Hamburg. Prozess von 2023 wird am Landgericht neu aufgerollt. Staatsanwaltschaft war die Strafe für den Unfallfahrer von Lohbrügge zu gering.
Am Abend des 9. August 2021 verlor Ismail S. (32) die Kontrolle über seinen Mercedes-SUV und verursachte auf der Lohbrügger Landstraße einen schweren Unfall. Zwei Menschen wurden schwer verletzt, das dritte Unfallopfer, der 23-jährige Pizzabote Hezbullah A. aus Afghanistan, erlag kurz nach dem Crash seinen lebensgefährlichen Verletzungen. Vor dem Amtsgericht Bergedorf wurde Ismail S. im Mai 2023 zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Eine zu milde Strafe, befand danach die Staatsanwaltschaft. Sie hatte zwei Jahre und drei Monate Freiheitsentzug gefordert.
In der Verhandlung über die Berufung der Staatsanwaltschaft und die des Angeklagten durch dessen Verteidigerin Konstanze von der Meden kamen nun vor dem Landgericht Hamburg die Details erneut auf den Tisch. Sie belegen, dass Ismail S. mit 68 km/h zu schnell und unter starkem Medikamenteneinfluss unterwegs war. „Ein Abstinent wäre mit dieser Dosis gar nicht mehr ins Auto gekommen“, kommentiert der Sachverständige Dr. Alexander Müller vom Rechtsmedizinischen Institut am UKE.
Prozess um Tod eines Pizzaboten in Lohbrügge wird neu aufgerollt
Müllers toxikologisches Gutachten erklärt Wirkung und Wechselwirkung der Tablettenmischung, wie sie in der am Unfallort entnommenen Blutprobe des Fahrers nachgewiesen wurde. Darunter Reste aus sedierenden Medikamenten wie dem Schlafmittel Zopiclon und dem starken, schnell süchtig machenden Schmerzmittel Oxycodon.
Nachgewiesen wurden die Substanzen in einer Höhe, die auf eine unsachgemäße Einnahme schließen lässt. Für die Staatsanwaltschaft machen Einnahmezeit und die Dosierung der Psychopharmaka den Unterschied zwischen fahrlässiger und vorsätzlicher Gefährdung aus. Für Vorsatz sind im Strafmaß zwei bis fünf Jahre Freiheitsentzug vorgesehen.
Ismail S. ließ sich seine Medikamente von mehreren Ärzten verschreiben
Ismael S. litt im Sommer 2021 unter Cluster-Kopfschmerzen und Schmerzen in Bein und Rücken. Eine notwendige OP wurde zur Hoch-Zeit der Corona-Epidemie immer wieder verschoben. Verhängnisvoll in diesem Fall: Ismail S. ließ sich seine Medikamente von mehreren Ärzten verschreiben. Keiner hatte den Überblick über die Dosierung.
Auch die Ehefrau wusste laut ihrer Zeugenaussage am Freitag, 2. Februar, nicht, wann ihr Mann welche Medikamente zu sich nahm. „Wir haben uns damals kaum gesehen“, sagt sie über den Sommer 2021. Das Ehepaar war zu der Zeit im Begriff, von Pinneberg nach Bergedorf umzuziehen und dort einen neuen Pflegebetrieb aufzubauen.
Auch interessant
- Spekulanten und Abrissbagger zerstören Lohbrügges Zentrum
- 96 Kleingärtner an der A25 müssen ihre Parzellen räumen
- Lohbrügges alte Bücherhalle erfüllt jetzt einen neuen Zweck
Im Gericht fragt der Vorsitzende Richter Stöber den Angeklagten immer wieder nach den involvierten Ärzten. Ismail S. kann nur den Hausarzt aus Pinneberg nennen. Auch J. ist als Zeuge geladen. Der Arzt legt die Oxycodon-Verschreibungen vom Februar bis Juli 2021 vor. Sie variieren zwischen 100 und 200 Tabletten pro Packung – nach der verordneten Dosierung zu viel.
„Wenn ich gewusst hätte, dass der Patient auch Schlafmittel nimmt, hätte er auf keinen Fall Oxycodon von mir bekommen“, sagt J. heute. Die hohen Dosen zwischendurch kann er sich nicht erklären. „Das ist durchgerutscht“, sagt J. und verweist auf die Ausnahmezustände in den Praxen während der Corona-Zeit. Jeder Arzt hätte sich da auf sein Personal verlassen müssen.
Familie des Unfallopfers lebt in Afghanistan
Zum Ende des Prozesstags stellt der technische Sachverständige Christopher Tschierschke das Gutachten zum Unfallhergang vor. Dabei wird eine computergestützte Simulation des Geschehens mit den Gegebenheiten vor Ort und den Schäden an den Fahrzeugen abgeglichen. Nicht alle Ergebnisse aus diesem Verfahren decken sich mit den Zeugenaussagen der zuvor gehörten Unfallbeteiligten.
Die Unklarheiten werden zum nächsten Gerichtstermin am 15. Februar Thema sein, denn weitere Prozesstage sind angesetzt. Während die meisten Zeugen nach ihrer Aussage die kleine Strafkammer verließen, verfolgten die Eltern und die Ehefrau von Ismail S. den gesamten Prozesstag auf der Zuschauerbank. Von den Angehörigen des toten Hezbullah A. war niemand im Gericht. Die Familie des Unfallopfers lebt in Afghanistan.