausendwende, sehen die Umstellungsproblematik eher bei „kleineren Familienbetrieben und mittelständischen Unternehmen“, die sich vor ein paar Jahren speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Computerprogramme gesichert haben. Problem nur: Die damaligen Programmierer seien nun nicht mehr auffindbar.

Klimawandel? Felder in den Vier- und Marschlanden stehen unter Wasser

Was drohte nach Expertenansicht wirklich im „Worst Case“? Offenbar verweigerte sich die interne Echtzeituhr in PCs, auf das Jahr 2000 umzuspringen, was den Austausch ganzer Hardware-Systeme erforderte. Sortierungsmechanismen, die beispielsweise nur Endziffern berücksichtigen (00 für das Jahr 2000 zuerst, 99 für 1999 zuletzt), hätten ohne Updates für Chaos bei Abrechnungen und Ähnlichem geführt. Der Jahreswechsel verlief dann aber fast problemlos: In den USA fielen 150 Spielautomaten an Rennbahnen in Delaware aus, der offizielle Zeitmesser „United States Naval Observatory“ in den USA spielte online das Jahr 19100 aus. In Australien sollen zwei Fahrkartenentwerter den Geist aufgegeben haben. Viel Wirbel um fast nichts.

Computer waren zum Jahrtausendwechsel noch massive Geräte mit ebenso riesigen Bildschirmen.
Computer waren zum Jahrtausendwechsel noch massive Geräte mit ebenso riesigen Bildschirmen. © fotovzgbzgh

Wenn schon die Computer uns nicht zugrunde richten, dann der Klimawandel? Im Frühjahr 1999 stehen die Felder in den Vier- und Marschlanden unter Wasser, weil es im Vorjahr Rekordmengen herabregnete – 1000 Milliliter Regen fielen innerhalb von zwölf Monaten anstelle der üblichen 600 Milliliter im Jahresdurchschnitt. Bauern im Landgebiet fürchten Ertragseinbußen bei Raps und allen möglichen Getreidearten ob des viel zu nassen Wetters, weil bei diesen Bodenverhältnissen auch nichts gesät oder gepflanzt werden kann. „Pfützen statt Pflanzen auf dem Feld“, so ein Bericht in der Ausgabe vom 9. März.

Menzer und Grube: Gleich zwei Bergedorfer Werften geben auf

Der Systemabsturz blieb aus – kommt eine Wirtschaftskrise? Es deutet sich im Jahresverlauf ein Werften-Sterben an: Die Menzer Werft, über ein Jahrhundert lang verlässlicher Partner beim Bau von Polizei-, Zoll- und Alsterschiffen, kündigt zum Jahresende die Schließung des Betriebs am Curslacker Neuer Deich an. Als einen wesentlichen Grund nennt der damalige Chef des 110 Jahre alten Familienunternehmens, Ernst Menzer, dass die Bergedorfer nicht mit der Konkurrenz preislich mithalten konnten – trotz Anpassungsversuchen: „Die Kalkulationen aus Bergedorf lagen immer noch 18 Prozent über den Angeboten aus Ostdeutschland“, erklärt Redakteur Mark Schneider den Niedergang von Menzer. Zum Schluss beschäftigte das Unternehmen noch zwölf Mitarbeiter.

Die Krise der Grube-Werft ist gemeistert. Jetzt heißt die Oortkatener Werft Spezial-Schiffbau (SSB): Jens Wrage vom Hadag-Vorstand (li.) und SSB-Geschäftsführer Klaus Schlünzen vor einer im Bau befindlichen Fähre in der Werfthalle.
Die Krise der Grube-Werft ist gemeistert. Jetzt heißt die Oortkatener Werft Spezial-Schiffbau (SSB): Jens Wrage vom Hadag-Vorstand (li.) und SSB-Geschäftsführer Klaus Schlünzen vor einer im Bau befindlichen Fähre in der Werfthalle. © Schwirten Schwirten | Schwirten Schwirten

Wenige Wochen später berichtet bz-Redakteur Wolfgang Rath vom nächsten Niedergang einer Traditionswerft. In Ochsenwerder hat die Grube-Werft Insolvenz am 29. Juli 1999 angemeldet, hier bangen 58 Mitarbeiter um ihren Job. Auch hier soll der Preiskampf der Ost-Werften einer der Hauptgründe für das Aus sein – ein weiteres „Opfer des knallharten Wettbewerbs“?

