Bergedorf. Opferhelfer in Bergedorf betreuen 16 Überlebende des Amoklaufs in Alsterdorf. Keine leichte Aufgabe für die ehrenamtlichen Helfer.

Nur noch wenige Wochen, und er wird sich erstmals jähren, der Tag, der das Leben so vieler Menschen für immer verändert hat. Die Amoktat vom 9. März 2023, als ein Mann in einem Königreichssaal der Zeugen Jehovas in Alsterdorf sieben Menschen erschoss, etliche weitere verletzte und sich dann selbst richtete, wirkt bis heute nach. Auch in Bergedorf. Denn die hiesige Außenstelle des Opferhilfevereins Weißer Ring betreut nach eigenen Angaben 16 der mehr als 30 Menschen, die die Tat miterleben mussten.

Dass neben der für Alsterdorf zuständigen Außenstelle auch der Weiße Ring in Bergedorf diese Aufgabe übernommen hat, ist einer Besonderheit geschuldet: Der hiesige Leiter Werner Springer ist einer von hamburgweit zwei Koordinatoren für Großeinsatzlagen beim Weißen Ring. Nach dem Terroranschlag vom Breitscheidplatz in Berlin 2016 hatten sowohl der Weiße Ring als auch die Hamburger Sozialbehörde Notfallpläne für die Betreuung von Amok- und Terroropfern entworfen. Diese Pläne griffen nun nach der Amoktat in Alsterdorf – „erfolgreich“, wie Werner Springer sagt.

Weisser Ring in Bergedorf betreut 16 Zeugen Jehovas aus Alsterdorf

Der Weiße Ring in Bergedorf (Außenstelle Süd-Ost für Bergedorf und Umgebung) sei bereits am Morgen nach der Tat „in Habachtstellung“ gewesen, so Springer. Weil es sich bei den Opfern um Zeugen Jehovas handelt, die viel innerhalb ihrer Gruppe klären, „waren wir aber zunächst zurückhaltend und wussten auch nicht, ob die Beratung in Anspruch genommen wird“. Doch dann sei der erste Fall „relativ schnell bei uns angekommen“.

Details kann Springer zwar nicht nennen. Doch wie auch in anderen Fällen üblich, konnte der Weiße Ring den Betroffenen „die Wege zeigen, wie und wo sie Hilfe bekommen“. Oft geht es darum, Anträge zu stellen – etwa auf Opferentschädigung aus einem speziellen Fonds. Oder es geht um Kontakte zu Trauma- oder Psychotherapeuten, verbunden mit „Gutscheinen“ für eine therapeutische Erstberatung. Es geht um anwaltliche Hilfe, um benötigte Kontakte, bei Bedarf um finanzielle Soforthilfe – oder ganz einfach um menschlichen Beistand.

Werner Springer (70) ist der Chef des Weißen Rings in Bergedorf/Billstedt (Hamburg Süd-Ost)
Werner Springer (70) ist der Chef des Weißen Rings in Bergedorf/Billstedt (Hamburg Süd-Ost) © Christina Rückert | Christina Rückert

Dieser menschliche Beistand hat auch die Ehrenamtlichen des Weißen Rings viel Kraft gekostet. Denn die Tat war von unvorstellbarer Grausamkeit, das Geschehen traumatisch. Wie „in einem billigen Western“ hätten die Menschen erleben müssen, wie Kugeln an ihnen vorbeiflogen. Sie mussten sich teilweise auf Toiletten verschanzen und um ihr Leben fürchten. „Das alles kann man sich kaum vorstellen“, so Springer. Und so hätten sich auch die ehrenamtlichen Berater später in eine Supervision begeben, um das Geschilderte verarbeiten zu können.

Auch sonst war nicht alles immer einfach, räumt Springer ein. So wurden Anträge beim Versorgungsamt nur langsam bearbeitet, weil bestimmte Fristen eingehalten werden mussten. In der Folge seien Betroffene zunächst auf Rechnungen sitzengeblieben, bedauert Springer. Das habe zu Unzufriedenheit geführt. Manches wiederum klappte gut. So konnte der Weiße Ring einigen Opfern gerade eine dreitägige Auszeit über Silvester organisieren, außerhalb Hamburgs. Denn: „Viele Betroffene haben Panikattacken, wenn es knallt.“ Feuerwerksgeräusche hätten sie nicht ertragen.

92 Opfer hat der Weiße Ring Bergedorf in diesem Jahr betreut

Jenseits der Betreuung der Amoktatopfer war es ein eher ruhiges Jahr beim Weißen Ring in Bergedorf. Insgesamt hat der Verein im vergangenen Jahr laut Statistik 92 Opfer betreut, die zu 77 Fällen gehören. Die Fallzahl sei nun wieder auf dem Vor-Corona-Niveau, so Springer. Viele Fälle würden die elf aktiven Ehrenamtlichen schon längere Zeit begleiten.

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In der Mehrzahl wurden in Bergedorf Opfer von Körperverletzungsdelikten betreut (20 Fälle). Auf Platz zwei liegen Sexualdelikte (18 Fälle), gefolgt von Tötungsdelikten (meist ältere Fälle) und Nachstellungen. Aufschluss auf die Zahl der Delikte im Bereich Bergedorf gibt die Statistik nicht, denn längst nicht alle Opfer von Straftaten suchen Hilfe beim Weißen Ring: „Bei Beziehungstaten gibt es zum Beispiel sehr viele Beratungsstellen in Hamburg“, so verteile sich das mehr. Und bei Enkeltrick, Schockanruf und Co. „ist die Hemmschwelle teilweise groß, sich Hilfe zu suchen“. Denn manche Betroffene würden sich schämen.

Wer das Angebot annimmt, erhält aber umfangreiche Hilfe, oft auch finanziell. Der Weiße Ring Bergedorf, der sich über Mitglieder und Spenden finanziert, konnte 2023 eine Rekordsumme auszahlen. Mehr als 50.000 Euro waren es, zudem 24 Hilfsschecks für eine psychologische Erstberatung im Wert von etwa 190 Euro. Insgesamt „so viel wie noch nie“, sagt Springer. Erfreulich: Während im vergangenen Jahr manche Menschen versucht hatten, sich finanzielle Hilfen zu ertricksen, spielte das 2023 keine Rolle mehr.