Hamburg. SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf über Baukrise, Koalitionskrach, neue Bauzahlen – und Ideen zur gerechteren Wohnraumverteilung.

Als Chef der größten Regierungsfraktion ist es sein Job, im Meinungskampf auch mal auszuteilen – gegen die Opposition, aber bisweilen auch in Richtung des Koalitionspartners. Man merkt Dirk Kienscherf an, dass er daran durchaus seine Freude hat. Die Lage aber war selten so ernst wie dieser Tage. Im Abendblatt-Interview zum Jahresende spricht der 57 Jahre alte SPD-Fraktionschef über die Herkulesaufgabe Klimaschutz, die dramatische Lage beim Wohnungsbau und die Ehekrise mit dem grünen Partner.

Hamburger Abendblatt: Herr Kienscherf, das Klima in der rot-grünen Koalition scheint vergiftet. Da geraten Bürgermeister Peter Tschentscher und Umweltsenator Jens Kerstan immer wieder aneinander. Da kritisiert die SPD grüne Senatoren, und Grüne werfen der SPD eine Blockade beim Klimaschutz vor. Was ist da los?

Dirk Kienscherf: Es sind sehr herausfordernde Themen, die wir gerade bewältigen müssen. Und das merkt man manchmal auch im Miteinander. Wobei es innerhalb der Koalition besser aussieht, als es nach draußen manchmal wirkt. Manchmal rappelt es ein bisschen, aber letztendlich bringen wir die Themen gemeinsam voran – wie jetzt beim Sedimentmanagement oder beim Klimaplan. Über die grundsätzlichen Ziele in der Koalition sind wir uns einig.

Trotzdem scheint es, als seien beide Seiten jetzt schon im Wahlkampfmodus. Liegt das daran, dass die SPD in der einzigen bisher bekannten Umfrage dieser Wahlperiode mit 29 Prozent einen Prozentpunkt hinter den Grünen lag?

Kienscherf: Darauf fokussieren wir uns überhaupt nicht. Man hat doch auch bei der letzten Bürgerschaftswahl gesehen, wie stark sich das Wahlergebnis nachher von manchen Umfragen unterschieden hat. Wir haben zwei sehr herausfordernde Jahre mit Corona gehabt. Und jetzt haben wir noch größere Herausforderungen. Gleichzeitig müssen wir jetzt strukturelle Dinge klären. Da geht es um den Hafen und um den Klimaschutz – und da gibt es sicherlich unterschiedliche Ansatzpunkte bei SPD und Grünen, deswegen muss da auch mal miteinander gerungen werden. Wir als SPD setzen da weniger auf Symbole. Uns ist es wichtig, dass das, was wir uns vornehmen, auch umgesetzt werden kann. Da haben unsere Partner manchmal andere Akzente. Insgesamt funktioniert diese Koalition aber gut.

Beim Klimaschutz muss in den sieben Jahren bis 2030 so viel CO2 eingespart werden wie zwischen 1990 und heute. Das ist eine Herkulesaufgabe. Aber der Senat hat gerade Eckpunkte zum Klimaplan vorgestellt, in denen nichts Konkretes darüber steht, wie denn das CO2 eingespart werden soll, null. Opposition und Verbände fragen jetzt: Warum bleibt ihr so unkonkret?

Kienscherf: Wir haben den CO2-Ausstoß zwischen 2012 und 2020 um zwei Millionen Tonnen reduziert. Dort passiert also schon eine ganze Menge. Aber natürlich kann man darüber streiten, ob es dieser Eckpunkte jetzt bedurft hätte. Das ist ja eher ein Zwischenschritt, auf den der Umweltsenator aber noch mal großen Wert gelegt hat. Dass es etwas dauert, bis wir einen konkreten Klimaplan vorlegen, liegt an der Komplexität des Themas. Man muss ja nicht nur schöne Ziele aufschreiben, sondern schauen, wie man Ressourcen am effizientesten einsetzt. Das ist uns als SPD sehr wichtig. Bei der wichtigen Gebäudesanierung geht es zum Beispiel darum, das so effizient wie möglich und damit bezahlbar hinzukriegen. Gerade vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen in den Bereichen Energie, Fachkräfte und Material. Wir wollen ja nicht irgendwelche tollen Maßnahmen skizzieren, für die uns nachher die Ressourcen fehlen.

Auf Wunsch der SPD wurde eine Senatskommission für Klimaschutz und Mobilitätswende eingesetzt. Vorsitzender ist der Bürgermeister, der ja auch die Richtlinienkompetenz hat. Trotzdem bekommt der Umweltsenator die Dresche, wenn es beim Klimaschutz nicht schnell genug vorangeht. Stehen die SPD und ihr Bürgermeister eigentlich auch dafür gerade, dass das Ziel erreicht wird, bis 2030 70 Prozent an CO2 gegenüber 1990 einzusparen?

