Bergedorf. Propaganda, Parolen und Provokationen überall: Hitler will den Krieg – und seine Nazis stimmen die Menschen „freudig erregt“ darauf ein.

Es ist das letzte Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg, aber friedlich geht es in Bergedorf 1938 längst nicht mehr zu. Unsere Zeitung ist voll von kraftstrotzenden Parolen der Nazis auf allen Ebenen. Sie berichtet von militärisch-provokanten Großveranstaltungen im Namen Adolf Hitlers mit Tausenden Teilnehmern auf Bergedorfs und Lohbrügges Marktplätzen oder der „Heldengedenkfeier“ vom 13. März am Schillerufer rund um das mitten in diesem Park aufgestellte Soldaten-Ehrenmal der NSDAP.

„Es konnte keine Trauerstimmung aufkommen, wie sie sonst an diesem Tag das deutsche Volk beherrscht. Dazu war jeder zu freudig erregt“, schreibt Theodor Müller, Chefredakteur der Bergedorfer Zeitung und Kreispresseleiter der NSDAP. Begeistert berichtet er, dass an jenem Sonntag die Reihen von SA, SS und NSDAP erstmals von eingezogenen Wehrmachtssoldaten aus den in Wentorf neu errichteten Kasernen ergänzt wurden: „Links und rechts von der trutzigen Figur des aus Stein gehauenen Frontsoldaten mit Gewehr und Stahlhelm hatte man Feldhaubitzen aufgefahren. Und an hohen Masten flatterten die Reichskriegsflagge und das Hakenkreuzbanner.“

bz-Chefredakteur Müller ist längst ferngesteuert vom Propagandaministerium

Chefredakteur Müller, längst ferngesteuert vom Berliner Ministerium des Nazi-Propagandachefs Joseph Goebbels, beschreibt die Szene „als sichtbares Symbol dafür, dass Partei und Wehrmacht eins sind in ihrem Mühen um eine stete Steigerung der Weltgeltung des Deutschen Reiches“. Niemand habe sich dem Sog der Bilder und Symbole dieses Heldengedenktages entziehen können.

Einmarsch unter großem Jubel: Adolf Hitler am 14. März 1938 in Wien, begrüßt von jungen Frauen in festlicher Tracht.
Einmarsch unter großem Jubel: Adolf Hitler am 14. März 1938 in Wien, begrüßt von jungen Frauen in festlicher Tracht. © bpk | Heinrich Hoffmann

Hintergrund: Die Großveranstaltung knüpfte nahtlos an den tags zuvor erfolgten Einmarsch der Wehrmacht in Österreich an, der von dessen Bevölkerung wirklich bejubelt wurde. Und bei dem „kein einziger Schuss“ gefallen sei, wie unsere Zeitung mehrfach betont.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs nennen die Nazis ihr Reich „Großdeutschland“

Die Nazis benennen ihr Reich sofort in „Großdeutschland“ um und sind selbst verwundert, dass es wie bei der Besetzung des Rheinlands 1936 schon wieder ganz ohne eine spürbare Reaktion der Siegermächte des Ersten Weltkriegs bleibt. Das weckt bei ihnen Appetit auf mehr – und zwar möglichst sofort.

Tatsächlich befindet sich Hitlers Diktatur fünf Jahre nach der Machtergreifung längst auf dem direkten Weg in den Krieg – und stimmt das Volk darauf emotional ein. Nur wird das den Bergedorfern wie auch allen anderen Menschen im Land noch nicht offen mitgeteilt: „Großdeutschlands Bekenntnis zum friedliebenden Aufbau“, heißt es auf der Titelseite der Bergedorfer Zeitung am Silvestertag 1938 in großen Buchstaben als Erklärung der „Neujahrsparole des Führers“.

„Wir kennen die Kreaturen, die es verstanden haben, Deutschland niedrig zu halten“

Der wird in seiner Parole deutlich: „Wer wird angesichts des heute aufgerichteten Großdeutschen Reiches nicht in bewegter Ergriffenheit zurückdenken an das, was wir 1933 vorfanden. Und wer will nach einem so unerhörten Wandel im Leben eines Volkes noch länger die Richtigkeit der angesetzten Kräfte oder der angewandten Methoden bestreiten? In Deutschland ist das niemand, der nicht bewusst das Unglück unseres Volkes will.“ Aber außerhalb „freilich alle jene, die die Wiederauferstehung des Reiches, ganz gleich aus welchen Gründen, ablehnen zu müssen glauben“.

