Bergedorf. Alarmierende Zahlen rufen Bergedorfer Bezirkspolitik auf den Plan. In Lohbrügge versorgt ein einziger Mediziner 3167 Menschen.
Plötzlich Zahnschmerzen, schlimmes Halsweh oder ein geschwollenes Auge? Keine rosigen Aussichten für Bergedorfer, die spontan zum Arzt müssen. Auch wer einen Termin beim Facharzt braucht, muss sich auf lange Wartezeiten einstellen: Seit Jahren schon ist es schlichtweg schwierig bestellt um die medizinische Versorgung im Bezirk. Das Thema greift Maria Westberg von den Linken nun erneut in der Bezirksversammlung auf: Nicht nur die vergebliche Arztsuche, sondern auch das Alter der Doktoren sei ein Problem: „In den nächsten fünf Jahren gehen viele in Rente und finden vielleicht keinen Nachfolger“, fürchtet die Politikerin, die nun die Bezirksverwaltung auffordert, mit Gesundheitsamt und Kassenärztlicher Vereinigung (KV) eine Liste zu künftigen Verlusten anzulegen und Lösungsmöglichkeiten zu finden.
„In Curslack kommt ein Hausarzt auf 921 Menschen, in Neuallermöhe muss ein Hausarzt 2921 Menschen betreuen, und in Lohbrügge sind es sogar 3167 Menschen“, führt Maria Westberg auf. Bergedorf und Curslack seien zumindest mit Kinderärzten gut versorgt, aber keineswegs Neuallermöhe und Lohbrügge: „Die Spitze bildet Kirchwerder, hier gibt es schlicht und ergreifend keinen Kinderarzt“, so Westberg.
Bloß drei Prozent der niedergelassene Hausärzte im Bezirk sind unter 40 Jahre alt
Der Bezirk wächst, „aber die Infrastruktur ist nicht mitgewachsen“, bemerkt auch Reinhard Krohn (AfD). Christdemokrat Mathias Zaum verweist auf die Problematik der Arztsitze, bei der ganz Hamburg als ein Versorgungsgebiet betrachtet wird, die meisten Praxen jedoch in der Innenstadt anstatt in Randbezirken zu finden sind: „Wir müssen uns endlich aus dem Würgegriff der KV lösen“, fordert er. Ein KV-Vertreter möge nun auf einer nächsten Sitzung des Bergedorfer Gesundheitsausschusses referieren.
Tatsächlich fehlt es an Nachwuchs, sind ein Drittel der Hamburger Kassenärzte über 60 Jahre alt und stehen damit kurz vor dem Rentenalter. Eine Statistik der KV Hamburg zeigt, dass es kaum noch niedergelassene Hausärzte unter 40 Jahren gibt, im Bezirk Bergedorf sind das bloß drei Prozent. Der Großteil indes ist zwischen 50 und 59 Jahre alt, nämlich exakt 42 Prozent. Fast ein Drittel ist zudem noch älter: 32 Prozent der Bergedorfer Hausärzte sind zwischen 60 und 69 Jahre alt.
Nicht gerade besser zeigt sich das Bild für die HNO-Ärzte in Bergedorf, von denen ein Drittel unter 50 Jahre alt ist, die Mehrheit mit 44 Prozent aber zwischen 50 und 59 Jahre zählt. Etwas jünger sieht es indes bei Bergedorfs Kinderärzten aus: Fast die Hälfte (46 Prozent) sind unter 50 Jahre alt. Auch das ältere Semester ist vertreten: Jeder fünfte Bergedorfer Kinderarzt ist zwischen 50 und 60 Jahre alt (20 Prozent).
Die Mehrheit der Bergedorfer Frauenärzte und Urologen ist über 50 Jahre alt
Ebenso könnte es bald auch Engpässe bei den Frauenärzten geben, von denen gut die Hälfte (52 Prozent) zwischen 50 und 59 Jahre alt sind. Ähnlich bei den Bergedorfer Urologen: Von ihnen sind 55 Prozent in diesem Alter.
Wenn sie in den Ruhestand gehen, werden sie große Schwierigkeiten haben, Nachfolger für die Praxis zu finden. Die KV fürchtet, dass somit verstärkt zentral gelegene Großpraxen und medizinische Versorgungszentren (MVZ) entstehen. Das gehe dann „oft zulasten von ärmeren Stadtteilen“, heißt es.
Lohbrügger Gesundheitszentrum hilft unkompliziert
Zwar brachte es nicht mehr Arztsitze, aber immerhin startete der Hamburger Senat ein zweijähriges Modellprogramm mit insgesamt fünf Gesundheitszentren, so auch am Herzog-Carl-Friedrich-Platz in Lohbrügge. Mit jährlich 100.000 Euro finanziert die Sozialbehörde hier drei halbe Personalstellen, um schnell und unkompliziert Menschen helfen zu können, die keine ärztliche Anlaufstelle finden: „Es ist eine Entlastung für angespannte Gegenden. Der Bedarf ist da, die Menschen nehmen unsere Hilfe an“, sagt Lutz Jobs, Geschäftsführer des Trägervereins „Der Begleiter“.
