Hamburg. Insgesamt 3600 Strafverfahren kamen nach G-20 zusammen. Auch fünf Jahre später laufen viele von ihnen noch. Doch woran liegt das?

Es ist alles noch da, kaum verschüttet. Straßenschlacht am Fischmarkt, „Welcome to Hell“, Nebelschwaden, Faustkämpfe, Geschrei in der Sommerhitze und dröhnende Musik, „Killing in the Name of“ von Rage Against the Machine. Rauchsäulen über der Elbchaussee, der schwarze Mob, Anarchie. Die Stichflammen in der Schanze, die Angst der Bewohner in ihren verrammelten Wohnungen. Der Geruch von sengendem Holz, Alkohol und Schweiß. Die Randalierer, die durch geborstene Supermarktfenster klettern und sich bedienen, als wäre der Untergang des Staates nahe.

Die vielen Fragen: Was nur ist aus unserer Stadt geworden? Und wer ist dafür verantwortlich?

Seit 5 Jahren sucht die Justiz noch immer Antworten für G-20 Ausschreitungen

Seit fünf Jahren sucht die Justiz nun nach Antworten. Eine ganze Lawine von knapp 3600 Strafverfahren kam nach dem G-20-Gipfel im Juli 2017 in Gang – verbunden mit einer markigen Ansage der Polizei. „Wir werden viele von euch kriegen. Ganz sicher“, sagte der damalige Chef der Soko „Schwarzer Block“, Jan Hieber. Tatsächlich identifizierte die Polizei nach eigenen Angaben bis heute 950 Beschuldigte. Mit 160 Beamten war die Soko die größte Ermittlungsgruppe in der Nachkriegsgeschichte. Und auch der Aufwand immens: 200 Razzien fanden statt, mehrere Wellen von Öffentlichkeitsfahndungen, dazu der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI), um Täter zu ermitteln.

Die Polizei war selbst getroffen, verwundet. In ihrem Selbstbild, große Einsatzlagen beherrschen zu können. Aber auch körperlich. 670 der 23.000 Beamten, die beim Gipfel im Einsatz waren, wurden nach eigenen Angaben verletzt. Während G-20-Gegner von damals darauf verweisen, dass auf ihrer Seite die Zahl der Verletzten noch höher gewesen sei (siehe Artikel unten), wird im Polizeipräsidium auf einen Trend hingewiesen, der nach dem Gipfel weiter in Gang kam: zunehmende Aggressionen gegenüber den Beamten. Die Zahl der Polizisten, die laut Kriminalstatistik zu Opfern von Straftaten wurden, steigt bis heute an.

Brandblockaden und gewaltsame Ausschreitungen am Abend im Schanzenviertel anlässlich des G20 Gipfel. Hamburg, 07.07.2017 Foto:xC.xHardtx/xFuturexImage and violent Riots at Evening in Schanzenviertel during the G20 Summit Hamburg 07 07 2017 Photo XC xFuturexImage
Brandblockaden und gewaltsame Ausschreitungen am Abend im Schanzenviertel anlässlich des G20 Gipfel. Hamburg, 07.07.2017 Foto:xC.xHardtx/xFuturexImage and violent Riots at Evening in Schanzenviertel during the G20 Summit Hamburg 07 07 2017 Photo XC xFuturexImage © imago/Future Image | imago stock

Zwei verurteilte Krawallmacher, die jeweils auch Polizisten angegriffen hatten, sitzen noch heute im Gefängnis: Ein 23-Jähriger, der laut Gericht an den schweren Krawallen im Schanzenviertel beteiligt war – er verbüßt eine gemeinsame Strafe für diese und weitere Delikte, die er ein Jahr nach dem Gipfel beging. Und ein 42-Jähriger, der sowohl bei „Welcome to Hell“ als auch später im Schanzenviertel mitgemischt hatte. Er sitzt für fünf Fälle von Landfriedensbruch und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte ein, jeweils in einem „besonders schweren Fall“.

