Die große Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten aus diesen Jahren. Heute: Karstadt-Erpresser Arno Funke.
Das Ende war irgendwie enttäuschend. Als am 22. April 1994 die Falle zuschnappte und Kaufhauserpresser „Dagobert“ in einer Telefonzelle im Berliner Ortsteil Johannisthal festgenommen wurde, entpuppte sich der fast wie Robin Hood verehrte und nahezu als genial eingestufte Ganove mit hohem Intelligenzquotienten als ein Mensch mit einer gewissen Untauglichkeit für das tägliche Leben und einem liederlichen Gesundheitszustand durch das lange Einatmen von Ausdünstungen aus Lacken.
Der gelernte Schilder- und Lichtreklame-Hersteller hatte die Polizei über Monate genarrt und den Kaufhauskonzern Karstadt erpresst. Es war einer der, wenn nicht der spektakulärste Erpressungsfall in der deutschen Kriminalgeschichte.
„Dagobert“ – es begann mit einer Bombe bei Karstadt in der Mönckebergstraße
Begonnen hatte die Erpressungsserie 1992 mit einem Knall in der Villeroy&Boch-Abteilung im Nebenhaus bei Karstadt an der Mö in der Hamburger Innenstadt. In der Nacht zum 13. Juni detonierte eine dort deponierte Rohrbombe und richtete erheblichen Sachschaden an. Hinter der Tat steckte ein Erpresser.
Noch am selben Tag erhielt der Karstadt-Konzern ein Schreiben, in dem der Täter zunächst eine Million D-Mark forderte, eine Summe, die später von dem Erpresser auf 1,4 Millionen Mark erhöht wurde. Sollte das Geld nicht gezahlt werden, sollten weitere Bombenanschläge auf Kaufhäuser erfolgen.
Der Konzern signalisierte seine Zahlungsbereitschaft. Damals wurde so etwas üblicherweise durch Zeitungsanzeigen getan. In dem Fall lautete der Text, den Karstadt auf Geheiß des Erpressers hin veröffentlichen ließ: „Onkel Dagobert grüßt seine Neffen.“ Der Name des Täters war geboren.
Erpressungsfall: Ein erster Geldübergabeversuch scheiterte im Juli 1992
Tatsächlich wurde bereits am 15. Juli ein erster Geldübergabeversuch in Mecklenburg-Vorpommern gestartet, der scheiterte. Der Erpresser hatte schon knapp zwei Wochen zuvor einen Schlüssel an Karstadt geschickt, der zu einem an einem Laternenmast montierten Kasten passte, der an der B 105 stand. „Dagobert“ beorderte den Geldboten zu dem Kasten. Darin war eine Abwurfvorrichtung. Sie wurde an den D-Zug von Rostock nach Berlin montiert.
Um die Polizei in die Irre zu führen, hatte der Erpresser auch eine Zeitschaltuhr an dem Gerät montiert. Das gaukelte der Polizei vor, sie könne berechnen, an welcher Stelle die Tasche abgeworfen wird.
Arno Funke zündete eine weitere Bombe
In Wahrheit wurde die Geldtasche von Magneten gehalten, und „Dagobert“ konnte per Fernsteuerung bestimmen, wann die Tasche abgeworfen wird. So kam es auch – aber der Erpresser sammelte die Geldtasche aus nicht näher bekannten Gründen nicht ein.
Auch der zweite Versuch einen Monat später, am 14. August bei Reinbek nahe Hamburg, scheiterte.
Arno Funke, der Mann, der „Dagobert“ war, versuchte anschließend, seine Forderung weiter zu untermauern. In Bremen zündete er bei Karstadt am 9. September 1992 einen Brandsatz. Der löste die Sprinkleranlage aus und verursachte einen Millionenschaden.
