Hamburg. Der Bau des Sportforums 1998 ist ein Krimi, an dem der Verein beinahe bankrott geht. Der Erfolg ist eng mit einem Namen verbunden.
Fit, schlank, sportlich und sexy, das entsprach schon immer dem Zeitgeist, heute genauso wie im Jahr 1998, von dem der heutige Teil unserer Serie „150 Jahre Bergedorfer Zeitung“ handelt. Niemand bediente dieses Ideal so gut wie die TSG Bergedorf, die sich damals durch zwei Großprojekte entscheidend von den übrigen Sportvereinen absetzte. Zum einen entstand am Billwerder Billdeich 607 mit dem Sportforum das neue Vereinszentrum. Zum anderen bediente die TSG mit dem Bau des Trendsport-Centers in Wentorf auch die jüngere Klientel.
Wer heute 25 oder 26 Jahre alt ist, sollte sich über den Zeitpunkt seiner Geburt nicht allzu sehr wundern. Das Jahr 1998 war eine erotisch enorm aufgeladene Zeit. Zum letzten Mal für zwei Jahrzehnte sollte die Geburtenrate in Deutschland an der magischen Grenze von 800.000 Kindern kratzen.
TSG Bergedorf – Kometenhaftem Aufstieg folgt Beinahe-Bruchlandung
Apropos „kratzen“: Die neue Lust an der Verführung treibt seltsame Blüten. Auf der London Fashion Week 1998 präsentiert der britische Avantgarde-Designer Andrew Groves ein Kleid, das aus Hunderten von scharfen Rasierklingen besteht. Wie lange er wohl gebraucht hat, um ein Model zu finden, das sich in den knappen Fummel wagt?
Noch knapper bekleidet, nämlich nur in Unterwäsche, räkelt sich Topmodel Claudia Schiffer in unserer Zeitung und verrät, dass sie ihren Körper mit Nussschokolade in Form bringt (Wer’s glaubt, wird selig!). Und auch in den nächtlichen Schlafzimmern recherchieren unsere Reporter an vorderster Front. Bei Frauenunterwäsche sei Weiß für sie und ihn die bevorzugte Farbe, wissen wir zu berichten. Doch während er sie in knappen, scharfen Sachen sehen möchte, mag sie es bequem. Wie ist es da bloß zur hohen Geburtenrate gekommen?
Die TSG Bergedorf verbindet Körperkult mit dem Ideal lebenslanger Gesundheit
Die 1990er-Jahre sind die Zeit des Aufstiegs der TSG Bergedorf zum Großverein. Die Strategie ist ebenso einfach wie genial: Fit, schlank, sportlich und sexy, das ist schön und gut, aber die TSG Bergedorf verbindet dieses Ideal mit einer noch viel größeren Idee: lebenslange Gesundheit durch Bewegung. Das hat sich die TSG bis heute auf die Fahnen geschrieben. Dazu passt auch ihr Vereinsslogan „Wir bewegen Bergedorf“ sehr gut. „Viele Menschen in Fitnessstudios laufen einem Schönheitsideal hinterher“, weiß der TSG-Vorsitzende Boris Schmidt. „Aber diese Klientel war bei uns nie so ausgeprägt.“
Die Konzentration auf Gesundheitssport wird zur Erfolgsgeschichte. Doch wie hat das alles angefangen? Die entscheidende Zäsur in der Vereinsgeschichte ist der 1. Juli 1987, als eben jener Boris Schmidt, damals ein 24 Jahre alter Student der Sporthochschule Köln, den Posten des hauptamtlichen Geschäftsführers übernimmt. Der aus Harburg stammende Schmidt beerbt Käthe Peck, die mehr als zwei Jahrzehnte die Vereinsführung innegehabt hat.
Gesundheitssport statt „Muckibude“, das ist die Marktlücke der TSG Bergedorf
Der neue Mann an der Vereinsspitze hat eine verwegene Idee: Er will ein vereinseigenes, gesundheitsbezogenes Fitnessstudio bauen, dessen Betriebskosten sich allein durch die Mitgliedsbeiträge tragen sollen. Angesichts der Konkurrenz durch kommerzielle Fitnessanbieter, die klassischen „Muckibuden“, hofft Schmidt, für die TSG eine Marktlücke entdeckt zu haben. Doch die Investitionskosten von 1,3 Millionen D-Mark sind gewaltig.