Die allermeisten der Anklagen und Strafbefehlsanträge im Zusammenhang mit dem G-20 Gipfel sind bei den Amtsgerichten, vor allem in Hamburg-Mitte und in Altona, eingereicht worden. Aus den Ermittlungen der Soko „Schwarzer Block“ wurden allein hier 500 Anklagen und Strafbefehlsanträge. Beim Landgericht liegt der größte Anteil der G-20-Verfahren im Bereich der Kleinen Strafkammern, die über Berufungen gegen amtsgerichtliche Urteile entscheiden. 90 dieser Verfahren wurden abgeschlossen, und damit ist ein Großteil davon abgearbeitet.

Große Zahl von Prozessen nicht beendet

Doch noch immer ist eine größere Zahl von Prozessen nicht beendet, manche nicht einmal eröffnet. Bei den Amtsgerichten sind noch 29 Verfahren anhängig. Am Landgericht konnten acht Verfahren mit 73 Angeschuldigten, denen unter anderem schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen wird, nicht verhandelt werden. „Das ist inzwischen – fünf Jahre nach dem Gipfel – für alle Beteiligten eine ausgesprochen unbefriedigende Situation, die wir uns gewiss anders wünschen würden“, sagt dazu Gerichtssprecher Kai Wantzen.

Hamburg, 8. Juli 2017 - Proteste am Rande des G20 Gipfels, der am 7. und 8. Juli in den Hamburger Messehallen stattfindet. Zahlreiche Straßenblockaden brennen im Schanzenviertel. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY Hamburg 8 July 2017 Protests at Edge the G20 Summit the at 7 and 8 July in the Hamburg Exhibition halls place Numerous Road blockades burn in Schanzenviertel PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY
Hamburg, 8. Juli 2017 - Proteste am Rande des G20 Gipfels, der am 7. und 8. Juli in den Hamburger Messehallen stattfindet. Zahlreiche Straßenblockaden brennen im Schanzenviertel. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY Hamburg 8 July 2017 Protests at Edge the G20 Summit the at 7 and 8 July in the Hamburg Exhibition halls place Numerous Road blockades burn in Schanzenviertel PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY © imago/xim.gs | imago stock

Die Anklagen stammten aus den Jahren 2019 und 2020 – und seien besonders davon betroffen, dass schon seit 2017 immer mehr neue Verfahren und sogenannte Haftsachen, also Prozesse mit Angeklagten in Untersuchungshaft, zugenommen haben. „Der Vorrang solcher Verfahren zwingt leider immer wieder dazu, dass sogenannte Nicht-Haftsachen zurückgestellt werden müssen.“ Maßgeblichen Anteil an den Verschiebungen hätten mehr als 160 Verfahren aus dem Bereich der Drogenkriminalität, die auf der Auswertung des Kryptohandy-Dienstes „Encrochat“ beruhen und dazu führen, „dass viele Kammern des Landgerichts nach wie vor mit Haftsachen ausgelastet sind“, so Wantzen weiter. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Verhandlungen mit vielen Angeklagten wegen begrenzter Saalkapazitäten im Strafjustizgebäude erschwere und bei vielen Prozessen für erhebliche Verzögerungen gesorgt haben, seien noch deutlich spürbar.

Ein Teilerfolg für die Justiz: Das Verfahren gegen fünf Angeklagte im Zusammenhang mit dem Aufmarsch auf der Elbchaussee am 7. Juli 2017 ist im Wesentlichen abgeschlossen. Laut Anklage waren die fünf Männer unter den rund 220 schwarz Vermummten, die Autos und Gebäude an der Elbchaussee anzündeten, Scheiben einschlugen und Häuser mit Farbe beschmierten. Es entstand nach Angaben der Staatsanwaltschaft ein Schaden von gut einer Million Euro. Sechs Menschen erlitten Schocks oder wurden verletzt. In dem Prozess wurde ein 24 Jahre alter Franzose zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, gegen zwei Männer aus Hessen wurden Bewährungsstrafen von 17 beziehungsweise 15 Monaten verhängt. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sagte dem Abendblatt, dieses Urteil sei von „enormer Bedeutung für das Rechtsempfinden“ nach dem Gipfel gewesen.