Seit der Eröffnung Mitte Juni 2023 konnten bisher 348 Menschen beraten werden: Das Gros von ihnen (171) hatte ein soziales Anliegen, bei 93 Menschen standen medizinische Probleme im Vordergrund, neunmal war ein Migrationsthema zu besprechen, und in 75 Fällen ging es um die psychische Gesundheit. Die meisten Hilfesuchenden sind zwischen 35 und 64 Jahre alt.
Sozialberatung ist sehr gefragt
Als Krankenschwester ist Friederike Federle im Team und unterstützt die beiden Sozialberater Michaela Feucht und Omeed Khadem Saba, der auch Persisch und Dari spricht. „Sie nehmen sich 45 Minuten Zeit für jeden Erstkontakt und fragen nach allen Wehwehchen“, sagt Projektkoordinatorin Solveig Piro. Hier einige Beispiele aus dem Alltag: Ein Arzt schickt eine psychisch belastetet Mutter vorbei, die zudem Schulden hat: „Sie hat sich mit ihrem Mann gestritten und muss dringend ausziehen. Wir vermitteln Kontakte zu Frauenhäusern, zur Diakonie und dem Verein ‚Frauen helfen Frauen‘“, sagt Saba.
Oder es kommt ein 45-Jähriger mit einer akuten Mandelentzündung, der vor allem eine Bescheinigung zur Arbeitsunfähigkeit braucht. Ein anderer hat eine Sozialphobie, braucht aber Hilfe beim Antrag fürs Bürgergeld. Eine Lohbrüggerin ist depressiv, der Arzt rät ihr, die Frührente zu beantragen. Es kam auch der Maler, der nach einem Arbeitsunfall ein halbes Jahr im Krankenhaus lag, inzwischen arbeitslos und geschieden ist: „Er muss sein Leben neu sortieren, da können wir an die ambulante Sozialpsychiatrie an der Bergedorfer Schlossstraße verweisen“, erläutert Geschäftsführer Jobs.
Nur sechs Stunden pro Woche geöffnet
Eine Kooperation besteht zudem mit der Lohbrügger Allgemeinmedizinerin Maren Oberländer, die trotz langer Warteliste bei der Grundnotfallversorgung einspringt und Kunden des Gesundheitszentrums an sieben Stunden pro Woche eine offene Sprechstunde anbietet. „Wir sind eine niedrigschwellige Schnittstelle. Die Hausärzte schicken Leute hierher oder es kommen Leute zu uns, die keinen Hausarzt haben“, so Lutz Jobs, der hofft, dass das Gesundheitszentrum auch nach Ende 2025 weiterfinanziert wird – wenn auch die Öffnungszeiten sehr begrenzt sind: Dienstag (12 bis 14 Uhr), Mittwoch (10 bis 12 Uhr) und Freitag (9 bis 11 Uhr).
Einer ähnlichen Idee folgen die Gesundheitskioske, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bundesweit einführen wollte, um „den Zugang zur Versorgung der Patientinnen und Patienten mit besonderem Unterstützungsbedarf zu verbessern und die Versorgung zu koordinieren“.
Sozialarbeiter direkt in die Arztpraxen?
Hier regt sich aber vor allem Kritik auf Seiten der FDP, die eine „Doppelstruktur“ befürchtet. Auch der Hausärzteverband ist skeptisch und möchte lieber Sozialarbeiter direkt in den Praxen einsetzen, so der Bundesvorsitzende Dr. Markus Beier: „Wenn die Sozialberatung in der Arztpraxis vorgehalten wird, ist die Schnittstelle viel besser managebar.“
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Ein Verfechter der Kiosk-Idee ist hingegen die AOK: „Wir machen weiter!“, heißt es bei der AOK Rheinland/Hamburg, deren Vize-Vorstandsvorsitzender Matthias Mohrmann die Politik kritisiert: „Es ist bedauerlich, dass ein Gesetz, dessen Zielsetzung es war, die medizinische Versorgung in den Kommunen zu stärken, in der politischen Abstimmung so sehr geschliffen wurde, dass es mit der ursprünglichen Ambition nur noch wenig gemein hat.“ Bundesweit 1000 Gesundheitskioske seien aber zu viel, so Mohrmann: „Wenn wir sie nur in den Stadtvierteln und ländlichen Regionen errichten, wo sie wirklich gebraucht werden, genügen 50 bis 100 Einrichtungen in ganz Deutschland.“