Hamburg. Bergedorf 85 schreibt 1982 Fußballgeschichte – gegen Bayern München. Und RAF-Terrorist Christian Klar wird im Sachsenwald verhaftet.
Gestrichen, ausradiert, weggelassen. Als die Deutsche Post zu Beginn des Jahres 1982 die neue Version der „Gelben Seiten“ für Hamburg herausgab, fehlte in dem 70-seitigen Stadtplan des Telefonverzeichnisses der gesamte Bezirk Bergedorf. Ganz so, als gehöre Bergedorf gar nicht zur Hansestadt. Die Volksseele kochte.
Was damals niemand ahnen konnte: Gerade in dem Jahr 1982, von dem der heutige Teil unserer Serie „150 Jahre bz“ handelt, sollte die Region so stark wie selten zuvor in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken. Und zwar nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland. Zum einen durch das legendäre Fußball-Pokalspiel des ASV Bergedorf 85 („Elstern“) gegen Bayern München, zum anderen durch die Festnahme des gefürchteten Terroristen Christian Klar im Sachsenwald.
150 Jahre bz: Legendäre „Elstern“ – Ein Pokalspiel für die Ewigkeit
Der Tag, an dem Bergedorf Fußballgeschichte schrieb, war der 28. August 1982. Der ASV Bergedorf 85 hatte richtig Geld in die Hand genommen und für das Clubheim an den Sander Tannen eine neue Ledergarnitur angeschafft. Schließlich sollte die Pressekonferenz nach dem DFB-Pokalspiel gegen den FC Bayern München einen würdigen Rahmen haben. Doch diese Pressekonferenz hat es nie gegeben. Fluchtartig verließen die Bayern-Stars um Paul Breitner und Karl-Heinz Rummenigge nach dem Abpfiff die Anlage.
Die Bundesliga-Stars hatten sich nämlich bis auf die Knochen blamiert. Nur 13 Sekunden fehlten den tapfer kämpfenden Bergedorfern nach der 1:0-Führung durch Holger Brügmann an der großen Pokal-Sensation. Einer der Helden von damals war der kantige Innenverteidiger Daniel Glogowski, gegen den Weltklasse-Stürmer Dieter Hoeneß keinen Stich bekam – zumindest 89 Minuten und 47 Sekunden lang.
ASV Bergedorf 85 führt bis 13 Sekunden vor Schluss, dann trifft Dieter Hoeneß
Doch ein Spiel dauert halt 90 Minuten. Das wusste ja schon Trainer-Legende Sepp Herberger. Und so flog dann beim Stand von 1:0 für Bergedorf eben doch noch eine letzte Flanke von Calle Del’Haye in den „Elstern“-Strafraum, Hoeneß stieg hoch und köpfte zum 1:1 ein. Die Münchener hatten sich in die Verlängerung gerettet, siegten am Ende 5:1 und mussten sich danach sputen, um ihr Flugzeug nach Hause noch zu erwischen.
Das DFB-Pokalspiel vom 28. August 1982 ist das bedeutendste Sportereignis, das Bergedorf je erlebt hat. „Es war damals gar nicht so schwer, an Karten für das Spiel zu kommen“, erinnert sich Jens Alpen aus Altengamme. „Bei dieser Partie mit dabei zu sein, war als Vierländer ja geradezu Ehrensache.“ Der heute 84-Jährige, dessen Enkel Philip beim SV Altengamme spielt, hatte ein Tribünen-Ticket in der Nähe des ASV-Klubhauses ergattert, erlebte das fatale Gegentor also aus nächster Nähe mit. „Das war wirklich unglaublich“, schüttelt Alpen auch Jahrzehnte später noch den Kopf.
„Ein bisschen Frieden“ – Die Angst vor einem Atomkrieg wächst
Fußball ist in den Tagen des August 1982 eine willkommene Abwechslung von den Sorgen der Zeit. Die Angst vor einem Atomkrieg wächst, über eine Million Menschen demonstrieren in Bonn, London und New York gegen atomare Aufrüstung. Der zur Gitarre gesungene Stoßseufzer „Ein bisschen Frieden“ der 17-jährigen Sängerin Nicole siegt beim Grand Prix Eurovision de la Chanson so deutlich wie nie ein Lied zuvor.