Doch noch eine Wende am Oortkaten-Hafen

Nicht so ganz, sagt der ehemalige Mitinhaber der Werft, Klaus Schlünzen. Der erhebt am 29. Oktober in unserer Zeitung schwere Vorwürfe gegen seinen ehemaligen Geschäftspartner. Der soll mindestens 4,6 Millionen Mark aus dem Ochsenwerder Unternehmen in andere Familienfirmen umgeleitet haben. Ergo: „Nicht der Wettbewerb, sondern der Kapitalabfluss habe zum Konkurs des einst 58 Mitarbeiter zählende Unternehmen geführt.“

Kurz vor Weihnachten die Wende am Oortkaten-Hafen: Schlünzen darf zum 1. Februar 2000 hauptverantwortlich weitermachen und ein neues Unternehmen für „Um- und Neubauten für Spezialschiffe“ gründen, weil eine Auffanggesellschaft eingesetzt wird. Nach damaligem Stand können auch 34 Arbeitsplätze gerettet werden.

Geesthacht: Kaufhaus Nessler eröffnet im ehemaligen Hertie-Gebäude

Überhaupt: Es gibt im Jahr 1999 viele gute Nachrichten aus der Wirtschaft. So darf sich Geesthacht vom 15. Juni an im alten Hertie-Gebäude über das runderneuerte Kaufhaus Nessler freuen. Geschäftsführer Matthias Timm (sitzt bis zum heutigen Tag auf diesem Posten) versprach schon Wochen vor der Eröffnung, dass „kaum etwas so bleiben wird, wie es einmal war“. Babykleidung, Spielsachen, Haushaltswaren, aktuelle Mode, Elektronik und sogar ein Friseur – das Ahrensburger Unternehmen lässt sich die Investition eingangs der Geesthachter Bummelmeile zehn Millionen Mark kosten. Nessler beschäftigt auf 4500 Quadratmetern etwa 80 Mitarbeiter.

Neu und definitiv nützlich, weil es von nun an von hier fast innerhalb einer Viertelstunde ins Hamburger Zentrum geht: Am 30. Mai wird der S-Bahnhof Allermöhe eingeweiht. Die Station hat 34 Millionen Mark gekostet und bietet als erste eine kombinierte Notruf- und Infosäule an, die auf Knopfdruck helfen kann. Der entscheidende verkehrstechnische Aspekt: „In nur 16 Minuten in die City“ sei nun für alle S-Bahnfahrer möglich, berichtet die bz.

Strahlend steigt der Bausenator aus dem Sonderzug, mit dem er anreiste.
Strahlend steigt der Bausenator aus dem Sonderzug, mit dem er anreiste. © Klaus Bodig

Dieser neue S-Bahnhalt bietet auch Diskussionspotenzial: Wieso eigentlich „Allermöhe“? Fragt sich so mancher schon im vorweg der Einweihung. Nicht ganz zu Unrecht, denn die Station ist auf Billwerder Gebiet angesiedelt. Liegt wiederum im Stadtteil Neuallermöhe-West. Historisch betrachtet liegt sogar die Flurstückbezeichnung „Kamerun“ vor... Verwirrung komplett? Der bz-Redakteur meint damals: „Dann ist Allermöhe doch unverfänglicher.“

Sternwarte in Bergedorf: Wolken verdecken Sicht bei Sonnenfinsternis

Sehr, sehr viel Beachtung bekommt das Naturspektakel, das einem Jahrhundertereignis gleichen soll und die Milleniumsängste fast vergessen macht: Der Mond schiebt sich am 11. August 1999 für ein paar Minuten vor die Sonne. Das Phänomen Sonnenfinsternis – und auf der Bergedorfer Sternwarte rasten sie völlig aus? Nicht so ganz, wie Lokalredakteurin Anne Strickstrock beobachtet: „Zu viele Wolken bedeckten den Bergedorfer Himmel“, nur für ein paar Augenblicke sei die Sichelform zu sehen gewesen, die „nicht sonderlich farbenprächtig“ daher gekommen sei. Und dann ist bei dem Ansturm auf die Anhöhe der Sternwarte auch noch das dritte Teleskop kaputt!

Vom Satelliten Eumetsat am Mittwoch, 11. August 1999 um 12.30 Uhr aufgenommen, zeigt sich in der Mitte des Bildes der Mondschatten der totalen Sonnenfinsternis über Mitteleuropa.
Vom Satelliten Eumetsat am Mittwoch, 11. August 1999 um 12.30 Uhr aufgenommen, zeigt sich in der Mitte des Bildes der Mondschatten der totalen Sonnenfinsternis über Mitteleuropa. © dpa | -

Unsere Zeitung hat auch noch weitere Mitarbeiter losgeschickt, um nachzuprüfen, wie der „Sofi“-Hype wirkt. Im Sachsentor und an anderen publikumsträchtigen Plätzen herrscht gähnende Leere: „Kleiderständer, Schuhregale, Schaufensterauslagen – fast zweieinhalb Stunden bleiben sie unbeobachtet.“ Und wie geht es den Tieren mit dem Naturereignis? „Die Wildkaninchen sitzen ganz still vor ihrem Häuschen“, heißt es aus einem Tiergehege am Reinbeker Redder.

