Hamburg. Für die Mitglieder der Boberger Wohngemeinschaft war der Transporter ein Stück Lebensqualität. Jetzt sind sie auf den ÖPNV angewiesen.
Kenya Kühl ist von Geburt an blind. Dennoch möchte die 35-Jährige so selbstständig wie möglich leben. So geht es auch André Rademacher (47) nach seinem Schlaganfall. Beide sind im Frühjahr vergangenen Jahres in eine Behinderten-WG am Boberger Anger gezogen. Und trotz ihrer Beeinträchtigung wollen sie gern unterwegs sein: „Sonntags freue ich mich auf den Blindentreff in Winterhude“, sagt Kühl, die zuletzt auch einen schönen Ausflug zum Tierpark erinnert. Das alles aber, wie auch Tagesausflüge nach Lübeck oder Schwerin, wird künftig viel beschwerlicher: Der bislang genutzte Ford Transit steht nicht mehr zur Verfügung. Aber nicht, weil er kaputt wäre.
Am 23. März kündigte ein Brief an, dass das Fahrzeug ab Mai nicht mehr verfügbar sei. So schreibt es die BHH Sozialkontor gGmbH mit Sitz in St. Georg. Sie betreut die ambulante Wohn- und Assistenzgemeinschaft in Boberg, bietet tagsüber an sieben Tagen pflegerische Unterstützung an. Aber eben kein Auto mehr. „Wir begleiten euch weiterhin zu Terminen und Ausflügen, allerdings werden wir dafür die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen“, heißt es.
Inklusion: Behinderten-Wohngemeinschaft verliert Transporter
Das sei sehr traurig, meint Mitbewohner Andreas Staack. Er lebt schon seit 2009 in der WG: „Seither hatten wir immer einen Wagen und wurden gebracht.“ Der 57-Jährige sitzt im Rollstuhl, seitdem er als Jugendlicher im siebten Stock vom Balkon gestürzt ist – „ausgerechnet an dem Tag, an dem ich die Zusage für eine Lehrstelle erhalten hatte.“ Aus dem erträumten Beruf als Innenarchitekt wurde nichts: „Ich lag lange im Koma, da ist auch das Hirn angegriffen“, weiß Staack, der das ebenso seinen Freunden erzählt, die er im Stadtpark trifft, im Kino oder beim Steilshooper Klassentreffen.
Das alles soll er künftig mit Bus und Bahn bewerkstelligen – zumal der Aufzug am Bergedorfer Bahnhof bekanntlich oft ausfällt? „Allein zum Zollenspieker muss man mit dem Bus zweimal umsteigen“, meint Olaf Jürs, der zudem den Transit sehr schätzte, um zu Behörden und zur Physiotherapie gefahren zu werden: „Wir sind auf das Auto angewiesen, auch für den Wocheneinkauf. Das ist für uns doch Lebensqualität“, meint der 57-Jährige, der seit 15 Jahren im Rollstuhl sitzt – wegen einer Nervenentzündung („Mein Vater sagt, das käme von einem Zeckenbiss“). Der gelernte Bürokaufmann jedenfalls ist der Schriftführer in der WG, in der aktuell sechs Menschen leben.
Senatskoordinatorin für Gleichstellung kann Unmut nachvollziehen
Er erkundigte sich also bei der öffentlichen Rechtsauskunft, schrieb an das Sozialkontor und an Hamburgs Senatskoordinatorin für Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. „Ich kann Ihren Unmut absolut nachvollziehen“, antwortete deren Mitarbeiter Sven Bliesener, das bedeute eine „erhebliche Einschränkung“. Allerdings könne man leider auch kein Personal besorgen.
Denn vielleicht liegt es daran, dass niemand den Transit mehr fahren mag, glauben die Behinderten: „Die haben zwei neue Leute eingestellt, die wohl nicht mehr die Verantwortung übernehmen wollen. Dabei braucht man für eine Einweisung, wie die Gurte festzuschnallen sind, höchstens 20 Minuten“, sagt Olaf Jürs und argumentiert weiter: „Wir haben doch immer für den Sprit zusammengelegt und neue Winterreifen spendiert.“
Sozialkontor: Betrieb des Fahrzeugs ist nicht wirtschaftlich
Aber mit dem Stichwort Gewohnheitsrecht und der „Bitte, diese Entscheidung zu überdenken“, kommt er beim Sozialkontor nicht weiter. Denn der Fahrdienst habe nie zum offiziellen Angebot gehört: „Das Auto lief so unterm Radar, und unsere Mitarbeiter haben netterweise die Leute herumgefahren“, erklärt Unternehmenssprecherin Valena Momsen. Aber eigentlich sei dieser „good will“ nicht wirtschaftlich. Und außerdem, so Momsen, „hat sich die Art der Assistenzleistung verändert. Jetzt ist mehr Selbstständigkeit gefragt, die Leute bekommen nicht mehr das Rundum-Sorglos-Paket.“
Manch Mitarbeiter sei in Rente gegangen, die neuen hätten keinen Führerschein oder „trauen sich solche Fahrten nicht zu“, erklärt auch Yvonne Stresow – wobei die Leiterin für den Bereich Wohnen und Assistenz die Arbeitsstunden ihrer pädagogischen Mitarbeiter auch ungern bloß für Fahrdienste einsetzt. Wohl aber würden sie die WG-Bewohner in Bus und Bahn begleiten, „auch zum Hauptbahnhof oder mit einem Trolley zum Einkaufen, wobei man sich ja auch Lebensmittel und Getränke liefern lassen kann“.
Knapp über 100 Euro monatlich für Fahrten zur sozialen Teilhabe
Was nun tun? Ein Moia fährt leider nur bis Billstedt. Einen ehrenamtlichen Fahrer zu fragen, verbietet sich mit Blick auf die Versicherung. Und die Krankenkasse zahlt nur Fahrten aus medizinischen Gründen. Bei Fahrten zur sozialen Teilhabe übernimmt das Fachamt für Eingliederungshilfe die Kosten. „Es gibt eine monatliche Pauschale, die knapp über 100 Euro liegt. Aber da kommt man ja nicht weit mit, wenn man aus Boberg kommt. Eine rollstuhlgerechte Beförderung mit Rampe ist nicht gerade günstig“, weiß Silke Dammann von der 1975 gegründeten Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen (LAG).
Alternativ könne man ein individuelles Beförderungsbudget beantragen und jede Fahrt einzeln abrechnen. Wie kann das denn für einen Gruppenausflug funktionieren? „Das müssen die Personen der WG einzeln beantragen, ein gemeinsamer Ausflug lässt sich also nicht gerade spontan umsetzen“, erklärt Oliver Loewe von der unabhängigen Teilhabeberatung der Hamburgischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, die ein Büro an der Bergedorfer Schlossstraße 9 hat.
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Jedenfalls ist es jetzt schon beschwerlich. Dieser Weg kann wahrlich nicht das Ziel sein, um behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. „Dann müssen wir wohl trotz Stau, Baustelle, Regen oder kaputten Aufzügen mit Bussen und Bahnen unterwegs sein“, meint Rollstuhlfahrer Olaf Jürs achselzuckend: „Vielleicht ändert sich ja auch mal die Gesetzeslage.“