Neuallermöhe. Im Sommer 2023 stand alles still. Jetzt will Martin Raetz ein großes Abenteuer wagen. Er erzählt, wie es dazu gekommen ist.

Lehrer Martin Raetz (44) arbeitet als Sportfachleiter an der Gretel-Bergmann-Schule in Neuallermöhe. Seit 13 Jahren wettet er mit seinen Schülern und Schülerinnen um Kondition und Ausdauer. So schaffte der passionierte Läufer seinen ersten 100-Kilometer-Lauf in Leipzig (in 13 Stunden) und seine damalige Klasse im Gegenzug das Abitur. Jetzt darf es noch etwas mehr sein. 250 Meilen, also 400 Kilometer, zählt der „Thames-Ring-250“, eine Art Extremmarathon. Laufen muss man den Rundkurs östlich von London in 100 Stunden. „Das übersteigt deutlich meine bisherigen Läufe“, sagt Martin Raetz. Aber er hat einen Grund, am 24. April bei dem Event in Südengland am Start zu sein.

„Unsere Kinder sind 14, acht und sechs. Stella wäre jetzt ein halbes Jahr alt.“ Mit diesem Satz beginnt die Geschichte des Familienvaters Martin Raetz. Die Diagnose für Stella kam, als seine Frau Britta, ebenfalls Lehrerin, in der 17. Woche schwanger war. Nach Auswertung eines Bluttests teilte man ihr am Telefon mit, dass man bei dem Ungeborenen Trisomie 13 diagnostiziert habe. „Ich sah meine Frau in der Schule weinen, und dann haben wir hier gesessen. Vollkommen ratlos. Meine Erinnerung an diesen Raum ist also nicht so gut“, erklärt er beim Gespräch im Ruheraum der Gretel-Bergmann-Schule.

Trisomie 13: Lehrer läuft Extremmarathon für seine tote Tochter Stella

Die Prognose war niederschmetternd, der Pränatal-Diagnostiker nicht gerade feinfühlig. Aufgehoben fühlten sich Stellas Eltern erst wieder beim Palliativ-Team Nord des UKE: „Da hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, bedingungslos über unsere Ängste und Sorgen reden zu können.“ Das UKE-Team hat die Situation zu keinem Zeitpunkt bewertet. Das war wichtig. Auf dieser Basis traf das Paar eine Entscheidung, die zwar schmerzhaft war, sich aber richtig anfühlte. „Die Entscheidung, Stella auszutragen und zu hoffen, dass wir sie alle noch kennenlernen können“, erinnert sich Martin Raetz.

Die Prognose für an Trisomie 13 erkrankte Kinder ist hart. Ein Drittel der Kinder stirbt im Mutterleib, ein Drittel übersteht die Geburt nicht, die günstigste Prognose liegt bei neun Monaten Lebenszeit. „Unsere Prognose lag bei sechs bis 24 Stunden. Tatsächlich war Stella 13 Tage am Leben“, erzählt Raetz. 13 Tage zum Hallo sagen, zum Halten, zum Abschied nehmen. 13 Tage, in denen Stellas Eltern mit ihrem Kind Waldluft atmeten und den Elbwellen lauschten. Schon am Morgen des zweiten Tages beschäftigten sie sich aber auch mit der Frage, wer ihnen in dieser schwierigen Phase am besten helfen könnte. So kam das Kinderhospiz
Sternenbrücke ins Spiel.

Die Sternenbrücke ermöglicht es den Eltern, ganz für Stella da zu sein

Seit 2003 werden in Rissen unheilbar kranke junge Menschen und deren Familien betreut und begleitet. Martin Raetz hatte seine eigene Vorstellung von diesem Ort: „Ich hatte einfach Angst, weil es der Ort des Sterbens sein würde. Und dann war alles so wunderbar anders. Schon beim Ankommen hat uns die friedliche Atmosphäre beruhigt. Die Menschen waren emphatisch und gleichzeitig unglaublich professionell. Man hat alles getan, um uns etwas von unserer Sorge zu nehmen.“ Während der Zeit in der Sternenbrücke wurden Stellas Geschwister pädagogisch betreut und den Eltern damit ermöglicht, für Stella da zu sein. Beide wollten den Körperkontakt. Keine Intensivstation, keine Schläuche. Martin Raetz und seine Frau hielten ihre Tochter im Arm – „eigentlich die ganze Zeit“. Stella starb am 20. Juli 2023 in den Armen ihres Vaters, nach einem letzten tiefen Atemzug.