Titelseite der Bergedorfer Zeitung am Silvestertag 1938: Aufmacher ist „Die Neujahrsparole des Führers“.
Titelseite der Bergedorfer Zeitung am Silvestertag 1938: Aufmacher ist „Die Neujahrsparole des Führers“. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Auch in Bergedorf wird 1938 alles gefeiert und von unserer Zeitung umfangreich thematisiert, was Deutschlands angebliche Wiederauferstehung und seine jetzt aufkeimenden Weltmachtansprüche unterstreicht. So sagt Bürgermeister Hermann Matthäs bei einer angeblich „spontanen Freudenkundgebung“ vor „hunderten Volksgenossen“ am 12. März am Brink: „Wir kennen die Kreaturen, die es Jahrhunderte hindurch verstanden haben, Deutschland niedrig zu halten. Nun aber ist es damit endgültig vorbei. Es wird noch einmal wahr sein, dass am deutschen Wesen die Welt genesen wird.“

99 Prozent Zustimmung zu Hitler und seiner aggressiven Außenpolitik

Hitler nutzt den sogenannten „Anschluss“ Österreichs schließlich sogar, um die Begeisterung der Massen in Deutschland und der „neuen Volksgenossen“ in einer Volksabstimmung sichtbar zu machen. In dieser scheinbaren Legalisierung des klaren Verstoßes gegen den Versailler Vertrag von 1919 bringt er sogar noch ein Votum für seine Diktatur mit unter. Am 10. April stimmt sein nun 75 Millionen Menschen großes Volk über die Frage ab: „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“

Es gibt eine Zustimmung von mehr als 99 Prozent, was die Bergedorfer Zeitung mit der Titelzeile feiert: „Das ganze Volk dankt dem Schöpfer Großdeutschlands“. Und weiter hinten ist zu lesen, dass es im Landgebiet der gerade zur Einheitsgemeinde „Groß-Hamburg“ fusionieren Hansestadt, also auch in Bergedorf, ein „einmütiges Ja“ bei „vielfach 100-prozentiger Wahlbeteiligung“ gegeben habe.

Goebbels’ Rede aus Wien wird auf den Lohbrügger Markt übertragen

Es kommt zu einer Großkundgebung auf dem Lohbrügger Markt, der ersten in der Geschichte Bergedorfs, bei der eine Rede direkt auf Lautsprecher übertragen wird: Propagandaminister Joseph Goebbels spricht in Österreichs Hauptstadt und „6000 Volksgenossen hörten auf dem festlich geschmückten Lohbrügger Marktplatz die Übertragung der Wiener Kundgebung“, schreibt unsere Zeitung. „Man hatte den Eindruck, als sei die ganze Bevölkerung auf den Beinen, als wolle sich niemand aus der aufmarschierenden Volksgemeinschaft ausschließen.“

Propagandaminister Joseph Goebbels (r.) mit Adolf Hitler.
Propagandaminister Joseph Goebbels (r.) mit Adolf Hitler. © picture alliance / Everett Colle | Copyright © CSU Archives/Everett

Es folgen mit dem 1. Mai und dem Bergedorfer Heimatfest im August weitere Anlässe, die die Nazis mit unverhohlener Kriegspropaganda und uniformierten Aufmärschen zur waffenstrotzenden Ereignissen umfunktionierten. Am 1. Oktober lässt Hitler die Wehrmacht dann tatsächlich ins sogenannte Sudetenland einmarschieren, einen verzweigten Landstrich in der Tschechoslowakei.