Auch wirtschaftlich werden die Zeiten härter. In Deutschland fehlen rund 60.000 Ausbildungsplätze, viele Jugendliche haben keine Perspektive. An Kürzungen im Sozialbereich wird die SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zerbrechen. Viele Menschen flüchten sich in Eskapismus: „E. T. – Der Außerirdische“ ist der Hit in den Kinos, die TV-Serie „Dallas“ erreicht Rekordquoten mit Intrigen aus der Welt der Reichen und Schönen.
Drei Vize-Weltmeister spielen vor 12.000 Fans an den Sander Tannen
Auf dem grünen Rasen hingegen ist die Welt noch in Ordnung. Wenige Wochen vor dem Spiel in Bergedorf ist die deutsche Fußball-Nationalelf in Spanien Vize-Weltmeister geworden. Mit Paul Breitner, Karl-Heinz Rummenigge und Wolfgang Dremmler gehörten drei Spieler vom FC Bayern München zum Team. Wenige Wochen später stehen sie auf dem Rasen an den Sander Tannen.
Die Münchener bieten das Beste auf, was sie haben: Jean-Marie Pfaff, Klaus Augenthaler, Wolfgang Grobe, Udo Horsmann, Wolfgang Dremmler, Bernd Dürnberger, Norbert Nachtweih, Paul Breitner, Kalle Rummenigge, Dieter Hoeneß und Calle Del’Haye. Wie würden sich die Amateure aus Bergedorf gegen diese Übermannschaft behaupten? 12.000 Fans strömen an die Sander Tannen, um das herauszufinden.
Trauzeuge passt zu Bräutigam – So fällt Bergedorfs Führungstor
Die „Elstern“-Abwehr um Libero Klaus Vogel, den „Beckenbauer von Bergedorf“, wirft alles rein, was sie hat. Und wenn sie doch einmal ausgespielt wird, steht da hinten noch mit Harro Diercks ein Keeper, der einen Sahnetag erwischt hat. Als es mit 0:0 in die Pause geht, macht sich auf der Tribüne langsam Hoffnung breit. „Klein Kleckersdorf“ haben die Bergedorfer in großen Lettern auf ihren Trikots stehen. Was wie eine Provokation des großen FC Bayern wirkt, ist tatsächlich nur die Werbung für eine Bergedorfer Kneipe.
Mit jeder Minute, die in der zweiten Halbzeit vergeht, sollen die Bundesliga-Stars ihren Ausflug nach „Klein Kleckersdorf“ mehr und mehr bereuen. In der 68. Minute kommt der Bergedorfer Volker Spill in der eigenen Hälfte an den Ball. Er schaut gar nicht, haut die Kugel einfach nach vorn und findet den einzigen Stürmer, den die „Elstern“ aufgeboten haben: Holger Brügmann. „Wir haben uns blind verstanden. Volker war später sogar mein Trauzeuge“, verriet dieser einmal unserer Zeitung.
Helmut Schmidt sendet ASV Bergedorf 85 ein Glückwunschtelegramm
Brügmann stürmt los, Bayern-Verteidiger Wolfgang Grobe setzt zur Grätsche an, zieht aber zurück, fürchtet einen Platzverweis. So ist der Bergedorfer auf und davon und überwindet Pfaff per Flachschuss aus 20 Metern. Anschließend rutscht er jubelnd über den Rasen, von hinten kommt Spill angerauscht und drückt ihn jubelnd zu Boden. Der Torschütze ist ein Kind unserer Region: Geboren im Reinbeker St. Adolf-Stift, wuchs Holger Brügmann in Willinghusen und Glinde auf und lebte dann lange mit seiner Familie in Lauenburg. Bei Bergedorf 85 spielte er nur eineinhalb Jahre, versuchte sich danach vergeblich als Profi bei Eintracht Braunschweig.
Lange träumen die „Elstern“ von der Sensation, dann trifft Hoeneß doch noch und legt in der Verlängerung gleich noch drei Tore nach. Den Schlusspunkt zum 5:1 setzt Paul Breitner. Nach der Partie werden die Bergedorfer mit Lob überschüttet. Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Wahlkreis hier ist, hat die Partie im Radio verfolgt und sendet ein Glückwunsch-Telegramm. Bayern-Manager Uli Hoeneß lädt das „Elstern“-Team später vor dem HSV-Spiel zum Frühstück ins Interconti ein. Ein netter Ausgleich für die überstürzte Abreise nach dem Pokalspiel.