Mit Schmidt ist ein Paradigmenwechsel in die TSG-Führung eingekehrt. Peck fuhr wirtschaftlich stets einen risikoarmen Kurs, dabei erreichte sie aber durch Ausweitung des Sportprogramms mit neuen Angeboten wie Hockey, Fechten oder Seniorensport eine Verdopplung der Mitgliederzahlen. Von 2700 Sporttreibenden im Jahr 1966 wuchs die Zahl der TSG-Mitglieder unter ihrer Führung bis zum Jahr 1989 auf 5500 an.
Das Fitnessstudio am Bult ist auf Anhieb ein Erfolg
Boris Schmidt will mit dem Verein nun in ganz andere Dimensionen vorstoßen. Er steht für einen konsequenten Wachstumskurs und geht dafür so manches finanzielle Wagnis ein. Nicht jedes geht gut aus. Seine Idee eines gesundheitsorientierten Fitnessstudios erweist sich jedoch als voller Erfolg. Nachdem der neue Geschäftsführer die Zweifler im Verein und in der Bergedorfer Politik überzeugt hat, wird im Sommer 1990 nach einjähriger Bauzeit das Fitnessstudio am Bult eröffnet. Es ist mit modernsten Geräten auf einer 300 Quadratmeter großen Sportfläche ausgestattet und verfügt zudem über einen eigenen Sauna- und Solarbereich.
Der Zuspruch ist enorm. „Das Studio war ursprünglich auf 500 Mitglieder ausgerichtet. Die hatten wir schon bei der Eröffnung, sodass es von Anfang an eine Warteliste gab“, erinnert sich Schmidt. Nach zwei Jahren hat das Studio bereits 1200 Mitglieder. Interessenten nehmen Wartezeiten von zwei Monaten in Kauf, um den obligatorischen Eingangstest zu absolvieren, bei dem der Fitnesszustand festgestellt und ein individueller Trainingsplan entwickelt wird.
Kaum ist das Fitnessstudio fertig, schmiedet Geschäftsführer Schmidt noch größere Pläne
Durch intensive Beratung durch ihre Trainerinnen und Trainer versucht die TSG Bergedorf, die hohe Absprungquote unter den Fitnessjüngern zu minimieren. In der Fitnessbranche ist es regelmäßig so, dass die Studios zu Jahresbeginn einen Boom erleben. Ist die erste Euphorie dann verflogen, steigen zum Sommer hin die Zahl der Austritte an.
Angesichts solcher Unwägbarkeiten ist es erstaunlich, dass im TSG-Vorstand nach der erfolgreichen Fertigstellung des Fitnessstudios am Bult schon relativ bald Pläne für ein noch größeres Projekt geschmiedet werden: den Bau eines Sportforums mit Schwimmbad, Fitnessstudio, Badmintonhalle, Tennishalle, Squashcourts, Gymnastiksälen, Kampfsport-Dojo, Gastronomie und einem Kindergarten. „Die Initialzündung war der Freiburger Kreis“, erläutert Schmidt. Das ist eine Arbeitsgemeinschaft großer Breitensportvereine, bei denen sich der TSG-Geschäftsführer seine Anregungen holt: „Da gab es Vereine in Süddeutschland, die Bewegungskindergärten einrichteten. Das wollten wir auch.“
Zwei Großprojekte gleichzeitig – TSG-Geschäftsführer geht finanziell volles Risiko
Die Kosten von ursprünglich 21 Millionen D-Mark werden durch den weitgehenden Verzicht auf Fenster und den Wegfall einer Sporthalle auf 17,4 Millionen D-Mark gedrückt. Davon muss die TSG Bergedorf 16 Millionen selbst aufbringen. Das ist umso schwieriger, da Vereinschef Schmidt parallel noch ein zweites Projekt angeschoben hat: Für 1,79 Millionen D-Mark wird in Wentorf eine ausgediente Sporthalle gekauft und zu einem modernen Zentrum für Trendsportarten wie Skateboard, Inlineskating oder Freeclimbing umgebaut.