Über 200 Mitglieder noch immer unbekannt

Hinsichtlich des zur Tatzeit jugendlichen Alters hat der Bundesgerichtshof das Urteil jedoch aufgehoben, sodass eine Jugendkammer des Landgerichts erneut über die zu verhängende Sanktion entscheiden muss. Wer die weiteren mehr als 200 Mitglieder des „schwarzen Mobs“ von Altona waren, liegt noch im Dunkeln. Der Aufmarsch sei „von Anfang an eine gewalttätige martialische Veranstaltung“ gewesen, hatte die Vorsitzende Richterin in der Urteilsbegründung gegen die fünf Angeklagten gesagt. Sie waren unter anderem durch Videoaufnahmen identifiziert worden. Allein die Beweisführung war ein Mammutprojekt: Die Akten füllten zehn Umzugskartons. Es wurde an 67 Tagen verhandelt, 116 Zeugen wurden gehört, zudem drei Sachverständige.

Neben dem Elbchaussee-Verfahren betrifft der Löwenanteil am Landgericht den Tatkomplex Rondenbarg. Vom Volksparkstadion aus waren 150 bis 200 Gipfelgegner am Morgen des 7. Juli 2017 in Richtung Innenstadt marschiert. Am Rondenbarg, einer Straße in Bahrenfeld, trafen sie auf die Polizei. Es flogen Steine und Böller. Dann wurde der Zug von der Polizei aufgelöst. Viele der Gipfelgegner versuchten, über einen Zaun auf ein Firmengelände zu fliehen. Dabei brach ein Gitter aus dem Betonsockel, 14 Menschen verletzten sich teilweise schwer. Abgesehen von den Schwierigkeiten, alle Prozesse abzuhalten, stehen die Ermittler hier vor weiteren Problemen: die genaue Rolle einzelner Beteiligter zu klären.

Ausgebranntes Auto / Verwüstung nach G20 Krawallen 07.07.2017 in Hamburg - Altona. Der G20-Gipfel findet am 07. und 08. Juli 2017 in Hamburg statt. G20-Gipfel: Verwüstung nach G20 Krawallen in Hamburg ausgebranntes Car Devastation after G20 Riots 07 07 2017 in Hamburg Altona the G20 Summit finds at 07 and 08 July 2017 in Hamburg instead G20 Summit Devastation after G20 Riots in Hamburg
Ausgebranntes Auto / Verwüstung nach G20 Krawallen 07.07.2017 in Hamburg - Altona. Der G20-Gipfel findet am 07. und 08. Juli 2017 in Hamburg statt. G20-Gipfel: Verwüstung nach G20 Krawallen in Hamburg ausgebranntes Car Devastation after G20 Riots 07 07 2017 in Hamburg Altona the G20 Summit finds at 07 and 08 July 2017 in Hamburg instead G20 Summit Devastation after G20 Riots in Hamburg © imago/Manngold | imago stock

Schneller abgeschlossen waren die Verfahren zu anderen Ausschreitungen, etwa bei „Welcome to Hell“. Hier galt in manchen Fällen das besondere Beschleunigungsgebot, weil Verdächtige in Untersuchungshaft saßen. Bereits im August 2017 wurde ein 21-jähriger Niederländer wegen Flaschenwürfen auf Polizisten zu einer Strafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. „Polizisten sind kein Freiwild der Spaßgesellschaft oder von erlebnisorientierten Jugendlichen“, sagte der Amtsrichter im Urteil. Er begründete das Strafmaß auch damit, dass eine Strafe nicht nur den Verurteilten, sondern auch andere von solchen Taten abhalten soll. In der Berufungsinstanz wurde der Schuldspruch deutlich abgemildert. Von den 31 Monaten ohne Bewährung blieben noch 21 Monate „mit Bewährung“ übrig.

Die härteste Strafe in den G-20-Verfahren erging im Dezember 2017 gegen einen damals 30 Jahre alten Angeklagten: Dieser erhielt drei Jahre und drei Monate Haft wegen besonders schweren Landfriedensbruchs sowie versuchter gefährlicher Körperverletzung. Das Urteil wurde nach Rücknahme der von der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten eingelegten Berufungen rechtskräftig. Der einschlägig vorbestrafte 30-Jährige hatte unter anderem mit Steinen und Flaschen auf Polizeibeamte geworfen und war an der Plünderung von zwei Verbrauchermärkten und der Verwüstung einer Bankfiliale beteiligt.