Hamburg. Andrea Madadi hat sich mit der Kunst des Stickens befasst. Ihr Buch erzählt von Kreuzstich-Tüchern und Abwehrzauber.

Andrea Madadi ist von Vierländer Stickmustern fasziniert, seit sie 2013 im Rieck-Haus einen Handarbeitstag besuchte und dort gleich zum Sticken eines Lebensbaums animiert wurde. Die Journalistin und Kunsthistorikerin stickte los, schuf später aufwendige Stick­kunstwerke, stickte regelmäßig mit Schulkindern in Zollenspieker, recherchierte die Geschichte des Stickens im Landgebiet in Hamburg und organisierte die Sonderausstellung „Ausgezählt“, die 2018 und 2019 im Rieck-Haus zu sehen war. Damals gab es keinen Katalog zu der Schau. Der liegt nun, aufwendig gestaltet, vor: „Ausgezählt: Stickmustertücher in den Vierlanden“ heißt ein 80 Seiten starkes, frisch gedrucktes Buch mit vielen farbigen Abbildungen, das nun erhältlich ist.

Stickmustertücher erzählen Geschichten und Geschichte

Der Buchtitel „Ausgezählt“ bezieht sich auf das sorgfältige Zählen der Kreuzstiche beim Sticken: „Zählt man nicht exakt, entspricht das eigene Stickmuster nicht der Vorlage“, sagt Andrea Madadi (64). Sie sei von der Machart der Rauten, Rosetten und Lebensbäume und der Vielfalt der figürlichen Tücher beeindruckt. In den vergangenen acht Jahren befasste sie sich ausgiebig mit Stickmustertüchern aus dem Landgebiet, interviewte Handarbeiterinnen und tauchte tief ein in die Historie der Tücher, die es in Europa seit etwa 500 Jahren gibt.

„Mit der intensiven Beschäftigung haben sich immer weitere spannende Themen rund um die Stickmustertücher, ihrer zeitgeschichtlichen Einbettung, ihrer Entstehung und Aufarbeitung ergeben. Stickmustertücher sind für mich ein spannendes kulturgeschichtliches Zeugnis ihrer Zeit“, sagt die Curslackerin. In Stickmustertüchern sei alles drin, betont die Expertin: „Volkskunst, Heimatkultur, Religion und Glaube, Anpassung, Unterdrückung, Fleiß, Leidenschaft, Kreativität – sie sind Abwehrzauber und Segenszeichen zugleich.“

Vierländer Rauten, Rosetten und Lebensbäume sind einzigartig

Durch die Symbolkraft der dargestellten Motive könne man Rückschlüsse ziehen auf das Denken und Fühlen der Frauen und ihre Lebensumstände in der Zeit, als die Tücher hergestellt wurden. „Jedes Stickmustertuch ist anders. Und die Vierländer Rauten, Rosetten und Lebensbäume sind in der Welt der Stickmustertücher einzigartig und haben einen hohen Wiedererkennungswert, quasi ein Alleinstellungsmerkmal“, sagt die Buchautorin.

„Mir ist wichtig, dass die Stickmustertücher als ein wichtiges Stück Kulturgut wahrgenommen werden. Und vielleicht erleben die Motive heute eine Renaissance“, sagt Andrea Madadi. „Viele Menschen und Vereine in den Vierlanden bemühen sich, etwa die Vierländer Tracht und die Stickmuster zu bewahren. Es wäre doch schön, wenn in Schulen und Häkelbüdelclubs wieder Vierländer Motive gestickt werden würden und in neuen Zusammenhängen eine Wiederbelebung erfahren.“

Buchautorin arbeitet ehrenamtlich, Stiftungen spendeten Geld

Andrea Madadi organisierte die Ausstellung ehrenamtlich und wird auch an dem Buch nichts verdienen. Die Produktion des Buches ermöglichten zwei Stiftungen – Stiftung für Bergedorf und Stiftung Haus im Park –, die insgesamt 3500 Euro spendeten. Der Erlös aus dem Verkauf der Bücher geht an den Herausgeber, die Bergedorfer Museumslandschaft.

Andrea Madadi präsentiert ihr Buch „Ausgezählt: Stickmustertücher in den Vierlanden
Andrea Madadi präsentiert ihr Buch „Ausgezählt: Stickmustertücher in den Vierlanden". © Thomas Heyen | Thomas Heyen

Das Buch (Auflage: 500 Exemplare), das eine Stickmuster-Vorlage als Beilage enthält, kostet 9,95 Euro. Erhältlich ist es im Museumsshop im Bergedorfer Schloss, ab dem 1. März (nach der Winterpause) wird auch im Rieck-Haus verkauft. „Außerdem wollen wir es an die Buchhandlungen in Bergedorf und Umgebung geben“, sagt Schanett Riller (48), Leiterin der Bergedorfer Museumslandschaft. Bei weiteren Stellen mit Publikumsverkehr im Landgebiet wollen die Stick-Freunde ebenfalls anfragen, ob das Buch dort ausliegen darf.

Andrea Madadis Nachbar schießt mehr als 100 Fotos

Andrea Madadi betont, dass es sich um ein Gemeinschaftsprojekt handelt: Neben der Museumslandschaft, die auch als Lektor fungierte, habe Axel Netzband entscheidend zum Gelingen beigetragen. Von dem 69-jährigen Nachbarn von Andrea Madadi stammen die meisten der rund 100 Bilder, die in dem Buch gezeigt werden. Er fotografierte vor allem historische Stickmustertücher aus dem Fundus des Schlosses, aber auch Interviewpartner.

Netzbands Fotos waren schon bei der Ausstellung zu sehen, weil dort – aufgrund ihrer Fragilität – kaum Originale präsentiert werden konnten. Die im Schloss archivierten Originale – weit mehr als 100 Exemplare – wurden von Vierländer Familien an das Museum übergeben. Angefertigt haben die Tücher vor allem junge Mädchen. Das älteste Tuch ist von 1720, das jüngste von 1917. „Die meisten stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, sagt Andrea Madadi.

Motive und Figuren werden erklärt – 2022 Ausstellung in Altengamme

Andrea Madadis Buch fasse die Ausstellung zusammen, berichte noch ausführlicher über Stickkunst. Dem Leser werden die vielen Motive und Figuren erklärt, die die Tücher zieren. „Das Wissen darüber wurde früher im Schulunterricht gelernt und über Generationen weitergegeben“, sagt Andrea Madadi. Dies habe sich geändert. Oft gibt es religiöse Bezüge, gelegentlich vermischt mit Vierländer und Bergedorfer Kennzeichen wie Erdbeeren und dem Drei-Eichen-Wappen. Die 64-Jährige plant für 2022 eine weitere Ausstellung: Dann soll sich in Altengamme alles um die besonderen Tücher drehen.