Vor 25 Jahren wurde auf dem Areal in Moorfleet nach anderen Giften auch noch Dioxin gefunden. Über den Exodus der Bille-Siedler.

Zuerst war es Altöl, dann entdeckte man nach und weitere Schadstoffe. Als schließlich im Boden der Bille-Siedlung auch noch Dioxin gefunden wurde, stand man vor einem der größten Umweltskandale in der Geschichte Hamburgs. Das war der Moment, in dem Umweltsenator Jörg Kuhbier und Gesundheitssenator Ortwin Runde (beide SPD) die Reißleine zogen: In der Senatssitzung am 15. Januar 1991 empfahlen sie ihren Kollegen, dass allen 767 Bewohnern der Siedlung, die zwischen der Autobahn 1 und der Dove Elbe liegt, der Kauf ihrer Häuser oder eine Mietwohnung angeboten werden soll. Die geschätzten Kosten: rund 100 Millionen D-Mark.

Die 31 Hektar große Siedlung war Anfang der 50er-Jahre errichtet worden. Allerdings hatte man mit der Zeit vergessen, dass das ehemalige Hafenbecken nördlich der Dove Elbe – von entsorgten Altölen einmal abgesehen – in früheren Jahrzehnten mit Elbsand aufgespült worden war. Auf der neu gewonnenen Fläche hatte man Hafenschlick als Deckschicht abgelagert. Was von den Menschen, die auf der Fläche ihre Eigenheime bauten, niemand ahnte: Vor allem im Schlick der Elbe lagerten gesundheitsgefährdende Schadstoffe wie Dioxin, Schwermetalle, Arsen. Zudem entwickelte sich in der Tiefe des Bodens gefährliches Methangas.

Nachdem mehr als 600 Bille-Siedler ihre Häsuer verlassen hatten, kamen die Abrissbagger
Nachdem mehr als 600 Bille-Siedler ihre Häsuer verlassen hatten, kamen die Abrissbagger © ullstein bild | Lüttgen

In den 70er-Jahren kursierten erste Gerüchte über gesundheitsschädliche Stoffe; Ende des Jahrzehnts wurden im Trinkwasser Spuren von Hexachlorcyclohexan, einem Kampfgift, nachgewiesen. Zudem mussten Anwohner ihre Häuser vorübergehend verlassen, weil in ihren Kellern explosionsfähige Gase auftauchten. 1984 wurden rund 30.000 Liter Altöl abgepumpt, und Ende der 80er-Jahre ergaben Messungen, dass der Boden in erheblichen Mengen Arsen, Cadmium und Quecksilber enthielt. Das Bezirksamt Bergedorf warnte die Anwohner sogar, selbst angebautes Gemüse zu essen. Zudem klagten viele Bewohner über Kopfschmerzen, Husten und Hautflecken. Doch über all die Jahre geschah nichts.

Die Dioxin-Konzentration erreichte das Fünffache des empfohlenen Maximums

Anfang 1991 aber war das Maß voll, wohl auch, weil die Bürgerschaftswahl am 2. Juni näherrückte. Bei zusätzlichen Dioxin-Untersuchungen wurden Werte gemessen, die auch Fachleute in der Umweltbehörde überraschten. Kontrolluntersuchungen bestätigten die Ergebnisse nicht nur, sondern ergaben mit maximal 4800 Nanogramm pro Kilogramm Erdreich (1 ng = 1 milliardstel Gramm) sogar noch höhere Werte. Das Bundesgesundheitsamt empfiehlt ab 1000 ng pro Kilogramm Boden Sanierungsmaßnahmen, bei Kinderspielplätzen sogar schon ab 100 Nanogramm.

