Hamburg. Peter Hein (66) berichtet von Demütigungen und sexuellem Missbrauch in seiner Kindheit. Schwester Irma werde er nie verzeihen.
Ohne diese Ordensschwester aus dem Kinderheim am Grasredder in Bergedorf – da ist sich Peter Hein gewiss – wäre sein Leben leichter und liebenswerter gewesen. Ohne diese kräftige Schwester Irma, die den Jungen gut drei Jahre lang peinigte, ihn schlug und sexuell misshandelte – und sein weiteres Leben prägte.
Es ist eine traurige und düstere Geschichte, doch sie soll endlich ans Tageslicht: „Es gibt ja auch zehn bis zwölf andere aus Bergedorf, aber die schämen sich bis heute und wollen anonym bleiben“, erfuhr der heute 66-Jährige von einem Anwalt. Im „Hamburg Journal“ des NDR hatte er einen Bericht über Misshandlungen bei der Kinderlandverschickung gesehen und meldete sich beim Sender.
Sexueller Missbrauch in Bergedorfer Kinderheim
„Diese Kinder haben die katholischen Schandtaten wenigstens nicht so lange ertragen müssen“, glaubt Hein und ist traurig ob der angeblichen Aufklärungsversuche durch Priester und Bischöfe: „Es gibt keine ehrliche Entschuldigung, aber hoffentlich wenigstens eine Entschädigung.“
Schon sein Start ins Leben war nicht erwünscht: Die Mutter, Ursula Weber aus Gelsenkirchen, war Prostituierte auf St. Pauli. „Sie ging aber nicht zu einem Herrgottsmacher und ließ mich nicht auf einem Küchentisch abtreiben. Sie gab mich frei und bestand noch darauf, dass ich katholisch getauft wurde“, erfuhr Peter Hein. 1957 habe sie einen Matrosen geheiratet und sei nach Amerika ausgewandert, in den Bundesstaat Rhode Island – mehr war leider nie zu herauszukriegen. Sie müsste heute 86 sein.
Kinderheim in Bergedorf: 20 Jungen, ein Vollwaise
Zwei Jahre lang blieb das Baby in einem Waisenhaus in Prisdorf (Kreis Pinneberg), dann kam Klein-Peter nach Bergedorf. Hier führten damals die Thuiner Franziskanerinnen das Heim. Der Orden mit Sitz im Emsland trennte streng in einen Mädchen- und einen Jungen-Trakt.
„Wir waren 20 Jungs im Schlafsaal, aber ich war die einzige Vollwaise“, erzählt Peter Hein. Genau das wurde ihm zum Verhängnis, denn die anderen hätten zu Hause petzen können. Er aber musste diesen Psychodruck aushalten: „Wenn du den anderen Kindern was erzählst, schlage ich noch fester zu“, habe Schwester Irma ihm angedroht.
Schläge mit flacher Hand oder Kleiderbügel
Was ist geschehen? Er wird es nie vergessen: „Zwei- oder dreimal im Monat holte sie mich in ihr Schwesternzimmer und fingerte an mir herum, steckte den Finger in mein Poloch – auch wenn ich weinte, weil es wehtat.“ Das fing an, als er acht Jahre alt war. Wenn Peter wieder nachts ins Bett machte, „dann zog sie mich an den Haaren, zerrte mich unter die kalte Dusche und war sauer, weil sie nicht an mir herumfummeln konnte. Anschließend gab es Schläge mit der flachen Hand ins Gesicht oder mit einem Kleiderbügel auf den nackten Hintern. Mehrmals ist er sogar zerbrochen.“
Damit war es noch nicht vorbei: „Dann musste ich meine Matratze in den Flur schleppen und die ganze Nacht splitternackt daneben stehen bleiben.“ Wenn er sich hinlegte, gab es wieder Schläge ins Gesicht. Morgens mussten die anderen Kinder um Peter rumtanzen und laut „Peter, der Bettnässer“ rufen. Zudem gab es am nächsten Tag für ihn nichts zu essen: „Ich saß im großen Saal als einziger vor einem leeren Teller.“
Aber nicht alles sei schlecht gewesen: „Meine Lieblingsschwester Salvatora hat mich oft getröstet und mir auf der Krankenstation die Striemen auf Po und Rücken eingecremt. Sie wusste wohl von Schwester Irma, konnte aber nichts sagen“, meint Peter Hein, der immer einstecken musste: „Manchmal wurde ich stundenlang in dem Holzschrank auf dem Flur eingesperrt. Deswegen kann ich bis heute nicht im Dunkeln schlafen, muss immer ein kleines Licht anhaben.“
Adoptivvater schlug mit Rohrstock zu
Als er zehn Jahre alt wurde („da hat man mir meinen geliebten Stoff-Affen Axel weggenommen, dafür sei ich jetzt zu alt“), war das Martyrium plötzlich vorbei. Aber mit Schwester Irma verschwand leider auch sein bester Freund Thomas. Ein Jahr später, 1966, wurde auch Peter Hein in einer Pflegefamilie aufgenommen und mit 18 Jahren adoptiert – von einer katholischen Familie aus Altona, deren Sohn Michael zwei Jahre jünger war: „Die wollten eigentlich ein Mädchen, aber das Jugendamt hatte gesagt, dass ich schon so lange warten würde.“ Michael wurde ihm tatsächlich ein guter Freund – und stand ihm bei: „Papa, hör auf, ihn mit dem Rohrstock auf den Nacken zu schlagen!“ Fortan jedoch wurde Peter „wie ein Haussklave ignoriert“.