Auch Infanterie-Regimenter aus Wentorf sind beim Einmarsch ins Sudetenland dabei

Wieder ein Verstoß gegen den Versailler Vertrag, wieder blieb eine Reaktion der Siegermächte aus. Unsere Zeitung feiert den ausgebliebenen internationalen Konflikt mit Überschriften wie „Der Führer im befreiten Land“ und „Am 1. Oktober: Einmarsch bis zur Moldau“. Und Chefredakteur Theodor Müller ergänzt in seinem Jahresrückblick zu Silvester stolz: „Als der Einmarsch deutscher Truppen ins Sudetenland beginnt, sind auch unsere Wentorfer Infanterie-Regimenter dabei. Bei ihrer Rückkehr am 21. Oktober werden sie von der Bevölkerung jubelnd empfangen.“

Zeitungsfoto vom Aufmarsch der Wehrmacht aus den neuen Wentorfer Kasernen bei einem Volksfest der NSDAP im Frühjahr 1938 auf der Alten Holstenstraße nahe der Kirche St. Petri und Pauli.
Zeitungsfoto vom Aufmarsch der Wehrmacht aus den neuen Wentorfer Kasernen bei einem Volksfest der NSDAP im Frühjahr 1938 auf der Alten Holstenstraße nahe der Kirche St. Petri und Pauli. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Auch Bergedorfs Verwaltungsleiter Hermann Matthäs kommt in der Silvesterausgabe unserer Zeitung 1938 mit einem umfangreichen Jahresrückblick zu Wort – und einem erstaunlichen Ausblick auf die kommenden Jahre. Sein Bürgermeisteramt hatte er zwar am 1. April verloren, als die Stadt Bergedorf auf Betreiben der Nazis zum bloßen Verwaltungsbezirk der neuen Großsiedlung Hansestadt Hamburg wurde. Aber genau diese Fusion lässt Matthäs über die nun bevorstehende hochmoderne Zukunft Bergedorfs philosophieren.

Bürgermeister Matthäs: Bergedorf soll Stadtkern nach Geschmack der Nazis bekommen

In den ersten neun Monaten des neu entstandenen Groß-Hamburg habe sich gezeigt, dass Bergedorf auch als bloßer Verwaltungsbezirk sein über Jahrhunderte gewachsenes kulturelles Eigenleben behalten könne, unterstreicht Matthäs. Und er verspricht: Es werde „mit Hilfe Groß-Hamburgs nun schneller als es jemals abzusehen war“ die für den regelmäßig Fernverkehrsstau im Zentrum erforderliche Entlastungsstraße durch die marode uralte Vorstadt erhalten, wo man deshalb „früher mit der restlosen Beseitigung der Elendsquartiere“ rechnen dürfe.

Galt als zu verwinkelt und völlig marode: Die gut 300 Jahre alte Bergedorfer Vorstadt, hier die Ecke Rektor-Ritter-Straße/Hassestraße, wollte Nazi-Bürgermeister Hermann Matthäs unbedingt abreißen.
Galt als zu verwinkelt und völlig marode: Die gut 300 Jahre alte Bergedorfer Vorstadt, hier die Ecke Rektor-Ritter-Straße/Hassestraße, wollte Nazi-Bürgermeister Hermann Matthäs unbedingt abreißen. © BGZ | Kultur- & Geschichtskontor

Nichts davon sollte unter der Nazi-Herrschaft Wirklichkeit werden, schließlich ließen sie mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg ausbrechen. Aber Hermann Matthäs versteigt sich in seinem Ausblick für Bergedorf in Fantasien wie Hitler bei seinen Plänen für die monumentale Neugestaltung Berlins: „Anstelle der zu sanierenden Bergedorfer Altstadt werden wir in den nächsten Jahren eine in sich geschlossenen, vom nationalsozialistischen Aufbau- und Gestaltungswillen kündenden Stadtkern entstehen sehen.“

Wann genau Hermann Matthäs damit anfangen will, verrät er nicht. Hitlers Pläne thematisiert die Bergedorfer Zeitung dagegen schon im Januar 1938, als die „erste umfassende Vorstellung der Neugestaltung Berlins durch Generalbauinspekteur Albert Speer“ eine ganze Seite füllt. Dort heißt es, dass die Termine „vom Führer grundsätzlich festgelegt wurden“ – allerdings mit etwas zu langer Perspektive: „1950 wird das Werk vollendet sein“.