Kienscherf: Ja, natürlich, dafür stehen wir alle gerade. Diese 70 Prozent können allerdings nur erreicht werden, wenn bestimmte bundespolitische Maßnahmen durchgeführt werden. Hamburg alleine kann das gar nicht. Aber natürlich steht der Bürgermeister, steht der Senat, steht unsere Partei genauso wie die Grünen dafür gerade, dass wir das Ziel erreichen.

Sind Klimaschutz und Hafen derzeit die größten Herausforderungen?

Kienscherf: Ja. Klimaschutz erfordert letztlich die Transformation der Wirtschaft. Und das heißt unter anderem die Dekarbonisierung der Industrie. Wir sind eben nicht nur Hafen, sondern die größte zusammenhängende Industrieregion Deutschlands. Und wir alle haben das gemeinsame Ziel, dass die Industrie in Deutschland und in Europa erhalten bleibt, auch in Hamburg. Und deswegen ist das Thema Wasserstoff so wichtig für uns, ebenso wie die Energiepreise und die Energieversorgung. Und beim Hafen geht es aktuell darum, dass er erreichbar bleibt. Darum kämpfen wir seit Jahren auch mit den Nachbarländern. Das letzte Gespräch mit den Umwelt- und Wirtschaftsministern aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein gibt ja auch ein wenig Hoffnung, dass man da jetzt tatsächlich zu einer verbindlichen Regelung kommt.

Die SPD hat jetzt zwei Senatoren ausgetauscht, die Grünen nicht. Manche – auch bei den Grünen – sagen, da habe die SPD zwei Schwachpunkte ausgebügelt.

Kienscherf: Dorothee Stapelfeldt und Michael Westhagemann waren sehr gute Senatoren. Beide hatten von sich aus klargemacht, dass sie irgendwann aufhören wollen. Und das ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Wir haben ja jetzt auch sehr gutes Personal nachrücken lassen.

Klar ist, dass Frau Stapelfeldt es nicht mehr geschafft hat, alle Wohnungsbauziele zu erreichen, was auch mit der schwierigen Marktlage zusammenhängt. Wird man beim Ziel von 10.000 genehmigten Wohnungen pro Jahr bleiben oder abspecken, weil man das eh nicht mehr schafft?

Kienscherf: Wir werden eine Delle bei den Fertigstellungen haben, das ist klar. Bei den Baugenehmigungen werden wir das Ziel wohl fast wieder erreichen. Es sieht aktuell so aus, als wären auch 2022 wieder Baugenehmigungen für mehr als 10.000 Wohnungen erteilt worden. Nun wissen wir allerdings auch, dass Baugenehmigung nicht automatisch bedeutet, dass die Wohnungen dann auch tatsächlich gebaut werden. Der Wohnungsbau ist bundesweit gerade in einer wirklich sehr, sehr schwierigen Lage, denn die Rahmenbedingungen haben sich verschlechtert. Wir haben eine Verdreifachung der Finanzierungskosten innerhalb weniger Monate. Lieferketten sind gestört, Personal und Materialien sind knapp und teuer. Wir wollen aber trotzdem an unseren Wohnungsbauzielen festhalten, auch wenn es jetzt zwischendurch vielleicht einen kleinen Rückgang gibt. Es wäre das falsche Signal, die Ziele jetzt aufzugeben. Der Bedarf ist nach wie vor sehr hoch. Wir müssen alles daransetzen, dass wir den Wohnungsbau wieder in Schwung bringen.

Die Linke kritisiert, dass der versprochene Anteil von einem Drittel Sozialwohnungen nicht erreicht wird. Und auch der zuletzt ex­treme Anstieg der Mieten laut Mietenspiegel zeige, dass der Senat mit seiner Baupolitik gescheitert sei. Die Stadt müsse daher selber bauen.

Kienscherf: Wir haben das erfolgreichste Wohnungsbauprogramm Deutschlands. Auch im Vergleich zu Berlin haben wir viel mehr Sozialwohnungen gebaut. Mit der Saga haben wir Europas größtes kommunales Wohnungsunternehmen. Wir haben seit 2011 fast 24.000 Sozialwohnungen und 85.000 Wohnungen insgesamt gebaut. Und das ist in der Tat die spannende Frage, wie würde es auf dem Wohnungsmarkt aussehen, wenn wir das nicht geschafft hätten? Wir arbeiten kontinuierlich an dem Thema, etwa setzen wir uns im Bund dafür ein, dass die Kappungsgrenze, also die Grenze für maximale Mieterhöhungen, noch weiter auf elf Prozent sinkt. Die Saga tut schon eine ganze Menge. Und ich glaube nicht, dass die öffentliche Verwaltung besser und günstiger bauen kann als die Saga.

Die Wohnungswirtschaft hat nach der Einigung mit den Volksinitiativen vor allem die Vergabe in Erbpacht kritisiert, teilweise auch gedroht und gesagt: Wir können dann nicht mehr investieren. Was kann man tun, wenn es wirklich dazu kommt?