Das traurige Schicksal des „Elstern“-Verteidigers Daniel Glogowski
Sein Bruder Dieter Hoeneß gratulierte Daniel Glogowski noch viele Jahre später zu dessen 50. Geburtstag. Den raubeinigen Innenverteidiger aus Bergedorf hat er nicht vergessen. Glogowski blieb seinem Herzensverein ein Leben lang treu. Sein Fußballtalent hatte ihm 1977 aus dem Auffanglager für Spätaussiedler herausgeholfen. Nach seiner aktiven Karriere wurde er zu einer Integrationsfigur im ASV, engagierte sich viele Jahre als Trainer der 2. Herren.
An einem sonnigen Frühlingstag 2012 trifft sich Daniel Glogowski ein letztes Mal mit Freunden und Weggefährten an den Sander Tannen. Sein sehnlichster Wunsch. Als sie ihn im Rollstuhl sitzen sehen, hat so mancher Tränen in den Augen. Die tückische Nervenkrankheit Amytrophe Laktalsklerose, kurz: ALS, hat von seinem Körper Besitz ergriffen. Er weiß, dass er an ihr sterben wird. Am 12. Dezember 2013 verliert Daniel Glogowski den Kampf gegen die Krankheit. An den Sander Tannen aber bleibt er unvergessen als Teil eines großen „Elstern“-Teams: Harro Diercks, Günther Bargsten, Christian Hofmeister, Daniel Glogowski, Klaus Vogel, Norbert Jürgens, Andreas Roloff, Fred Keller, Lutz Bendler (91. Frank Erb), Volker Spill (105. Holger Kalla), Holger Brügmann.
Kälte- und Hitzerekorde: 1982 war in Bergedorf ein Jahr der Extreme
Das Jahr 1982 war ein Jahr der Extreme. Es hatte eiskalt begonnen. In der Nacht zum 8. Januar wurde in Itzehoe mit minus 28,8 Grad die tiefste Temperatur in Schleswig-Holstein seit über 40 Jahren gemessen. Wer in diesen Tagen an der Elbe spazieren ging, sah den Fluss dampfen wie eine Tasse heißen Kaffee. So klirrend kalt war die Luft. Anfang Juni das ganze Gegenteil: Schon früh im Sommer kletterte das Thermometer über die 30-Grad-Grenze. Die Freibäder erlebten enormen Ansturm.
Die Wahlen spülten reichlich Politik-Prominenz in die Region. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), sein Nachfolger Helmut Kohl (CDU), Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Schleswig-Holsteins neuer Ministerpräsidenten Uwe Barschel (CDU), sie alle fanden ihren Weg in den Hamburger Stadtteil ohne eigenen Stadtplan.
Patt zwischen CDU und SPD in der Bergedorfer Bezirksversammlung
Bei der Hamburger Bürgerschaftswahl im Juni 1982 löste die CDU die SPD als Regierungspartei ab, in Bergedorf gab es ein Patt zwischen den beiden großen Parteien. Es waren schwierige Zeiten. Die Arbeitslosenzahlen hatten in Deutschland schon im Februar die Zwei-Millionen-Grenze erreicht, und auch in Bergedorf bedeuteten knapp 2000 Erwerbslose eine Arbeitslosenquote von 6,2 Prozent.
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So mancher kam da auf dumme Gedanken. Am späten Abend des 16. Februar 1982 wurde die Polizei in ein Lokal am Bergedorfer Bahnhof gerufen. Überfall. Der Kellner gab an, mit der Waffe bedroht worden zu sein, die Tageskasse von rund 2000 Mark sei verschwunden. Ein Gast diente als Zeuge. Doch je länger die Befragung dauerte, desto mehr verstrickte sich der Kellner in Widersprüche. Schließlich kam heraus: Es handelte sich um ein abgekartetes Spiel von drei Komplizen – Kellner, Gast und Räuber.