Einsturzgefahr Hinterm Graben: Drei Häuser müssen geräumt werden

Wenn schon nichts abstürzt, dann doch dies: „Einsturzgefahr! Betreten des Grundstücks verboten!“ Das ist die Nachricht, die das Bezirksamt am 10. Dezember an die Hauseingänge Hinterm Graben 4, 6 und 8 anbringt. Statikern sei bei diesen drei Häusern mit insgesamt 18 Wohnungen „bei der Untersuchung der Grundmauern das Blut gefroren“, so Bergedorf-Lokalmann André Herbst, der von immensen Hohlräumen zwischen Mauerwerk und Außenräumen weiß. Nun müssten die Bewohner innerhalb kürzester Zeit ihr Zuhause räumen, sonst werde das Gebäude zwangsgeräumt – doch das schmeckt nicht allen. Vor allem die Eile der Anweisung wird von den Zuhausegebliebenen kritisiert. Im Bergedorfer Bauamt hingegen ist der Sachverhalt um die Mietskasernen-Bauten aus den 1930er-Jahren klar: „Die Gebäude sind nicht mehr zu retten“, sagt Eckhard Kolwa aus der Bauprüfabteilung.

Zwei Bluttaten erschüttern 1999 Bergedorf. Eine 35 Jahre alte Verwaltungsangestellte einer Optiker-Kette wird am 9. März von ihrem Ex-Partner erschossen – an ihrem Arbeitsplatz vor den Augen ihrer Kollegen. Zunächst soll der Mann aus Groß Borstel noch ganz normal mit seiner ehemaligen Partnerin geredet haben: „Es sah nach einem harmlosen Besuch im Büro aus, doch dann zog Karl-Heinz H. den Revolver“, berichten Christina Rückert und Wolfgang Rath. Der Täter lässt sich widerstandslos festnehmen.

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Ein Familiendrama am Wochenende des 26. und 27. Juni 1999 nimmt an der Häuslerstraße in Lohbrügge seinen Ausgang. Dort erschießt der Wirt (36) der „Patzhöfer Bierstube“, eine Kneipe in der Bergedorfer Bahnhofsvorhalle, zunächst den schlafenden Vater (59). Dann fährt er mit seiner Mutter (55), die offenbar mit in den Mordplan verstrickt war, in den Reinbeker Stadtteil Büchsenschinken an einen Feldweg, erschießt ihren Hund, seine Mutter und anschließend sich selbst.

Womit HSV-Trainer Pagelsdorf seinen Stars in Geesthacht drohte

Erklärungen gibt es zunächst keine. Streitigkeiten wollen die Nachbarn an der Häuslerstraße nicht bemerkt haben, auch in der Kneipe, die Mutter und Sohn zusammen managten, gibt es keine Auffälligkeiten. Der Haupttäter hinterlässt Frau und zwei kleine Töchter. Ein Nachbar des ermordeten Vaters sagt: „Wenn sie Probleme hatten, dann haben sie die nach außen hin gut kaschiert.“ Die Redaktion hört aber von Gerüchten, etwa über eine eventuelle Geliebte des 59-jährigen Vaters, auch über finanzielle Probleme mit der Schankwirtschaft im Bahnhof. Erhärten lässt sich das Ganze zunächst nicht.

Unzufrieden: HSV-Trainer Frank Pagelsdorf am Spielfeldrand – hier 2001 nach einer Partie gegen Kaiserslautern.
Unzufrieden: HSV-Trainer Frank Pagelsdorf am Spielfeldrand – hier 2001 nach einer Partie gegen Kaiserslautern. © Moenkebild | Moenkebild

Abschließend noch Apokalyptisches aus dem Sport. Nein, nicht von den wirklich furchtbaren Auftritten der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, den viel zitierten „Rumpelfüßlern“ unter Bundestrainer Erich Ribbeck. Die hatten zu der Zeit auch schlimme Ergebnisse, aber kein derartiges: 0:9 daheim an der Berliner Straße. Fußball-Siebtligist VfL Geesthacht bezieht im Test ordentlich Prügel, allerdings gegen den großen HSV, damals noch als Bundesliga-Dino mit Coach Frank Pagelsdorf und Stars wie Fünffach-Torschütze Martin Dahlin angereist. Im Spielbericht vom 8. Februar schreibt Volker Gast von den Anstrengungen der Gastgeber, den Witterungsbedingungen zu trotzen. Denn um das Match überhaupt möglich zu machen, mussten zwei Stunden vor dem Anpfiff noch Schneemassen vom Sportplatz geräumt werden. Kommentar Pagelsdorf dazu: „Wenn wir hier heute verloren hätten, dann hätten meine Jungs auch noch eine Runde Schnee schippen müssen.“