Die Polizei wollte „Dagobert“ kein Lösegeld geben
Es folgten weitere vergleichbare Übergabeversuche, die scheiterten. Erst nach dem siebten Fehlschlag, am 29. Oktober 1992, gründete die Hamburger Polizei die Sonderkommission „Dagobert“, zunächst unter Leitung von Ulrich Tille.
Tatsächlich hatte die Polizei schon damals wenig Interesse daran, dass „Dagobert“ das geforderte Geld auch bekommt. Dort waren drei Pakete entwickelt worden, die je nach Situation zum Einsatz kamen. In einem war echtes Geld. In einem steckten Papierschnipsel. Ein drittes Paket wurde „Donnerschlag“ genannt. Es war eine Tränengasbombe, die den Täter „ausknocken“ sollte, wenn er das Paket an sich nahm. Getestet wurde die Wirkung vom „Donnerschlag“ hinsichtlich der Sprengwirkung vor dem Einsatz an Schweinehälften.
„Dagobert“ war ein Tüftler – das Geld sollte durch einen Gullydeckel sacken
Das Problem: Wenn „Dagobert“ das Paket wieder nicht einsammeln würde, musste man die Bombe vor Ort detonieren lassen – aber so, dass der Erpresser nichts davon mitbekommt. Darum wurden – wie bei mehreren gescheiterten Übergabeversuchen – rund um die Abwurfstelle Leuchtkugeln in den Himmel geschossen. Es sollte so aussehen, als handele es sich um Fahndungsmaßnahmen. Tatsächlich ging es darum, die Detonation der Tränengasbombe zu verschleiern.
Die Abwurfvorrichtung, die Funke für die Geldübergaben aus Zügen gebaut hatte, war nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Arno Funke bewies, dass er ein guter Tüftler war.
Am 23. April 1993 wurde die Polizei von „Dagobert“ auf einen Parkplatz in Berlin-Brelitz gelotst. Die Beamten fanden dort eine Streusandkiste. Der Standort war genial gewählt. Die Kiste stand in einer Ausbuchtung, die wie für die Kiste gemacht schien. Dass dort ein Gullydeckel war, wusste die Polizei wegen fehlender Pläne nicht.
Polizisten glauben an Fehlalarm – und Arno Funke entkommt wieder
Die Kiste funktionierte ähnlich einer Sanduhr. Ein Polizist legte das vermeintliche Geldbündel oben in den mit Sand gefüllten Holzkasten und musste sich entfernen. „Dagobert“ wartete unten in der Kanalisation und lauschte über ein Richtmikrofon, dass er nahe der Kiste in Position gebracht hatte, mit. Als der Geldbote weg war, zog er eine Klappe beiseite und der Sand lief, samt vermeintlichem Geldpaket, nach unten raus.
Tatsächlich bekam „Dagobert“ Papierschnipsel in einem Paket, dass mit einem Bewegungsmelder und einem Peilsender bestückt war. Der Bewegungsmelder löste aus. Der Peilsender zeigte weiter denselben Standort an. Die Polizisten waren unsicher, ob eine Fehlfunktion vorlag. „Dagobert“ entkam. LKA-Chef und „Dagobert“-Jäger Michael „Mike“ Daleki, der selbst vor Ort war, sah aus, als sei er in wenigen Minuten um Jahre gealtert.
Erneuter Geldübergabeversuch mit einer selbstgebauten Lore
Spektakulär war auch der Geldübergabeversuch am 22. Januar auf einem stillgelegten Bahngelände in Charlottenburg. Arno Funke hatte einen Schienengleiter konstruiert, in den das Geld gelegt wurde. Auch in dem Fall wurden Beamte, es waren Angehörige des Mobilen Einsatzkommandos, erst zu einer Telefonzelle beordert, in der sie einen Schlüssel fanden.
Anschließend wurden sie zu einem stillgelegten Bahngelände gelotst, wo sie eine auf ein Gleis montierte Kiste fanden, deren Schloss sich mit dem Schlüssel öffnen ließ. Darunter war ein selbst konstruierter, 60 Zentimeter langer Schienengleiter. Sie mussten das Geldpaket in eine dafür vorgesehene Vorrichtung legen und dann einen Knopf drücken. Die Lore sauste los, fuhr über das Gleis, das von „Dagobert“ nur kniehoch von Ästen und anderen Hindernissen befreit worden war.