Der Dioxinfund war besonders für Mütter mit Kleinkindern ein Schock
Der Dioxinfund war besonders für Mütter mit Kleinkindern ein Schock © ullstein bild | Laible

606 Bewohner in 273 Haushalten nahmen das Angebot zur Umsiedlung an. Es war großzügig. Rund 370.000 Mark im Durchschnitt zahlte die Stadt für jedes der 236 Grundstücke. Zudem erhielten die Bewohner ein zinsloses Darlehen von rund 100.000 Mark mit zwei Prozent Tilgung im Jahr. Hamburg gab, so hieß es später in der Bilanz, 111 Millionen D-Mark für den Ankauf der Häuser und Hilfen beim Umzug aus. „Obwohl die Stadt allein im Neubaugebiet Allermöhe 200 Bauplätze bereithielt, zogen nur 24 Familien dorthin“, berichtete das Abendblatt damals. „14 weitere zogen nach Duvenstedt, 18 nach Fünfhausen, elf nach Witzhave bei Trittau. Der Rest zerstreute sich in alle Richtungen.“ Im Juni 1993 begann die Sanierung der Bille-Siedlung, die der spätere Umweltsenator Fritz Vahrenholt als „einzigartig“ in der Bundesrepublik bezeichnete.

Doch bis es so weit war, spielten sich in dem bereits verlassenen Stadtteil zum Teil gespenstige Szenen ab. „Eingeschmissene Fensterscheiben, aufgebrochene Türen, geplünderte Häuser – nachdem 500 von 768 Bewohnern die Bille-Siedlung verlassen haben, wird das einst idyllische Wohngebiet nachts von Vandalen und Diebesbanden heimgesucht“, hieß es im Abendblatt. „Auf den Raubzügen werden sogar ganze Einbauküchen in Lastwagen aus den Häusern geschafft.“

Später wurden die Häuser legal ausverkauft. Gebrauchtwarenhändler, Heimwerker-Kolonnen und Häuslebauer erwarben wie auf einem Basar alles, was verwertbar scheint: Türen (um 80 Mark), Velux-Fenster (um 200 Mark), aber auch Badezimmereinrichtungen (um 500 Mark) oder ganze Einbauküchen (500 bis 2000 Mark).

Zwei Drittel der Fläche waren nicht sanierbar. Dort wird heute Golf gespielt

Bis zum Abschluss der Sanierungsarbeiten im November 1996 wurden rund 80.000 Kubikmeter belasteter Boden ausgewechselt. „105 von 270 Häusern konnten erhalten werden, etwa die Hälfte der früheren Bewohner blieb trotz der Arbeiten in der Bille-Siedlung wohnen“, resümierte das Abendblatt. Rund ein Drittel des ursprünglichen Siedlungsgebietes war auch weiter für Wohnzwecke nutzbar. Es reichte aus, das obere Erdreich auszutauschen. Auf einer 24 Hektar großen Fläche, die nicht saniert werden konnte, entstand ein Golfplatz. Die gesamte Sanierung kostete die Stadt rund 34 Millionen D-Mark. Später wurden die leer stehenden Häuser von der Stadt mit einem Abschlag von etwa 15 Prozent verkauft.

Fünf Jahre nach der Senatsentscheidung wurden die Ergebnisse einer umweltmedizinischen Reihenuntersuchung veröffentlicht, die die Sozialbehörde 1991 in Auftrag gegeben hatte. Danach seien die Bewohner der Bille-Siedlung zwar dem Gift ausgesetzt, aber nicht häufiger krank als andere Menschen in Hamburg gewesen.

„Obwohl die Bewohner durch die lange Wohndauer den Giften nachweislich stärker ausgesetzt waren, lag die Schadstoff-Belastung im Organismus der Bille-Siedler ‚weitgehend in der Größenordnung Hamburger und bundesweiter Vergleichsdaten“, hieß es in der Studie, und: „Auffällig und derzeit nicht eindeutig erklärbar: Frauen mußten länger als normal auf eine gewollte Schwangerschaft warten. Früh-, Tot- und Fehlgeburten lagen jedoch im normalen Bereich.“