Chemiewerk Boehringer: Bürger decken Dioxin-Belastung in Moorfleet auf
Zukunftsängste dominierten. In Allermöhe entstand ein neues, riesiges Siedlungsgebiet. Wie würde das den Bezirk Bergedorf verändern? Und an der Elbe bei Geesthacht wurde am Kernkraftwerk Krümmel gebaut, das 1983 in Betrieb gehen sollte. War die neue Technik sicher? Interessant ist aus heutiger Sicht, wie die Betreibergesellschaft um Akzeptanz warb. Nämlich nicht, indem man die Vorzüge der Atomkraft pries, sondern auf die Nachteile fossiler Brennstoffe verwies. Eine Anzeige vom 24. März 1982 zeigt einen Öltanker in schwerer See, dazu der Slogan: „Heute sind wir vom Öl unabhängig. Das haben wir der Kernkraft zu verdanken.“
In Moorfleet ließ das Bergedorfer Bezirksamt Blut und Fettgewebe von 100 Bürgern, die in der Nähe des Chemiewerks Boehringer lebten, bei der Uni Bochum auf das Insektizid HCH hin analysieren. Ergebnis: keine Auffälligkeiten. Doch als einige Bürger auf eigene Kosten noch einmal eigene Blutproben in einem Hamburger Labor untersuchen ließen, wurden 13-mal höhere Werte ermittelt. Das stank natürlich zum Himmel. Und tatsächlich: 1984 musste das Chemiewerk Boehringer wegen der Dioxin-Belastung im Boden schließen. Es war einer der größten Umweltskandale in der Geschichte der Bundesrepublik.
Deutschlands gefährlichster Terrorist wandert wie Ausflügler durch den Wald
Wenige Wochen später macht unsere Region erneut Schlagzeilen in ganz Deutschland, dieses Mal allerdings aus einem ganz anderen Grund. Die Nation hält den Atem an, als im Sachsenwald einer der gefährlichsten Verbrecher des Landes verhaftet wird: Top-Terrorist Christian Klar. Drei Wochen lang hatten Polizeibeamte einer Spezialeinheit im Sachsenwald in Erdlöchern auf der Lauer gelegen, nachdem man dort ein Waffenlager der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) entdeckt hatte.
Am 16. November kam der große Tag. Um 13.02 Uhr radelte ein Mann im blauen Trainingsanzug mit einem grünen Damenfahrrad zum S-Bahnhof Friedrichsruh und schloss es dort an. Dann machte er sich zu Fuß auf den Weg in den Sachsenwald. Er wirkte wie ein harmloser Ausflügler, doch der Mann trug eine durchgeladene und entsicherte Pistole vom Typ „Colt Commander“ bei sich. Es war Christian Klar.
Festnahme von Christian Klar ist bedeutender Schlag gegen die RAF
Als er sich dem RAF-Depot näherte und sich suchend umblickte, sprangen die Polizisten aus ihren Erdlöchern. Klar war so überrascht, dass er sich sofort zu Boden warf und widerstandslos festnehmen ließ. Es war der zweite Schlag gegen die RAF innerhalb weniger Tage. Kurz zuvor waren die Terroristinnen Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz den Fahndern in der Nähe von Frankfurt ins Netz gegangen, nachdem Pilzsammler dort ebenfalls ein Munitionslager entdeckt hatten.
Klar entstammt dem Bildungsbürgertum und ist in der Nähe von Karlsruhe aufgewachsen, wo er 1974 über seine Wohngemeinschaft mit Freundin Adelheid Schulz Kontakt zur Terrorszene bekam und sich radikalisierte. Für seine Beteiligung an diversen Mordanschlägen wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt und Ende 2008 vorzeitig entlassen. Danach lebte er in Berlin, arbeitete als Kraftfahrer und IT-Spezialist.
Schönste Teile unserer Serie „150 Jahre Bergedorfer Zeitung“ erscheinen als Magazin
Nach vielfacher Aufforderung der bz-Leser an unsere Redaktion steht jetzt fest: Die Geschichte des „Pokalspiels für die Ewigkeit“ von 1982 und zahlreiche weitere Teile unserer Serie „150 Jahre Bergedorfer Zeitung“ werden Mitte Juli als Kapitel eines Magazins erscheinen. Zum Preis von 8 Euro (für bz-Abonnenten 1,50 Euro) ist das 140 Seiten starke Werk spätestens ab 15. Juli in unserer Geschäftsstelle an der Chrysanderstraße 1 sowie in ausgewählten Geschäften zu bekommen.