„Dagobert“ verlor die Nerven und flüchtete – dabei war es diesmal echtes Geld
Die Beamten liefen hinterher, kämpften mit dem Gestrüpp und liefen in Stolperfallen, die Feuerwerk auslösten. Die Lore sauste weiter. Doch in diesem Fall war „Dagobert“ ein großer Pechvogel. Die Lore entgleiste wenige Meter vor seinem Versteck. „Dagobert“, der bereits Taschenlampen von Einsatzkräften sah, verlor die Nerven, ging nicht die paar Meter zur umgekippten Lore, sondern flüchtete.
Was er wohl nicht ahnte: Es war eines der ganz wenigen Male, in denen tatsächlich echtes Geld übergeben werden sollte.
Ein in monatelanger Arbeit gebautes kleines U-Boot kam nie zum Einsatz
Nie zum Einsatz kam ein kleines U-Boot, das Arno Funke in monatelanger Arbeit in seiner großzügig ausgebauten Gartenlaube im Bezirk Treptow-Köpenick nahe dem Flughafen Berlin-Schönefeld zusammengebaut hatte. Die Übergabe sollte im Kleinen Wannsee – ein 20 Hektar großes, bis zu vier Meter tiefes Gewässer – erfolgen.
Die Idee war es, dass das Geld wasserdicht in dem U-Boot verstaut und wie bei der Lore vom Überbringer ein Knopf gedrückt werden sollte. Das U-Boot sollte abtauchen, eine vorgegebene Strecke fahren und erst nach Tagen zwei kleine, selbst gebaute Bojen, eine mit einer Infrarotdiode, aufsteigen lassen, damit Arno Funke es finden konnte.
Der Einsatz fand nicht statt. Das Wetter machte einen Strich durch „Dagoberts“ Rechnung.
Pleiten, Pech und Pannen begleiteten den Fall
Die Teile für das U-Boot hatte der Erpresser, wie so einige Teile seiner Konstruktionen, in einem Elektronikladen an der Karl-Marx-Straße in Berlin-Neukölln gekauft. Die Polizei konnte durch sichergestellte Beweismittel den Laden identifizieren. Berliner Fahnder legten sich wochenlang dort auf die Lauer.
Doch sie bemerkten ihn nicht, als er mit einem Einkaufskorb durch die Regale schlenderte. Erst als das Personal die Beamten auf „Dagobert“ aufmerksam machte, wollten sie zugreifen. Das war zu langsam. Der Erpresser entkam durch eine Hintertür.
Pleiten, Pech und Pannen begleiteten den Fall die ganze Zeit. Bei einem Geldübergabeversuch in Berlin-Charlottenburg hatte ein Fahnder den auf einem Mountainbike flüchtenden „Dagobert“ bereits am Kragen gepackt, als der Polizist ausrutschte – angeblich auf einem Hundehaufen, was später bestritten wurde.
Donaldisten empfahlen der Polizei die Lektüre von Comics
Der ausgerutschte Beamte gab nach dem Missgeschick eine Beschreibung des Erpressers ab, die bundesweit veröffentlicht wurde. Dann stellte sich heraus, dass er sie sich ausgedacht hatte, vielleicht um sein „Missgeschick“ wieder gut zu machen.
Während der Jagd nach „Dagobert“ kam auch heraus, dass dieser bereits 1988 das KaDeWe erpresst und 500.000 Mark erbeutet hatte. Von damals gab es seine Stimme, die man nach dieser Erkenntnis bundesweit per Telefon abrufen konnte. Die Polizei hoffte so auf Hinweise.
