Hamburg. Künstlerin organisiert ein Projekt, das Menschen und Kulturen verbinden kann. Verblüffend einfach und effektiv ist dabei die Technik.

Nicht wenige zucken bei dem Wort Sticken zusammen. Unschöne Erinnerungen an Handarbeitsstunden in der Schule kommen bei den Älteren hoch, während Jüngere nicht nachvollziehen können, warum sie mit Nadel und FadenMuster und Symbole aus kleinen Kreuzen produzieren sollten – wo sie doch in der Zeit TikTok-Filmchen auf ihrem Handy schauen oder mit sieben Freunden gleichzeitig chatten könnten.

Doch es gibt auch Menschen, die lieben das Sticken. Andrea Madadi-Guilandehi ist so eine. Und sie kann sogar andere dafür begeistern. Das konzentrierte, ruhige und aufmerksame Betrachten der Handarbeit sei vergleichbar mit Kleinkindern, die in der Sandkiste hoch konzentriert einen Sandkuchen backen, vergleicht die 66-Jährige. „Man tut eine Sache ganz und gar, verliert sich im positiven Sinne darin.“ Sticken sei selbstwirksames Gestalten, kreatives Arbeiten. Es fördere die Konzentration, biete Entschleunigung und sei deshalb das Gegenteil von Social Media, dem „Sich-Zuballern-lassen“ von sozialen Netzwerken, betont Andrea Madadi-Guilandehi. „Beim Sticken lässt man sich auf eine einzige Sache komplett ein.“ Sie könne hervorragend dabei abschalten: „Ich sticke, wenn ich mich erholen möchte. Jeder sollte das mal ausprobieren.“

Statt TikTok und Chatten sich beim Handarbeiten erholen

„Stick Dein Leben“ heißt ein neues Handarbeitsprojekt von Andrea Madadi-Guilandehi. Die mit einem Iraner verheiratete Curslackerin, die sich ehrenamtlich im Projekt Haus für alle des Vereins SerrahnEins an der Serrahnstraße 1 engagiert, möchte vom 16. Mai an mit Interessierten verschiedener Kulturen und Generationen sogenannte Lebenstücher sticken. Die mit aktuellen oder historischen Motiven bestickten, persönlichen Tücher sollen im kommenden Jahr im Museum im Bergedorfer Schloss ausgestellt werden. Die Teilnahme an dem sechsmonatigen Projekt, das sich ausdrücklich an Menschen aller Kulturen richtet, ist kostenlos.

Ein Stickmustertuch von Andrea Madadi. Es zeigt einen Topf mit einer Nelke in der Mitte, darüber eine Krone.
Ein Stickmustertuch von Andrea Madadi. Es zeigt einen Topf mit einer Nelke in der Mitte, darüber eine Krone. © Thomas Heyen | Thomas Heyen

„Handarbeiten ist nach wie vor angesagt – und die Stickkunst hat in vielen Ländern eine reiche Tradition. Sticken ist einfach zu erlernen und mit bunten Fäden auf zählbaren Stoffen umzusetzen. Sticken macht Spaß, fördert die Konzentration und Kreativität“, sagt Andrea Madadi-Guilandehi. Beim Handarbeiten kann über alle Themen des Lebens diskutiert werden, betont die 66-Jährige. Bei dem Projekt stünden nicht nur die eigentlichen Handarbeiten im Mittelpunkt, sondern auch elementare Themen wie Identität, Selbstbewusstsein und Selbstausdruck.

„Gedanken und Gefühle künstlerisch umsetzen und auf einen Stoff sticken“

Die Teilnehmer können sich mit Fragen wie „Wer bin ich?“, „Wer möchte ich sein?“, „Wie und wo lebe ich?“ und „Wie und wo möchte ich leben?“ beschäftigen. Die Antworten auf diese tiefgreifenden Fragen können sich auf den Tüchern in Form von Symbolen – beispielsweise Friedenstaube oder Peace-Zeichen – widerspiegeln: „Die Teilnehmenden können mit zeitgenössischen, historischen oder selbst kreierten Symbolen, Motiven und Mustern ihre Gedanken und Gefühle künstlerisch umsetzen und auf einen Stoff sticken“, sagt die Kunsthistorikerin und Journalistin.

Auf dieses Tuch stickte Andrea Madadi maritime Motive, unter anderem Segelschiffe, Meerjungfrauen, Seepferdchen und einen Hummer.
Auf dieses Tuch stickte Andrea Madadi maritime Motive, unter anderem Segelschiffe, Meerjungfrauen, Seepferdchen und einen Hummer. © Thomas Heyen | Thomas Heyen

Es gehe nicht um traditionelles Blümchen-Sticken, betont Andrea Madadi-Guilandehi: Ziel des Projektes sei ein „Austausch der Kulturen und Generationen, ein sich gegenseitiges Verstehen und Stärken und ein Einbringen des kulturellen Wissens und der Handarbeitstechniken aus den jeweiligen Ländern“. Die Teilnehmer würden auch mehr über für sie interessante Angebote in Bergedorf erfahren. „Wir wollen auch Menschen mit Migrationshintergrund erreichen, die sonst zu Hause bleiben“, sagt Christiane Piscaer, Ehrenamtskoordinatorin im Haus für alle.

