Hamburg. 23 Jahre lang leitete sie das Kinderhaus St. Elisabeth – und erzählt von schönen Festen, Personalnot und gepeinigten Ehemaligen.
Sie erinnert einen Vater, der vor dem Eingang Blumenkübel zerdepperte und wütend „ich will mein Kind zurück!“ brüllte. Sie erinnert die drei Buben, die von der Polizei abends um 21 Uhr bei Schneetreiben gebracht wurden: „Ihr Vater hatte den Bruder ihrer Mutter ermordet. Jetzt bestand Sorge, er könne auch den Kindern etwas antun.“ Aber auch viele wunderschöne Momente will Kathrin Hettwer nicht vergessen, so etwa zuletzt den 30-jährigen Gastronomen aus Köln, der Jahre später nach Bergedorf kam, um sich höflich zu entschuldigen: „Er war ein frecher Junge und hatte mal mit einer Flasche nach mir geworfen.“
Andere tobten auf Socken rutschend durch die Gänge, schlichen sich nachts in die Küche oder rauchten heimlich hinterm Haus: Es werden Hunderte Menschlein sein, die Kathrin Hettwer am Grasredder 13 begegneten: Seit 2001 leitet sie das katholische Kinder- und Jugendhaus St. Elisabeth in Namen des Erzbischöflichen Stuhls zu Hamburg. Am 3. Mai wird die 65-Jährige in den Ruhestand verabschiedet.
Kinderhaus St. Elisabeth: 23 Jahre Arbeit für vernachlässigte Kinder
Oft sind die Eltern im Gefängnis, alkohol- oder drogenabhängig, in jedem Fall total überfordert. Dann meldet das Jugendamt eine Inobhutnahme der meist vernachlässigten Kinder an. „Zuletzt haben insbesondere die psychischen Erkrankungen von Eltern zugenommen“, sagt Hettwer, deren Haus aktuell mit 50 Bewohnern gut ausgelastet ist. Etwa ein Drittel stammt aus Bergedorf, die anderen aus dem nahen Umland wie Reinbek oder Schwarzenbek.
Sie selbst wuchs mit drei Geschwistern in Hildesheim auf, studierte in Hamburg Sozialpädagogik, leitete anschließend die katholische Kita St. Bonifacius in Eimsbüttel und ging schließlich 1995 in die mecklenburgische Kleinstadt Teterow, um hier die katholische Jugendseelsorge anzuleiten. Sieben Jahre lang.
Missbrauch durch strenge Ordensschwestern in der Vergangenheit
Zu der Zeit war das Bergedorfer Kinderheim noch in der Hand der Thuiner Franziskanerinnen (mit Ordenssitz im Emsland). Die sehr gestrengen Ordensschwestern waren nicht nur fürsorglich, wie sich manch Ehemaliger erinnert. So etwa der Hamburger Peter Hein, der drei Jahre lang von Schwester Irma geschlagen und sexuell misshandelt worden war. Sicher 20 Opfer aus dieser Zeit begrüßte Kathrin Hettwer, „zuletzt war es ein Mann, der einst durch die rigorosen Erziehungsmethoden sehr gekränkt und verletzt wurde“. Es sei ihr eine schwere Bürde, doch diese Menschen müssen darüber sprechen können. Und erfahren, dass sich vieles geändert hat: „Zum Glück haben wir heute Schutzkonzepte für eine gute Kindheit“, sagt die Hausleitung.
Mit dem Weggang der Ordensschwestern (die keinen Nachwuchs fanden) kam Kathrin Hettwer im Jahr 2001 nach Bergedorf, wo es zunächst hieß, die großen Schlafsäle umzubauen „und der modernen Pädagogik anzupassen“, so die 65-Jährige. Aber auch heute sind nicht nur Einzelzimmer erwünscht: Verängstigte Flüchtlingsgeschwister etwa schlafen anfangs noch sehr gern zusammen in einem Bett.
„Für viele Geschwister ist unser Haus berühmt“, sagt Hettwer und erinnert sieben Brüder und eine Schwester („total hilfsbereite Kinder“), die ihren überforderten Eltern abgenommen wurden.
Besonders schlimm war der Tod der zweieinhalbjährigen Michelle aus Lohbrügge, die an einem Hirnödem, ausgelöst durch eine nicht behandelte Mandelentzündung, im Juli 2004 gestorben ist: Die Mutter (28) hatte auch ihre fünf anderen Kinder mangelernährt und nachts zwischen schimmeligen Müllbergen eingesperrt, sogar die Türklinken abmontiert. Diese Geschwister, der Älteste gerade mal sechs Jahre alt, kamen ins Kinderhaus St. Elisabeth.