Die Finanzierung beider Projekte gleichzeitig entwickelt sich zu einem Drahtseilakt, der beinahe schiefgeht. Doch wie immer geht der TSG-Geschäftsführer „all in“. Er setzt alles auf die Karte Expansion. „Wir haben uns beim Sportforum auf Rückschlagsportarten konzentriert, denn die bringen Geld“, erläutert Schmidt. „Es ging damals um die Chance, gegen die kommerziellen Anbieter in lukrativen Bereichen aktiv zu werden, mit denen man dann im Verein andere Sachen querfinanzieren konnte.“
Heute treiben 30-mal so viele Menschen Sport im Fitnessstudio wie vor 40 Jahren
Die Entwicklung der Fitnessbranche rechtfertigt das. Das Entwicklungspotenzial, das in diesem Markt liegt, scheint endlos zu sein. Gab es im Jahr 1980 noch rund 370.000 Fitnessjünger, die in etwa 1000 Fitnessstudios ihrem Sport nachgingen, so sind es heute über elf Millionen, die sich auf etwa 9000 Studios verteilen. Mit anderen Worten: Die Zahl der Fitnessanhänger ist heute 30-mal so hoch, die Zahl der Studios hingegen nur um das Neunfache gewachsen. Entsprechend stark nachgefragt sind die einzelnen Einrichtungen.
Nach 13 Monaten Bauzeit wird das TSG-Sportforum am Billwerder Billdeich am 1. Oktober 1998 eröffnet. Mehr als 40 Firmen sind an dem Projekt beteiligt, das nur mit Ach und Krach rechtzeitig fertig wird. Während draußen vor der Tür schon die ersten Sportlerinnen und Sportler warten, nehmen drinnen die Bauprüfer letzte Abnahmen vor. Ein Geländer ist mit dem falschen Radius geliefert worden. Schnell muss ein Ersatz improvisiert werden, sonst hätte niemand die Treppe ins Untergeschoss benutzen dürfen. Es ist ein Krimi, der gerade noch gut ausgeht.
Eröffnung des Sportforums der „wichtigste Tag der Vereinsgeschichte“
„Heute ist der wichtigste Tag der Vereinsgeschichte“, sagt der damalige TSG-Vorsitzende Ulrich Hafenstein vier Wochen später auf der offiziellen Eröffnungsfeier am 30. Oktober 1998. Ein Satz, der bis heute Gültigkeit besitzt. Das Sportforum ist das Herz der TSG Bergedorf, und dieses Herz schlägt auch nach einem Vierteljahrhundert noch unvermindert stark. Nicht zuletzt dank des imposanten Zentrums ist die Zahl der TSG-Mitglieder heute auf über 11.000 angewachsen. Auch unter dem heutigen TSG-Vorsitzenden Boris Schmidt hat sich ihre Zahl also verdoppelt.
An der finanziellen Belastung wäre der Verein jedoch beinahe zugrunde gegangen, auch weil sich das Trendsportcenter in Wentorf nicht wie erhofft entwickelt und schließlich in einen Bewegungskindergarten umgebaut wird. Zudem gerät die TSG im Fitnessbereich mit ihrem hohen personellen Aufwand durch Billiganbieter unter Druck. Privatkredite müssen ab 2004 die Liquidität des Vereins sicherstellen. Ein Schuldenschnitt mit den Banken rettet den Großverein schließlich 2009 vor dem Ruin. Das Grundkonzept des Sportforums allerdings funktioniert bis heute. Fit, schlank, sportlich, sexy, das entspricht noch immer dem Zeitgeist. Und dabei lebenslang gesund durch Sport, das ist das Optimum. Und wer weiß: Vielleicht ist ja so mancher, der damals geboren wurde, heute Dauergast im TSG-Sportforum.
Wiedereröffnung des Zollenspieker Fährhauses bei Milchferkel-Bratwürstchen auf Wirsinggemüse
Auch andere Projekte werden 1998 abgeschlossen oder auf den Weg gebracht, die bis in die heutige Zeit nachwirken. In Kirchwerder eröffnet das Zollenspieker Fährhaus nach einer Pause von sieben Jahren neu. Der Ansturm ist gewaltig: Über 1000 Menschen schieben sich am 21. Mai 1998 durch die neuen Räumlichkeiten lassen sich mit Gerichten wie „Milchferkel-Bratwürstchen auf Wirsinggemüse in Rahm“ bewirten.
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An der K80 atmen die Anwohner auf: Nach monatelangem Gezerre um die Kosten gibt es endlich grünes Licht für den Bau von Lärmschutzwällen im Bereich von Glinde. Die örtliche Bürgerinitiative bleibt jedoch skeptisch, und das wohl zu Recht. Wirklich gelöst ist das Problem nämlich bis heute nicht, obwohl die Straße täglich von 30.000 Fahrzeugen befahren wird. Die ursprünglich errichtete Wand ist längst wieder marode, und zudem gibt es Streit zwischen Behörden und Anwohnern um den Verkauf von Land.
