Bergedorf. Der ASV Bergedorf 85 erlebt im Jahr 1958 ein Fußball-Märchen und steigt in die Oberliga auf. Dort wartet der HSV auf die „Elstern“.
Es ist die wohl größte Kulisse, die es in Bergedorf je bei einem Fußballspiel gegeben hat. Am 19. Oktober 1958 fordert der ASV Bergedorf 85, die legendären „Elstern“, den Hamburger SV um Nationalstürmer Uwe Seeler heraus. Vor 25.000 Zuschauern – die offizielle Vereinschronik des ASV spricht sogar von 27.000 – entwickelt sich im Billtalstadion ein packendes Spiel, in dem der HSV lange zittern muss, bevor er schließlich am Ende noch klar mit 4:1 gewinnt. Uwe Seeler, dessen steile Karriere gerade erst Fahrt aufgenommen hat, verzaubert dabei ein ganzes Stadion.
In unserer Serie „150 Jahre Bergedorfer Zeitung“ geht es heute um das Jahr 1958. Es war das erfolgreichste Jahr des Bergedorfer Fußballs, ein Fußball-Märchen, wie es nie zuvor eines gegeben hatte und es wohl auch nie wieder geben wird. Es ist der Moment, in dem das kleine gallische Dort des Fußballs im Konzert der Großen mitmischt und diese kräftig das Fürchten lehrt.
Der Bundesbahnpräsident schickt die erste S-Bahn von Bergedorf nach Hamburg
Es ist aber auch sonst ein bewegendes Jahr in Bergedorf. Die neue elektrisch angetriebene S-Bahn, sie fährt tatsächlich. Am 31. Mai 1958 um 15.54 Uhr startet der erste S-Bahn-Zug vom Berliner Tor nach Bergedorf. Zunächst noch unbemerkt, doch vorbei ist nun die Zeit der qualmenden Dampfloks. Die offizielle Eröffnung der Strecke erfolgt am 1. Juni. Der ganze Bahnsteig ist schwarz vor Menschen, als Bundesbahnpräsident Walter Helberg einen Sonderzug mit Gästen in Richtung Hamburg schickt.
Autofahrer hingegen fürchten eine neue Einrichtung. Am 2. Januar 1958 nimmt das Kraftfahrtbundesamt in Flensburg die berühmt-berüchtigte Verkehrssünderdatei in Gebrauch, was verblüffende Folgen hat. Denn die Vorstellung, amtlich als Verkehrssünder gebrandmarkt zu werden, ist für viele unerträglich. Plötzlich fahren alle ganz langsam, dafür aber oft, wo sie wollen. Nicht einmal zwei Wochen nach Beginn der Geschwindigkeitsmessungen sieht sich das Kraftfahrzeugbundesamt daher gezwungen, „drei Tipps für Autofahrer“ zu veröffentlichen: 1. Möglichst weit rechts fahren, 2. Die Geschwindigkeit ausnutzen, 3. Die Spur halten.
„85“-Chronist Lippold: Für die „Elstern“ von Reinbek bis zum Billtalstadion gelaufen
Eher auf der Überholspur ist im Fußball 1958 der ASV Bergedorf 85 unterwegs. Im Frühsommer gelingt der Aufstieg in die höchste deutsche Spielklasse, die Oberliga Nord. Es ist der größte Erfolg der Vereinsgeschichte und der Moment, in dem plötzlich ganz Deutschland über den kleinen Verein aus dem Südosten Hamburgs spricht. Die Euphorie um die Mannschaft, in der Torwart Heinrich Kokartis, Stürmer Ernie Jordan und Linksfuß Karl-Heinz Pörschke („Den rechten Fuß hatte ich nur, damit ich nicht umfalle“) die herausragenden Spieler sind, ist riesengroß.