„Dagobert“ erntete mit jedem gescheiterten Geldübergabeversuch, mit jedem Trick, der neu bekannt wurde, mehr Ruhm und Bewunderung. Donaldisten meldeten sich zu Wort, die der Polizei die Lektüre von Comics empfahlen, weil man glaubte, dass Dagobert seine Ideen aus den Büchern hatte.
Das MEK bekam ein „Lustiges Taschenbuch“ mit dem Titel: „5:0 für Onkel Dagobert“
Das MEK bekam zum 20-jährigen Bestehen, das nach dem fünften gescheiterten Geldübergabeversuch gefeiert wurde, eine Ausgabe von den „Lustigen Taschenbüchern“ mit dem Titel „5:0 für Onkel Dagobert“ überreicht. Es gab zahlreiche Karikaturen, unter anderem von Gerhard Haderer im Stern.
Das Genick der „Ente“ hat am Ende ein besonders aufmerksamer Polizist gebrochen. Nach einem Anruf, wie üblich aus einer Telefonzelle, fiel dem Beamten ein Daihatsu auf, weil in dem Fahrzeug gut sichtbar ein Mountainbike lag. Die eher belanglos wirkende Beobachtung entpuppte sich als Volltreffer.
Über das Kennzeichen kamen die Ermittler der Sonderkommission auf eine Autovermietung. Dort stellte man fest, dass Arno Funke nicht nur an dem Tag, sondern auch an anderen Tagen, an denen Geldübergabeversuche stattfanden, den Wagen gemietet hatte – auf seinen richtigen Namen und mit seiner richtigen Adresse.
Am 22. April 1994 wurde Arno Funke schließlich festgenommen
Funke wurde observiert und so war die Polizei in unmittelbarer Nähe, als er am 22. April 1994 aus der Telefonzelle im Ortsteil Johannisthal unter der vereinbarten Nummer anrief, um eine neue Übergabe zu vereinbaren.
Funke schilderte später die Festnahme so: ein dunkler BMW wäre mit quietschenden Reifen um die Ecke gekommen. Er habe die Hände gehoben und die Finger bewegt, um zu zeigen, dass er keine Waffe habe. Dann wurde er gegen eine Wand gedrückt, durchsucht und bekam Handschellen angelegt.
Ein Robin Hood war er nicht – er hatte nie vor, das Geld den Armen zu geben
Arno Funke saß für die Tat sechs Jahre und vier Monate in der Haftanstalt Plötzensee ein, bevor er im August 2000 wegen guter Führung frühzeitig entlassen wurde. Er arbeitete als Karikaturist, war Vorlage für Filme, stand mit einer Band auf der Bühne, die den Song „Lass uns das Ding drehen“ trällerte, war Teil einer Realityshow und Kandidat im Dschungelcamp.
Was er sicher nicht war, war ein Robin Hood. Funke hatte nie vor, das Geld irgendwelchen Armen zu geben. Er wollte Geld für sich erpressen und legte dafür insgesamt fünf Sprengsätze in Kaufhäusern in Hamburg, Bremen, Hannover, Bielefeld und Berlin. Dabei richtet er einen Schaden von rund zehn Millionen Mark an. Menschen wurden nicht verletzt. Auch weil Funke nach eigenem Bekunden sehr genau darauf geachtet habe, dass niemand körperlich zu Schaden kommen könne.
„Dagobert“ – ein reicher Mann dürfte der Erpresser nicht geworden sein
Was die Polizeieinsätze anlässlich der insgesamt 30 Geldübergabeversuche für Kosten verursachte, wurde nie genau zusammengestellt. Bei den Einsätzen waren bis zu 2000 Beamte dabei. So wurden im großen Stil Telefonzellen überwacht, aus denen er hätten anrufen können.
Ein reicher Mann dürfte der Erpresser trotz zahlreicher Auftritte und seiner Prominenz nach seiner Haftentlassung nicht geworden sein. Das Gericht hatte ihn auch zu 2,5 Millionen Mark Schadenersatz verurteilt.