Der Preis ist heiß: Shell-Chef fordert fünf Mark pro Liter Benzin
Hier zeigt sich, dass Lokalpolitik oft auch eine Frage des Timings ist. Es lässt sich nicht zweifelsfrei klären, ob erst das von Glinde errichtete Neubaugebiet oder die vom Kreis gebaute Straße fertig war. Wäre die Straße zuerst da gewesen, hätte die Stadt Glinde das Neubaugebiet vor Lärm schützen müssen. Wäre das Wohngebiet zuerst da gewesen, hätte der Kreis beim Bau der Straße für Lärmschutz sorgen müssen. So aber sind irgendwie beide zuständig – und damit letztlich keiner.
Aber kräftig Gas zu geben entspricht ja schon 1998 nicht mehr so wirklich dem Zeitgeist. Der Chef der Deutschen Shell AG, Rainer Laufs, schockt zu Jahresbeginn die Öffentlichkeit mit dem Gedanken, man könne künftig ja einfach fünf D-Mark pro Liter Benzin verlangen, dann würden sich die mit dem Autofahren verbundenen Probleme von selbst erledigen. Ein Sturm der Entrüstung erhebt sich. Allen voran geißeln Vertreter von CDU und SPD den Gedanken als „unsozial“, weil er faktisch dem „kleinen Mann“ das eigene Auto wegnehme.
Grüne fordern höheren Benzinpreis, aber verlieren gegen „Automann“ Schröder
Laufs verteidigt sich, betont, er habe im Interview mit der Zeitung „Die Woche“ auf eine hypothetische Frage hin „nur so eine Idee“ gehabt. Die Grünen nehmen den Vorschlag nur zu gern auf und verabschieden auf ihrem Parteitag in Magdeburg offiziell den Beschluss, einen Benzinpreis von fünf Mark zu fordern.
Der „Spiegel“ schreibt dazu: „Ob es um Lärm oder Flächenversiegelung, um Sommersmog oder Klimawandel, um lokale oder globale Umweltprobleme geht, immer ist der überbordende Verkehr unter den Hauptverursachern. Und alle wissen es. Für die Politik dient billiges Benzin zur Besänftigung des Volkes. Weil Benzin so billig ist, setzen sich Sparautos am Markt nur schleppend durch.“
Deutschland unter Schock: Beim ICE-Unglück von Eschede sterben 101 Menschen
Geradezu prophetische Sätze angesichts der Diskussionen, die wir heute – ein Vierteljahrhundert später! – führen. Doch sie verhallen ungehört. Der „Automann“ (Der Spiegel) Gerhard Schröder (SPD) beerbt im Oktober 1998 Helmut Kohl (CDU) als Bundeskanzler, und alles bleibt beim Alten, was die Verkehrspolitik angeht.
Hinzu kommt am 3. Juni 1998 das tragische ICE-Unglück von Eschede, bei dem 101 Menschen sterben, als beim ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ bei Tempo 200 wegen Materialermüdung ein Radreifen bricht und eine Reihe von Waggons gegen eine Brücke prallen. Es ist das größte Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik, und es hätte leicht noch schlimmer kommen können. Denn eigentlich hätte der Zug an der Unfallstelle einem entgegenkommenden ICE begegnen sollen. Doch da der Unglückszug zwei Minuten zu spät unterwegs ist, hat der andere Zug die Brücke schon passiert.
Erlebnis fürs ganze Leben: Zeitungsredakteurin wagt Tandemsprung mit dem Fallschirm
Schlagartig wird klar, wie vergänglich das Leben ist. Besser also man genießt es, lebt seine Träume. Carpe diem – nutze den Tag – schrieb schon der römische Dichter Horaz. Anne Strickstrock, Redakteurin der Bergedorfer Zeitung, nutzt einen Sommertag 1998 auf Fehmarn für ihren ersten Tandem-Fallschirmsprung: „Wir sind auf 4000 Meter, ich will ‘raus. Kopfüber, Schutzbrille drückt, Magen auch, 240 Stundenkilometer, Luft anhalten, Schock genießen, kalt, blind. Wir jagen durch eine dicke Wolke. Da sind die Äcker. Ein Riesenknall. Ruhig durchatmen: Der Schirm ist offen, wir schweben.“
Ein Erlebnis für das ganze Leben. „Hätte ich mich bloß schon früher einmal getraut“, wird Anne Strickstrock hinterher sagen. 25 Jahre später klingt das schon ganz anders: „Wieso ich mich das damals getraut habe, weiß ich auch nicht.“