Der Chronist der „Elstern“, Hans-Martin Lippold (79), damals 14 Jahre alt, erinnert sich noch gut an die Zeit. „Mein erstes Mal bei den ,Elstern‘ war 1958 in der Aufstiegsrunde zur Oberliga gegen den Bremer SV“, erzählt er. „Das Spiel war damals noch auf Grand im Billtalstadion. Ich war Schüler in Reinbek, öffentliche Verkehrsmittel dorthin gab es nicht, also bin ich den ganzen Weg gelaufen. 8000 Zuschauer waren da. Die ,Elstern‘ haben zweimal geführt, aber am Ende hieß es 2:2, und ich bin mit schlechter Laune zurück nach Hause gelaufen.“
Gelber Mantel, orangene Schuhe: Was die Bergedorferin trägt, wenn sie niemand sieht
Doch die Saat für eine lebenslange Leidenschaft war gelegt. Im entscheidenden Aufstiegsspiel gegen den Itzehoer SV ist Lippold zurück im Billtal. „Dieses Mal waren 18.000 Zuschauer da, das kann sich heute kein Mensch mehr vorstellen“, schwärmt er. „Ich war schon Stunden vorher da. Hauptsache, man hatte einen Sitzplatz in der ersten Reihe. Das war der größte Albtraum, dass sich da so ein Zwei-Meter-Riese vor einen setzen könnte.“ Der Aufwand soll sich lohnen: Die Bergedorfer überfahren Itzehoe mit 5:2 und steigen auf.
Schwarz und Weiß, die Farben der „Elstern“ sind Mode in Bergedorf. Zumindest bei den Männern. Die Frauen hingegen lieben es farbenfroh, die Tristesse der Nachkriegszeit wollen sie endgültig hinter sich lassen. Vor allem dann, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Der letzte Schrei für daheim sind gelbe Hausmäntel kombiniert mit orangefarbenen Hausschuhen. In der Öffentlichkeit gehen die Damen weniger mutig zu Werke. Doch die klassische weiße Bluse lässt sich problemlos mit farbenfrohen Röcken kombinieren, die immer kürzer werden. Der Minirock wirft erste Schatten voraus.
160 Mark im Monat verdient ein „Elstern“-Spieler – kaum mehr als ein Zubrot
Doch so weit sind wir 1958 noch lange nicht. Der Klassiker ist das einfache, gerade geschnittene Sommerkleid, das in allen möglichen Farben daherkommt. In der Haute Couture hat ein Wunderkind seinen ersten Auftritt: Yves Saint-Laurent, gerade mal 21 Jahre alt, stellt als Nachfolger des verstorbenen Firmenchefs Christian Dior seine erste Kollektion vor. Sein Stil – klassisch, schlicht, gerade, teuer – verstärkt eher den Zeitgeschmack als ihm etwas Neues hinzuzufügen.
So etwas muss man sich ja auch erst einmal leisten können. Als Fußballer beim ASV Bergedorf 85 sind die Möglichkeiten begrenzt. 160 D-Mark verdient ein „Elstern“-Spieler pro Monat, dazu zehn Mark Auflaufprämie pro Spiel. Macht also maximal 200 D-Mark pro Monat, das entspricht knapp 600 Euro an Kaufkraft in heutiger Währung. Ein schönes Zubrot für die Amateure, die alle noch einen richtigen Beruf haben. Karl-Heinz Pörschke zum Beispiel arbeitet tagsüber bei der Hauni und geht abends zum Training.
Frauen sind nun auch vor dem Gesetz gleichberechtigt. Das hat nicht nur Vorteile
Generell steht Sicherheit hoch im Kurs, insbesondere bei den Frauen. Bei einer Umfrage unter Hamburger Abiturientinnen geben von 143 von 480 Schülerinnen an, Lehrerin werden zu wollen. Am 1. Juli 1958 tritt das Gesetz zur Gleichstellung von Mann und Frau in Kraft. Damit wird endlich rechtskräftig, was die Väter des Grundgesetzes schon 1949 formuliert hatten. Was heute kaum noch jemand weiß: Das Gesetz hatte auch Nachteile für die Frauen. Wurde nämlich der Ehemann erwerbslos, war nun die Frau gezwungen, sich eine Arbeit zu suchen. Das war vorher anders.
Doch die prinzipielle Aufgabe des Ehemannes bleibt es, als Familienvater für diese Sicherheit zu sorgen. „Die moderne Ehe ist eine GmbH“, folgert Wolfgang Bührle etwas spitz in der Bergedorfer Zeitung. Gelingt dem Mann das nicht, droht ein böser gesellschaftlicher Absturz. Alkoholismus ist die Schattenseite der Wirtschaftswunderzeit. 5,57 Liter reinen Alkohol trinkt im Schnitt jeder Deutsche 1958. Das ist der höchste Wert seit einem Vierteljahrhundert.
