Bergedorf. Das Fußballspiel für daheim wird 100 Jahre alt. Seit 2011 gibt es auch Frauenfiguren mit Druckknopf. Doch die gefallen nicht jedem.
Vier Figuren und ein Ball. Mehr braucht es nicht für eines der erfolgreichsten Fußballspiele, die es in Deutschland je gab. Tipp-Kick wird 100 Jahre alt. Über sieben Millionen Mal ist das Spiel bereits verkauft worden. Die kleinen Figuren mit dem Druckknopf auf dem Kopf finden sich nicht nur in vielen Kinderzimmern. Auch Erwachsene – fast ausschließlich Männer, die sich das Kind im Manne bewahrt haben – lieben es, mit den bunten Puppen zu spielen.
Manchmal sogar ganz offiziell um Ruhm und Ehre. Vom 8. bis 9. Juni wird in der Neckarhalle von Schwenningen die 58. Deutsche Tipp-Kick-Meisterschaft ausgetragen. Es handelt sich um ein offenes Turnier, für das sich jeder beim Deutschen Tipp-Kick-Verband anmelden kann, der sich dazu berufen fühlt, zwei Tage lang kunstvoll einen kleinen Plastikball durch die Gegend zu stupsen.
Tipp-Kick: Die kleine Plastikkugel saust mit Tempo 130 übers Feld
Allerdings werden Anfänger chancenlos sein. Denn bei den Könnern ihres Fachs saust der kleine schwarz-weiße Ball mit einem Tempo von bis zu 130 Kilometern pro Stunde über das Kunstgrün. Und das mit unglaublicher Präzision. Die besten Spieler sind in der Lage, von jedem Fleck der 106 mal 70 Zentimeter großen Spielfläche ein Tor zu erzielen. Dabei müssen sie oft zwischen Torwart und Verteidiger eine Lücke treffen, die nur wenige Millimeter groß ist. Oder den Verteidiger überlupfen. Oder den Torwart austricksen.
Um Tipp-Kick geht es heute in unserem Bergedorfer Familien-Blog „Volkers Welt“. Mit den Titelkämpfen in Schwenningen kehrt das Spiel an seinen Ursprungsort zurück. Im Jahr 1924 erwarb der Schwenninger Exportkaufmann Edwin Mieg die Lizenz für ein Fußballbrettspiel, für das der Stuttgarter Möbelfabrikant Carl Mayer 1921 ein Patent angemeldet hatte, die Idee dann aber nicht weiter verfolgte. Mieg entwickelte das Tipp-Kick-Spiel weiter und machte sich noch im selben Jahr damit selbstständig. Daher gilt 1924 offiziell als Geburtsjahr des Tipp-Kick-Spiels.
Vom Fußballbrettspiel zu Tipp-Kick: Wie alles begann
Anfangs handelte es sich dabei noch um Kicker aus Blech. Das Prinzip war aber schon damals dasselbe: Das linke Bein ist starr, das rechte beweglich. Durch den Druck auf den Knopf am Kopf wird der Schuss ausgelöst. Eine Partie dauert zweimal fünf Minuten. Es ist immer der Spieler an der Reihe, dessen Farbe – Weiß oder Schwarz – beim Ball oben liegt. Der Gegner darf seinen Feldspieler als Hindernis in den Weg stellen, muss dabei aber zwei Spielerlängen Abstand halten und sich nicht weiter als bis zum eigenen Strafraum zurückziehen.
Könner unterscheiden bis zu 34 verschiedene Schusstechniken
Heute wird mit Zink-Zinn-Figuren gespielt, für besondere Präzision und Drehschüsse gibt es zudem Edelstahl-Beine. Was für eine Figur ein Spieler einsetzt, ob sie einen gerade oder seitlich gedrehten Schussfuß hat, all das ist ihm überlassen. Bis zu vier verschiedene Feldspieler-Figuren dürfen in einem Match zum Einsatz kommen. Für das allerletzte Prozent an Präzision dürfen die Spieler zudem nach Herzenslust an den Metallfüßen herumfeilen wie ein Bobfahrer an den Kufen seines Schlittens.
Sie ahnen es schon: Ist man der Tipp-Kick-Manie erst so richtig verfallen, wird eine Wissenschaft daraus. Insgesamt 34 – in Worten VIERUNDSREISSIG! – verschiedene Schusstechniken unterscheidet der Deutsche Tipp-Kick-Verband (DTKV). Um den Drehaufsetzer, Farbleger, Tempodreher oder gar den Klemmbrettdrehschleifer perfekt zu beherrschen, sind viele Übungsstunden nötig.