Den Teilnehmern „zumindest ein bisschen Zuhause-Gefühl vermitteln“

Es gehe darum, diese Menschen in ihrem neuen Lebensmittelpunkt zu verorten, „ihnen zumindest ein bisschen Zuhause-Gefühl zu vermitteln“, sagt die Ehrenamtskoordinatorin. „Viele kennen nur die Notwendigkeiten des täglichen Bedarfs, wissen etwa, wo sie einkaufen können, wo Ärzte und Behörden zu finden sind.“ Bei dem Projekt gehe es aber um die Vermittlung kultureller Angebote. Denn viele Bergedorfer wissen nichts von Bürgerausstellungen im Schloss oder von Kunstkursen für wenig Geld, die im Künstler- und Handwerkerhaus Plietsch am Bergedorfer Markt angeboten werden. „Viele Menschen mit Migrationshintergrund waren in ihrer Heimat kreativ, haben dort beispielsweise gemalt. Sie haben ein großes Potenzial mitgebracht, das sie hier einbringen können“, sagt Andrea Madadi-Guilandehi.

Das Tuch mit Aquarium-Motiven gestaltete die Curslackerin „just for fun“.
Das Tuch mit Aquarium-Motiven gestaltete die Curslackerin „just for fun“. © Thomas Heyen | Thomas Heyen

Teilnehmer aus verschiedenen Kulturkreise würden viel voneinander lernen können – beim Handarbeiten und darüber hinaus, betont Andrea Madadi-Guilandehi, die das Projekt gemeinsam mit Christiane Piscaer organisiert hat: „Beispielsweise Ukrainer, Syrer oder Iraner haben jeweils eigene, bestimmte Sticktechniken und Symbole, die sie beim Sticken verwenden.“ Andrea Madadi-Guilandehi ergänzt: „Die Teilnehmer sollen aber noch mehr als das Sticktuch mitnehmen.“ Ein positiver Nebeneffekt sei das Verbessern der Sprachkenntnisse, betont Christiane Piscaer. Grundkenntnisse in Deutsch seien allerdings Voraussetzung für die Teilnahme.

Organisatorin kuratierte Stickmustertücher-Ausstellung im Rieck-Haus

Andrea Madadi-Guilandehi kennt sich mit Stickmustertüchern bestens aus: „Als ich Sticken in der Schule lernte, habe ich es gehasst. Aber 2013 habe ich es bei einem Stick-Tag im Rieck-Haus wiederentdeckt und liebgewonnen. Damals saßen Jung und Alt an einem riesigen Tisch. Sie haben mir die Utensilien in die Hand gedrückt – und ich konnte nicht wieder aufhören.“ Lebensbäume und andere Vierländer Muster, „die Jahrhunderte überdauern“, haben die Kunsthistorikerin gepackt: „Ich wollte mehr über die Geschichte dieser Stickmuster erfahren“, sagt Andrea Madadi-Guilandehi.

Die Erfahrung der Gemeinschaft, der großen Runde an einem Tisch, habe die Curslackerin ebenfalls fasziniert: „Man hat miteinander geplaudert und sich gegenseitig was beigebracht.“ Andrea Madadi-Guilandehi griff fortan nicht nur wieder zu Nadel und Faden, sondern kuratierte auch eine Ausstellung über alte Vierländer Stickmustertücher im Rieck-Haus, die 2018 und 2019 dort ausgestellt worden ist, verfasste nachträglich einen Katalog zu der Schau.

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Bei dem neuen Projekt mitmachen können Interessierte ab zehn Jahren. Die Gruppe trifft sich immer donnerstags zwischen 16 und 18 Uhr im Haus für alle. Wer mitsticken möchte, kann sich bis zum 13. Mai bei Christiane Piscaer anmelden: Telefon 0179/4480436; E-Mail: info@fluechtlingshilfe-bergedorf.de. Viele Plätze sind bereits belegt, deshalb sollten Interessierte nicht lange zögern. Das Material wird gestellt.

Fertige Lebenstücher sollen im Bergedorfer Schloss ausgestellt werden

Die fertigen Lebenstücher werden später gerahmt und Anfang 2025 im Bergedorfer Schloss mit erläuternden Texten und Porträts der Teilnehmenden ausgestellt. Dadurch gewinne das Projekt an Sichtbarkeit und Wertigkeit für alle Beteiligten. Das Kunst-Projekt wird gefördert durch den Verfügungsfonds des RISE-Gebiets Zentrum Bergedorf.