„Elstern“ fegen FC. St. Pauli, Werder Bremen und Kiel aus dem Stadion
Der Frust muss raus, ein Ventil ist der Fußball. In der Fußball-Oberliga Nord warten auf den Aufsteiger ASV Bergedorf 85 nun die großen Namen des norddeutschen Fußballs wie Werder Bremen, FC St. Pauli oder Holstein Kiel. Und allen ist eines gemeinsam: Sie verlassen das Billtalstadion als Verlierer. Die „Elstern“ beherrschen den FC St. Pauli beim 2:0 nach Belieben, überfahren Werder Bremen mit 5:2 und machen es beim 4:2 gegen Kiel kaum gnädiger.
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Dabei hätte es diese Spiele fast gar nicht gegeben. Denn der Norddeutschen Fußball-Verband stellt sich nach dem Aufstieg der Bergedorfer quer, lehnt das Billtalstadion als Spielort ab. Oberligaspiele, so sagen es die Statuten, müssen auf Rasen gespielt werden. Das will unsere Zeitung nicht wahrhaben. „Fußball-Bergedorf ist entsetzt über das ,Todesurteil‘ des NFV“, zürnt sie am 28. Juni 1958. „Das ist ein Schlag ins Gesicht jeglichen sportlichen Empfindens.“
Nur ein Wunder kann die Bergedorfer Oberliga-Saison retten
Der Deutsche Fußball-Bund bleibt ungerührt, bestätigt den Beschluss des NFV. Nun kann nur noch ein Wunder helfen. Oder ein Machtwort. Uwe Seeler gibt unserer Zeitung ein Interview. „Ich komme ins Billtal“, verspricht er Anfang Juli nach der Rückkehr von der Fußball-Weltmeisterschaft in Schweden. Seeler ist ein Straßenfußballer durch und durch, hat viele Jahre lang mit seinem älteren Bruder Dieter zwischen den Häuserschluchten des Nachkriegs-Hamburgs gekickt. Was kümmert so einen, ob der Platz nicht perfekt ist?
Nun ist es entschieden: Der ASV Bergedorf 85 bekommt eine Ausnahme-Genehmigung für eine Saison und darf im Billtalstadion spielen. Die „Elstern“ wissen ihren Heimvorteil mit dem für die anderen Teams ungewohnten Untergrund zu nutzen. Als am 19. Oktober 1958 das Gastspiel des HSV ansteht, sind die Bergedorfer zu Hause noch ungeschlagen, obwohl die Saison bereits zwei Monate alt ist.
Die Amateure schocken die Profis: „Elstern“ führen gegen den HSV
Es ist das Duell des Deutschen Vize-Meisters der Amateure – Bergedorf 85 – gegen den Deutschen Vize-Meister der Profis – HSV. Uwe Seeler hält Wort, er spielt, stürmt, schießt in seiner typischen Art aus allen Lagen, doch findet immer wieder seinen Meister in „85“-Torwart Heinrich Kokartis. Der ist dann mit einem weiten Abschlag auch Ausgangspunkt der „Elstern“-Führung. Der Ball landet bei Erwin Ihde, der seinem Bewacher Dieter Seeler davonläuft. Ihdes verunglückte Flanke senkt sich zum 1:0 ins Tor (16.).
Der HSV ist nicht geschockt, kommt postwendend durch Uwe Reuter per Abstauber zum 1:1-Ausgleich (19.). Nun ist es Zeit für die Gala-Vorstellung von Uwe Seeler. Rigoros setzt er sich auf der rechten Seite durch, flankt wuchtig in die Mitte, wo Klaus Stürmer per Flugkopfball zum 2:1 trifft (23.). Ein Traumtor! In der Folge versuchen die Bergedorfer alles, um der Begegnung noch einmal eine Wende zu geben, doch der HSV ist zu clever. Gerd Krug (80.) und Uwe Seeler (85.) machen in der Schlussphase mit ihren Toren zum 4:1-Endstand alles klar.
Einführung der Bundesliga beendet die Blütezeit des Bergedorfer Fußballs
Der HSV wird Oberliga-Meister und 1960 dann sogar Deutscher Meister durch einen 3:2-Finalsieg im Frankfurter Waldstadion gegen den 1. FC Köln. Natürlich ist es Uwe Seeler, dem zwei Minuten vor Schluss das entscheidende Tor gelingt. Auch für den ASV Bergedorf 85 gibt es ein Happy End. Sie beenden die Saison als Elfter, halten ganz souverän die Klasse, sowie auch in den folgenden Jahren, bis die Einführung der Bundesliga 1963 die Blütezeit des Bergedorfer Fußballs beendet. Uwe Seeler kehrt noch oft nach Bergedorf zurück, auf Grand spielen muss er aber nie wieder.