Mit einem Trick gelangt Tipp-Kick auf die Leipziger Spielwarenmesse
Aber auch, wer einfach nur Spaß daran hat, aufs Geratewohl loszukicken, kommt bei diesem Spiel auf seine Kosten. Daher wurde Tipp-Kick auch schnell zum Kassenschlager, nachdem es Edwin Mieg 1924 zur Marktreife entwickelt hatte. Bei der Leipziger Spielwarenmesse wollte der Spielzeug-Pionier seine Entwicklung einer breiten Öffentlichkeit vorstellen, hatte aber kein Geld für einen eigenen Stand. Also baute er sich mit einem Tipp-Kick-Tisch vor dem Eingang zum Messegelände auf. Schnell bildeten sich Menschentrauben um die ersten Tipp-Kick-Spieler.
Als die Wachleute das mitbekamen, vertrieben sie den Schwenninger Unternehmer schließlich. Doch der Erfolg war nicht aufzuhalten. Schon in den 1930er-Jahren stiegen die Verkaufszahlen von Tipp-Kick rasant an. Nach dem Tod von Edwin Mieg 1948 übernahmen seine Söhne Peter und Hansjörg Mieg die Firma, die seit den 1990er-Jahren von den Enkeln Jochen und Mathias Mieg geführt wird.
Das „Wunder von Bern“ sorgte für einen Verkaufsschub
Das „Wunder von Bern“, der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954, sorgte dann für den entscheidenden Schub. Insgesamt 180.000 Spiele wurden allein in diesem Jahr verkauft. Das Jahr 1954 ist zudem auch die Geburtsstunde des Tipp-Kick-Torwarts, der auf Knopfdruck nach links oder rechts fallen kann. Peter Mieg hatte diese Kunststoff-Figur zusammen mit seinem Betriebsleiter Franz Rusch entwickelt und taufte sie „Toni“ in Anlehnung an WM-Held Toni Turek.
Ebenfalls seit 1954 gibt es den charakteristischen Plastikball, der nicht rund ist, sondern aus sechs Quadraten und acht Dreiecken besteht und insgesamt zwölf Ecken aufweist. Vorher waren die Bälle aus Kork gewesen.
Der Ball ist rund? Nicht beim Tipp-Kick!
Als Werbeträger fungierte in den 1960er-Jahren ein junger Bundesliga-Stürmer, dessen Dienste man sich für gerade mal 1000 D-Mark gesichert hatte. Sein Name: Gerd Müller. Dass der damals 21-Jährige in den folgenden Jahren zum besten deutschen Stürmer aller Zeiten aufsteigen sollte, hat dem Spiel sehr geholfen. Ebenso wie die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 im eigenen Land, zu der erstmals Tipp-Kick-Figuren in den Nationaltrikots der teilnehmenden Nationen erschienen. So konnten Spielefans die WM im heimischen Wohnzimmer stilecht nachspielen.
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Nur mit der Emanzipation hatte es die Schwenninger Firma nicht so. Bis zum Jahr 2011, also geschlagene 87 Jahre nach Firmengründung dauerte es, bis Tipp-Kick endlich auch Frauenfiguren auf den Markt brachte. Doch obwohl die „Spielerfrauen zum Draufhauen“ („Westdeutsche Zeitung“) unter den Tipp-Kick-Figuren auf Anhieb einen Marktanteil von 30 Prozent eroberten, war die Begeisterung nicht sonderlich groß. Die Figur habe „zu wenig weibliche Attribute“, kritisierte die mehrfache deutsche Tipp-Kick-Meisterin Birgit Kirschner in der „WAZ“: „Etwas mehr Oberweite und ein schmaleres Becken wären besser gewesen.“
Im Film wird eine Tipp-Kick-Figur zu Günter Netzer
Eher ein Kuriosum war auch der bislang einzige Tipp-Kick-Film „Aus der Tiefe des Raumes“ aus dem Jahr 2004. In dem Film, der im Jahr 1965 spielt, fällt eine Tipp-Kick-Figur in die Entwicklerflüssigkeit einer Fotografin und erwacht am nächsten Morgen in voller Lebensgröße als lebendiger Fußballer, der im Verlauf des Films Günter Netzer immer ähnlicher wird. Auf dem Spielfeld wird der Tipp-Kick-Kicker dann zu einem Meister der Freistöße. Klingt ziemlich verrückt, aber leider ist der Film nicht annähernd so unterhaltsam, wie das hier klingt.
Aber es zeigt, wie sehr das Spiel im Lauf der Jahrzehnte zu einem Teil unserer Kultur geworden ist. Selbst, wer mit dem Fußballspiel fürs Kinderzimmer nichts anfangen kann, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit schon mal ein Tipp-Kick-Spiel gesehen oder eine Figur in der Hand gehalten. Die Hersteller hoffen nun auf eine erfolgreiche Fußball-EM 2024, denn wann immer die deutsche Nationalelf gut spielt, steigen die Verkaufszahlen.