Wenn sich die anderen Kinder nach der Schule zum Spielen trafen, musste er zu Hause putzen oder die Pflegemutter zum Hafen begleiten, wo sie als Putzfrau in einer Firma arbeitete. Auch hier musste er die Büros und Treppenhäuser mit putzen. Er fühlte sich wie ein Mensch zweiter Klasse: „Auch zum Geburtstag durfte ich nie Freunde einladen. Mich hat niemand mal in den Arm genommen oder gesagt, dass er mich lieb habe. So etwas hat nur Michael hören dürfen“, sagt Peter Hein, der ein Leben lang auf Anerkennung hoffte. Die kam noch nicht bei der dreieinhalbjährigen Kfz-Lehre, nicht bei den 18 Monaten im Marinefliegergeschwader. Peter sagt, er sei mit 14 Jahren zum Alkoholiker geworden: Alkohol, um zu vergessen und um Anerkennung zu bekommen.
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Missbrauchsopfer findet endlich Anerkennung
Aber 1982, als er endlich ausgezogen war und eine Arbeit bei Steinway & Sons fand – ohne Vertrag, per Handschlag: „Ich habe die Flügel mit Polyester bespritzt und auf Hochglanz poliert. Zuletzt war ich sogar der Vize vom Meister, bekam viel Lob und habe gut verdient“, freute er sich – bis zu dem Tag, als die Thrombose nicht mehr erträglich war. Der Rest ist kurz erzählt: Nach 35 Jahren kamen die Erwerbslosenrente, ein achtmonatiger Alkoholentzug (der bis heute hält), ein Minijob bei Budni und vor sechs Jahren die Beerdigung des lungenkrebskranken Michael, seinem besten Freund: „Da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben weinen können.“
„Lerne aus deiner Vergangenheit, aber mach sie nicht zu deinem Leben.“ Solche Sprüche postet Peter Hein heute am Handy. „Ich habe immer kämpfen müssen, mich aber nie unterkriegen lassen“, meint der Mann, der jahrelang nicht wusste, wo er seine Gefühle einordnen konnte: „Meine erste Ehe hielt nur sieben Monate. Ich hatte Angst davor, mit einer Frau zu schlafen.“ Nach zehn Jahren ging er erneut eine Ehe ein: „Sie liebte aber nur mein Geld. Und ich war froh, dass keiner merkte, dass ich schwul bin, ich nicht verachtet wurde.“ Zehn Jahre später, nach der „Alibi-Ehe“, habe er sich geoutet – und es ein einziges Mal mit einem Mann versucht: „Der Bernd hat aber in meinem Zimmer gekifft, das mochte ich nicht.“ Ende des Liebeslebens.
„Die Kinder haben es jetzt gut, das ist sagenhaft“
Er fühle sich jetzt endlich glücklich und ausgewogen, sagt der Mann, der seinen Kleingarten in Eimsbüttel liebt. Vor Kurzem kam er erstmals wieder nach Bergedorf: „Es war Balsam für meine Seele, noch mal das Heim im heutigen Zustand zu sehen. Da hat jetzt jedes Kind ein eigenes Zimmer und kann sich zurückziehen. Alles ist hell und freundlich. Die Kinder haben es jetzt da gut, das ist sagenhaft“, denkt der 66-Jährige, der sich ausgiebig mit Kathrin Hettwer unterhalten konnte, die das heutige Kinder- und Jugendhaus mit seinen 64 Plätzen leitet – immer noch katholisch: Seit 1996 ist das Erzbistum Hamburg der Träger des Heims. „Wir tun alles Mögliche, damit ein solches Leid nie wieder passiert. Es gibt etwa den gelben Briefkasten für die Kinder und seit 2014 auch ein Schutzkonzept, das vom Erzbistum zertifiziert wird“, betont Kathrin Hettwer.
Bei Peter Hein indes bleiben die unguten Erinnerungen an Bergedorf – auch aus der katholischen Grundschule, der „Heimschule“: „An der Chrysanderstraße war Franz Kelber der Direktor. Der hat auch gern zugeschlagen, am liebsten mit dem Lineal auf die Finger. Das galt damals wohl als übliche Erziehungsmaßnahme.“ Das alles habe ihn geprägt – daher habe er niemals die Hand gegen andere erhoben: „Ich weiß ja, dass Schläge wehtun“, sagt Peter Hein, der gern seinen Pullover mit dem Adler trägt: „Der bedeutet Freiheit.“
Missbrauch noch immer abgestritten
Er gelte als gutmütig, habe sogar seiner Adoptivmutter auf dem Sterbebett versprochen, ihr zu verzeihen – „damit sie in Ruhe sterben kann“. Letztlich sei er doch ein guter Mensch geworden: vernünftig, ordentlich und strebsam. Und er glaube noch an Gott – wenn auch nicht an die Kirche. Der Franziskaner-Orden streite den Missbrauch noch immer ab: „Von der Diözese gibt es, wenn überhaupt, bloß einen Standardbrief. Dagegen war die Stadt Hamburg viel offener und hat mir 2015 anstandslos 10.000 Euro als Entschädigung gegeben“.
Einmal Fernsehen, einmal Zeitung – damit soll es nun gut sein: „Dann wissen die anderen Missbrauchsopfer, dass sie jetzt auch Rechte auf Entschädigung haben“, betont Peter Hein – und will sich doch noch mit einer Renate treffen: „Die hat mir geschrieben, dass ihr verstorbener Bruder von 1950 bis 1958 auch im Bergedorfer Kinderheim war. Und zum Alkoholiker geworden war.“ Ihr wird er genauso sagen: „Schwester Irma hat mein Leben versaut. Vergeben kann und werde ich dieser Frau nie.“