Fehlendes Personal: Kleinkinder können nicht betreut werden
Damals gab es neben den Wohngruppen am Grasredder noch familiäre Lebensgemeinschaften, etwa in einer benachbarten Wohnung an der Augustastraße. „Aber leider fanden wir irgendwann keine Nachfolge mehr, denn es ist schwierig, Mitarbeiter zu finden, die sich so lange verpflichten wollen“, weiß Hettwer. Derzeit kann sie nur noch davon träumen, auf eine Zeitungsanzeige einen ganzen Wäschekorb voll mit 130 Bewerbungen zu erhalten.
„Heute will kaum jemand noch Vollzeit arbeiten, auch ungern im Schichtdienst. Die Dienstpläne sind echt schwer zu puzzeln“, sagt die 65-Jährige, die den Fachkräftemangel auch beim Jugendamt bemerkt: „Das Mündel monatlich zu sehen oder Jugendhilfeplangespräche klappen längst nicht mehr regelmäßig.“ Auch ihre eigene Nachfolge ist schwer zu besetzen, solange noch jemand gesucht wird, der oder die Sozialpädagogik studiert hat und zudem katholisch ist.
Mit Blick auf den Personalmangel werden aktuell auch keine Kleinkinder betreut („das ist sehr aufwendig, weil die ja auch noch Mittagsschlaf brauchen“), wohl aber eine Jugendgruppe mit dem Nachwuchs türkischer, syrischer, deutscher und afghanischer Eltern („das ist nicht immer konfliktfrei“). Ramadan und Zuckerfeste werden ebenso vergnügt gefeiert wie Weihnachten und Ostern: „Wir sind offen, aber grundsätzlich leben wir die Haltung und Werte eines christlichen Selbstverständnisses“, betont Kathrin Hettwer.
Von Kindsmüttern und dem Kampf um Social Media
Toleranz stehe stets im Vordergrund, „auch schon vor 20 Jahren, als ein türkischer Junge mit Dreadlocks weiblich sein wollte. Damals hat noch keiner mit der Regenbogenfahne gewedelt“. Das war noch zu Zeiten, als es viele sehr junge Mütter gab, so etwa eine 16-Jährige: „Die kam mit einem elf Monate alten Baby und war schwanger mit Zwillingen“, erinnert Kathrin Hettwer.
Und überhaupt bringen alle Kinder und Jugendlichen „ein eigenes Päckchen mit“ und damit stehe wellenweise über die Jahre immer ein anderes Thema im Vordergrund: „Mal war es die Bulimiephase, dann gab es Drogen und Gewalt. Eine Zeit lang kam das Ritzen auf, und ein Dauerbrenner ist der Medienführerschein, wobei schon unsere WLAN-Verstärker von den Decken geklaut wurden“, erzählt Hettwer. Ihre schlimmste Zeit aber habe sie während der Corona-Pandemie erlebt, als die Mitarbeiter noch nicht geimpft waren und erkrankte Kinder einzeln im Rettungswagen zu Isolationsgruppen gefahren werden mussten.
Kinderheim in Bergedorf wurde vor 135 Jahren gegründet
Immerhin aber muss im Notfall nun niemand mehr aus dem Fenster geleitert werden: Ein neuer Brandschutz ermöglicht zweite Fluchtwege, nachdem in 2022 Durchbrüche in drei Treppenhäusern geschaffen wurden. Das Haus ist eben alt und hat seinen besonderen Charme. In diesem Jahr kann das 135-jährige Bestehen der stationären Unterkunft gefeiert werden.
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Bis dahin aber will die frische Rentnerin nur noch sommers im Lütjensee schwimmen, Kraniche beobachten und im Garten „rumpütschern“. Außerdem freut sie sich auf Jazzkonzerte und Kirchenmusik, will auf einer Rundreise durch Deutschland Freunde besuchen. Und ganz bestimmt wird sie ab und an wieder am Grasredder sein – allein, um neugierig zu erfahren, wer eine Lehrstelle gefunden hat, welche Hobbys und Talente entdeckt wurden. Denn auch Jahre später noch erinnert sie manch fröhliches Kindergesicht, so Kathrin Hettwer: „Aber meist wissen wir leider nicht, was aus ihnen geworden ist.“