Hamburg. Der Fahrer war ohne Führerschein unterwegs. Nach dem Unfall traf er eine folgenschwere Entscheidung für seine ganze Familie.
„Ich habe das nicht gewollt“, sagt Mustafa Demir (Name geändert) im Verhandlungsraum des Amtsgerichts Bergedorf. Dann kommen dem 58-Jährigen die Tränen und er fügt hinzu: „Ich bin schuldig.“ Der Boberger hat im Oktober 2021 eine heute 64-jährige Frau und ihren Enkel mit dem Auto angefahren. Weil er keinen Führerschein hatte, versuchte er zu vertuschen, dass er am Steuer saß und verstrickte so auch seinen Sohn und seine Frau in den Fall. Die beiden sitzen am Mittwoch neben Mustafa Demir auf der Anklagebank. Am Ende kommt der reuige Täter mit einer Bewährungsstrafe davon.
Demir fährt am Tag der Tat gegen 9.34 Uhr mit dem Mercedes C220d seiner Frau den Bockhorster Weg entlang und biegt in die Straße Auf dem Langstücken ein. In diesem Moment überquert die Großmutter mit ihrem Enkel die verkehrsberuhigte Straße. Der damals Zweieinhalbjährige sitzt auf seinem Bobbycar. Demir übersieht die Fußgänger und rammt sie mit seinem Auto, Großmutter und Enkel werden durch die Luft geschleudert. „Ich stand unter Schock“, sagt der 58-Jährige vor Gericht. Mustafa Demir weiß, dass er in Schwierigkeiten steckt.
58-Jähriger überfuhr Großmutter mit ihrem Enkel
Denn der Boberger besitzt keinen gültigen Führerschein. Und er ist kein unbeschriebenes Blatt. Erst zwei Monate zuvor war er 2021 bereits wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden. Auch 2017 saß Demir illegal am Steuer und verletzte damals schon einen anderen Verkehrsteilnehmer bei einem Unfall. Deswegen gerät er jetzt in Panik. Er ruft seinen heute 29-jährigen Sohn Ömer Demir (Name geändert) an und beichtet den Vorfall. Die Familie wohnt in Laufreichweite, Ömer Demir eilt sofort herbei. Während Rettungssanitäter sich um das Opfer und ihren Enkel kümmern, spricht der Sohn mit der Polizei und behauptet, er habe am Steuer gesessen. Sein Vater nutzt die Gelegenheit, um zu verschwinden.
Mustafa Demir leugnet die Unfallflucht nicht. Er beteuert aber, nicht zu schnell gefahren zu sein. Betont: „Außerdem hat mich die Sonne geblendet, ich habe die beiden nicht gesehen.“ Er habe das Opfer von der Straße gezogen und der Frau eine Decke aus seinem Auto gebracht. Zeugenaussagen bestätigen sowohl die Hilfeleistung als auch die schlechten Sichtverhältnisse. Sein Sohn – der einen gültigen Führerschein besitzt – ist ebenfalls geständig. Er habe seinen Vater schützen wollen. „Ich habe schnell realisiert, dass es ein Fehler war. Ich würde es nie wieder tun. Aber ich stehe dazu“, sagt er mit fester Stimme.
Vater und Sohn betonen, sich vor Ort nicht abgesprochen zu haben. Ömer Demir habe die Entscheidung spontan getroffen, für seinen Vater zu lügen: „Ich wusste, dass mein Vater keine Fahrerlaubnis hat und hatte Angst, dass er ins Gefängnis muss.“ Die bei dem Unfall verletzte Frau stellt die Situation anders dar: „Als ich am Boden lag, kam Mustafa zu mir und sagte mir, ich solle sagen, dass sein Sohn gefahren ist.“ Sie kann sich nicht erinnern, dass der Unfallfahrer ihr geholfen hätte.
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Die heute 64-Jährige erlitt bei dem Unfall mehrere Brüche in den Beinen und Füßen. Sie lag einen Monat im Krankenhaus und musste vier Operationen über sich ergehen lassen. „Zuletzt wurden mir 14 Schrauben aus dem Bein entfernt“, berichtet sie. Ihr Enkel zog sich Prellungen und Schürfwunden zu. Die Sorge um den Jungen trieb die Großmutter um, sie schildert psychische Probleme. „Ich habe immer sein Gesicht vor mir gesehen, wenn ich die Augen geschlossen habe.“
Frau des Unfallfahrers ist mit dem Opfer bis heute befreundet
Pikant an dem Fall: Opfer und Täter kennen sich. Die verunglückte Frau bezeichnet Mira Demir (Name geändert), die Frau des Unfallfahrers, bis heute als ihre Freundin. In den Monaten nach dem Unfall besuchen Mira Demir und ihr Sohn die Verletzte jeweils zu Hause, bringen Blumen vorbei und entschuldigen sich im Namen der Familie. Mustafa Demir lässt sich nicht blicken. „Ich habe mich so geschämt“, bringt er als Begründung vor.
Die 51-jährige Mira Demir sitzt auf der Anklagebank, weil ihr der Unfallwagen gehört. Als Mustafa Demir 2021 schon einmal wegen Fahrens ohne Führerschein erwischt wurde, verurteilte das Gericht auch seine Frau wegen Beihilfe zur Tat. In diesem Fall entscheidet Richter Sebastian Gößling aber, dass die Frau unschuldig sei. „Ich habe meinen Bruder in Rumänien besucht und war nicht zu Hause“, sagt die 51-Jährige. Den Autoschlüssel versteckte sie in ihrem Rucksack im Schlafzimmer, doch Mustafa Demir fand das Versteck und brach zu seiner Spritztour auf. Mira Demir.: „Wir hatten immer wieder Streit, weil er die Autoschlüssel genommen hat. Einmal ist deswegen sogar die Polizei gekommen.“
Sohn Ömer verurteilt Richter Gößling wegen Vortäuschens einer Straftat zu 50 Tagessätzen à zehn Euro, aber nicht wegen Beihilfe zum Verlassen des Unfallorts. Für die Entscheidung, in der Schocksituation dem Vater zur Hilfe zu eilen, zeigt der Vorsitzende ein gewisses Verständnis. „Nach einigen Tagen hätten Sie den Sachverhalt aber aufklären müssen.“ Verteidiger Arne Egging hatte sogar gefordert, das Verfahren gegen den Sohn einzustellen.
Richter: Autofahrer hätte zu seiner Tat stehen müssen
Gegenüber Mustafa Demir findet der Richter schärfere Worte. „Wenn das Kind unter das Auto gekommen wäre, würden wir jetzt vielleicht über fahrlässige Tötung reden.“ Der Angeklagte habe das Risiko gekannt, ohne Führerschein unterwegs zu sein – gerade weil er bereits wegen ähnlicher Vergehen vorbestraft sei. Spätestens, als Demir erkannt habe, dass ein Kind in den Unfall verwickelt war, hätte nicht mehr an sich selbst denken müssen.
Gößling stellte andererseits klar: Wäre der Autofahrer an Ort und Stelle geblieben, wäre das Urteil deutlich milder ausgefallen: „Fahrlässigkeit ist immer schicksalhaft. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.“ Am Ende lautet das Urteil: Acht Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung, wegen fahrlässiger Körperverletzung, Fahren ohne Fahrerlaubnis und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort. Die Familie nimmt den Spruch des Richters ruhig entgegen.