Nach Stellas Tod fuhr Martin Raetz nachts mit dem Zug nach Lübeck und lief von dort an den Strand. „Bei Sonnenaufgang habe ich etwas Sand für Stellas Grab gesammelt.“ An diesem Tag entstand auch die Idee zu einem Spendenlauf für die Sternenbrücke und zu dem Projekt „stella.runs.250“. Das Rennen in England ist auf 80 Starter limitiert. Das Gepäck wird von Checkpoint zu Checkpoint transportiert. Die Zeit läuft ohne Pause. Geschlafen wird unter freiem Himmel. Jeder entscheidet für sich, wann und wo. Professionelle Läufer kennen solche Bedingungen. „Der Körper nimmt sich den Schlaf, den er braucht. Im blödesten Fall überhört man dann jeden Wecker“, weiß Martin Raetz. Er weiß auch, dass beim Thames-Ring durchschnittlich nur ein Drittel der Teilnehmer das Ziel erreicht. Wie weit man kommt, hängt von der Kondition und vom Orientierungssinn ab.

Strecken laufen, die wie Umrisse eines Tieres aussehen und den Orientierungssinn schärfen

Die Methode, nach der Martin Raetz seinen Orientierungssinn schult, hat ihn in der norddeutschen Läufer-Szene bekannt gemacht. Ein Freund skizzierte auf der Karte den Umriss eines Tieres, Martin lief das Motiv ab und kontrollierte nachträglich per App, wie gut es ihm gelungen war. 30 Tiermotive ist er so inzwischen rund um Hamburg abgelaufen. In der Szene ist er seitdem „der, der die Tiere läuft“.

Martin Raetz läuft Strecken, die wie Umrisse von Tieren aussehen. Hier eindeutig ein Elefant.
Martin Raetz läuft Strecken, die wie Umrisse von Tieren aussehen. Hier eindeutig ein Elefant. © bgz | Privat

Noch weiß er nicht, wie weit ihn dieses Training durch „stella.runs.250“ trägt. Viel wichtiger ist ihm, dass bereits erste Spendengelder für die Sternenbrücke geflossen sind. Sein früherer Heimatlaufverein, die Laufgemeinschaft eXa Leipzig ist mit den Startgeldern eines Stundenpaarlaufs dabei, ebenso der Erlös aus einem Losverkauf beim Footballspiel der Hamburger SeaDevils und die Spende eines ehemaligen Schülers, der ein Benefiz-Turnier der Darts-Mannschaft des SC Eilbek organisierte. Auch die Startgebühren des jährlich im Februar stattfindenden Spendenlaufs „Gretel hilft“ gingen dieses Jahr komplett an das Kinderhospiz Sternenbrücke. Am Nachmittag des 11. Februar waren mehr als 5500 Euro im Topf.

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Am 24. April geht der Lauf in England weiter. Teilnehmer und Etappen lassen sich im Internet verfolgen. Wer das Spendenprojekt von Martin Raetz unterstützen möchte, kann sich gern bei ihm melden. Er sammelt weiter für die Sternenbrücke, die sein Bild von einem Hospiz korrigiert hat. Es ist nicht mehr das von der letzten Station, sondern von einer Heimat für alle, deren Leben schwierig, weil der Tod so nah ist.

Das Projekt „stalla.runs.250“ kann jeder unterstützen

Stellas Grab liegt auf dem Friedhof von Curslack. Martin Raetz und seine Frau Britta sind nicht Mitglied der Gemeinde. Für Pastor Alexander Braun war es trotzdem selbstverständlich, dass Stellas Grab so nah wie möglich bei der Familie sein kann. Alle kommen fast täglich daran vorbei. Vieles, sagt Martin Raetz, hält die Erinnerung an Stella wach: „Das Grab auf dem Weg, ein Windrad in unserem Garten, die Fotos und Erinnerungsstücke aus der Sternenbrücke und stella.runs.250.“

Wer das Projekt „stella.runs.250“ unterstützen möchte, findet weitere Infos unter www.betterplace.org/de/fundraising-events/45004-stella-runs-250 oder beim Kinderhospiz Sternenbrücke. Den Thames-Lauf kann man verfolgen über https://challenge-running.com/thames-ring-250/