Kienscherf: Wir sind mit der Wohnungswirtschaft in sehr guten Gesprächen, und wir wissen, dass sie diesen Ansatz kritisch sieht. Der manchmal zu hörende Vorwurf, das sei Sozialismus im Wohnungsbau, ist aber falsch. Wir wollen als Stadt lediglich über Generationen handlungsfähig bleiben. Es gibt in vielen Städten die Diskussion, keinen weiteren Ausverkauf von städtischem Grund zu betreiben. Wir wollen das jetzt mit der Wohnungswirtschaft gemeinsam hinkriegen. Die katholische Kirche besitzt übrigens in allen Flächenländern Deutschlands riesige Ländereien, auf denen Tausende von Wohnungen mit Erbbaurechten stehen.

Ach, der Hamburger Senat orientiert sich jetzt am Papst? Interessant.

Kienscherf: Nein, aber auch nicht am Sozialismus. Das ist jetzt also nichts, was wir neu erfunden haben, aber ein wirksames Mittel, als Stadt die Entwicklung des Stadtbildes weiter in der eigenen Hand zu behalten.

Bauen belastet das Klima stark, die Herstellung von Stahl, Zement und Beton setzt ex­trem viel CO2 frei. Wie kann man dieses Problem lösen?

Kienscherf: Wichtig ist, dass man erst einmal Standards für klimafreundlicheres Bauen schafft. Wir können da nicht einen Hamburger Weg vorgeben. Bauunternehmen sind ja bundesweit oder europaweit tätig. Und da ist die Bauministerkonferenz gerade dabei, überhaupt diese Standards mal zu definieren. Klar ist: Wir müssen beim Bauen effizienter und klimafreundlicher werden.

Sie haben die begrenzenden Faktoren angesprochen in der Bauwirtschaft, die wird ja auch eine neue Senatorin nicht aufheben können. Welche Hoffnungen setzen Sie dann in den Wechsel?

Kienscherf: Sie wird natürlich die herausfordernde Aufgabe haben, die Wohnungswirtschaft jetzt durch diese schwierige Phase zu begleiten und zu schauen, wie man diese Auswirkungen abmildern kann. Und da wird es auch viel um die Finanzierungskosten gehen, die sich verdreifacht haben. Aber ich weiß, Karen Pein stellt sich diesen Herausforderungen.

Müssen wir angesichts von Ressourcenmangel und hohen Bau- und Energiekosten womöglich das Wohnen ganz neu denken? Heute brauchen die Menschen pro Kopf viel mehr Wohnraum als in vergangenen Generationen. Zudem ist Wohnraum oft ungerecht verteilt. Müssen wir uns alle etwas mit dem Platz einschränken?

Kienscherf: Wir wissen, dass Singlehaushalte relativ viel Fläche verbrauchen und dass auf der anderen Seite viele Familien in sehr beengten Verhältnissen leben. Wir leben in einer Stadt mit begrenzten Flächen, und wir haben festgelegt, dass wir Grünflächen schützen wollen. Das heißt, wir müssen sehr effizient und ein Stück bewusster mit unseren Wohnflächen umgehen. Das bedeutet nicht, dass auf einmal alle beengt wie in Tokio leben müssen. Es gibt ja Modelle, bei denen Menschen freiwillig mit weniger Privatfläche auskommen, wo es aber viele größere Gemeinschaftsräume gibt, was zu einer Effizienzsteigerung beiträgt. Auch solche Modelle müssen wir viel stärker fördern.

Wenn Kinder aus dem Haus gehen oder Partner sterben, leben Menschen oft in zu großen Wohnungen – denn wenn sie in eine kleinere zögen, würden sie oft sogar mehr bezahlen. Junge Familien dagegen finden häufig keine größeren Wohnungen. Wie kann man das Problem lösen?

Kienscherf: Mittlerweile sind Genossenschaften, aber auch die Saga so weit, dass man dort Modelle für solche Fälle entwickelt. Wenn etwa ältere Menschen freiwillig in kleinere Wohnung ziehen, zahlen sie dann dieselbe günstigere Quadratmetermiete wie bisher. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass man ältere Menschen verdrängt – es geht um gute Lösungen für alle. Daran müssen wir noch stärker arbeiten.

Bei den Grünen läuft die Spitzenkandidatur für die Bürgerschaftswahl 2025 offenbar wieder auf Katharina Fegebank zu. Wird die SPD auch wieder mit Peter Tschentscher ins Rennen gehen? Oder denken Sie auch über Parteichefin Melanie Leonhard nach? Die gilt ja als über Parteigrenzen hinweg beliebt und kompetent – und mit ihr könnte Hamburgs SPD erstmals eine Frau aufstellen.

Kienscherf: Peter Tschentscher und Melanie Leonhard sind beide höchstkompetent und sehr beliebt. Wir haben einen erfolgreichen Bürgermeister, und der wird natürlich wieder kandidieren. Das ist doch ganz klar. Melanie Leonhard, als SPD-Co-Landesvorsitzende und jetzt auch als Wirtschaftssenatorin, wird weiter eine herausragende Rolle spielen. Die Menschen wissen, dass beide gemeinsam diese Stadt voranbringen werden.