Im Wortlaut: Die Rede, die Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider beim Neujahrsempfang im Hotel Vier Jahreszeiten gehalten hat.

Liebe Freundinnen und Freunde des Hamburger Abendblatts, das geht ja gut los heute. Vor anderthalb Stunden hat Friedrich Merz seine Teilnahme an unserem Neujahrsempfang überraschend abgesagt, weil er kurzfristig einen Zahnarzttermin bekommen hat ... Und vor wenigen Minuten stürmte jemand aus Ihrer Mitte auf mich zu, ein bekannter Hamburger Kaufmann, und sagte überschwänglich: „Wissen Sie eigentlich, wie sehr ich Ihre Texte liebe? Jeder Satz ist ein Genuss, jeder Gedanke so klug, ich bin fast immer Ihrer Meinung. Wenn doch nur alle Journalisten so schreiben würden wie Sie, … Herr Iken!“

Wirklich wahr! Und weil das nicht zum ersten Mal passiert ist, dachte ich, dass es ganz passend wäre, wenn ich mich heute nicht nur bei Matthias Iken für all das bedanke, was er für das Hamburger Abendblatt leistet, sondern auch beim Rest der vielleicht nicht kleinsten, dafür aber großartigsten Chefredaktion des Landes: Danke, Lydia, Frank, Cordula, Berndt, Sibylle und Stephan, ohne euch und all die anderen lieben Menschen vom Abendblatt würde ich hier oben nicht stehen können und wollen. Wobei: Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen aus der Chefredaktion einzeln gefragt, ob nicht mal einer von Ihnen die Rede beim Neujahrsempfang halten möchte. Die Antwort war immer dieselbe: Nein, Lars, irgendwas musst du schon auch noch selbst machen …

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Neujahrsempfang: eine Mitgliedschaft, die dem HSV kein Glück bringt

Dass ich hier reden darf, hat dabei vielleicht auch damit zu tun, dass ich trotz der Krisen der vergangenen Jahre ein Optimist geblieben bin. Das können Sie daran sehen, dass ich bei unserem redaktionsinternen Bundesligatipp selbst dann auf einen Sieg des HSV setze, wenn der auswärts bei einem Abstiegskandidaten antritt. In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen etwas gestehen: Ich bin seit dem 1. Dezember offizielles HSV-Mitglied, mein Schwager hat mir die Mitgliedschaft einfach zum Geburtstag geschenkt – und ich weiß nicht, ob er dem Verein damit einen Gefallen getan hat.

Ich bringe dem HSV nämlich leider kein Glück. Das letzte Mal, dass die Mannschaft gewonnen hat, als ich im Volksparkstadion war – das war beim Abschiedsspiel von Kevin Keegan … Letzte Info dazu: Kurz bevor ich Mitglied beim HSV geworden bin, sind Teile meiner Familie dem FC St. Pauli beigetreten. Und Sie glauben nicht, was die da machen: Sie segeln. Das kann man sich nicht ausdenken ...

So, das ist geklärt, ab jetzt wird es schwieriger. Ich bin im 14. Jahr Chefredakteur unseres geliebten Abendblatts, aber ich kann mich nicht erinnern, dass die Situation in Hamburg, Deutschland und der Welt schon einmal derart verzwickt war. Und weil das so ist, wollte ich mir bei der Vorbereitung dieser Rede Hilfe von den beiden Instanzen holen, die alles wissen und auf jede Frage eine Antwort haben. Sie ahnen es, ich rede von der künstlichen Intelligenz und von Richard David Precht. Als ich erfuhr, was Precht für Auftritte wie diesen hier an Honorar verlangt, schied der als Ideengeber leider aus – es wäre schlicht kein Geld mehr übrig geblieben, weder für Essen noch für Getränke noch für dieses Mikrofon.

Wie es ist, wenn die KI die Rede für einen Neujahrsempfang schreibt

Also blieb die KI. Und weil ich ja weiß, dass Sie, liebe Freundinnen und Freunde des Abendblatts, beim Neujahrsempfang gern mal schmunzeln, bestellte ich bei der allwissenden Maschine eine Rede mit „Dingen, über die Hamburger lachen können“. Und wissen Sie, was mir vorgeschlagen wurde? Zum Beispiel das hier: „Was ist der Unterschied zwischen Winterhude und Eimsbüttel? In Eimsbüttel ist die Hoheluft besser …“ Oder das hier: „Ein Ostdeutscher steht in der Herbertstraße vor einem der Fenster. Die Dame dahinter macht es auf und ruft: ,Na, wiss ma?‘ Sagt der Ostdeutsche: ,Ne, Rostock.‘“ Das war der Moment, an dem ich wieder begonnen habe, mir selbst Gedanken für diese Rede zu machen.

Und da fängt man natürlich ganz oben an, bei dem derzeit mächtigsten Hamburger auf dieser Welt. Wenn Sie sich fragen, wo Olaf Scholz heute ist, dann kann ich Ihnen sagen: nicht hier, aber immerhin noch im Kanzleramt … Das ist keine Selbstverständlichkeit, nachdem das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr den Bundeshaushalt kassiert hat. An so einem Urteil kann eine Regierung auch zerbrechen – zumal wenn sie von einem Kanzler angeführt wird, dessen Umfeld kommunikative Defizite immer damit entschuldigt hat, dass er dafür weiß, was er tut, und man sich darauf verlassen könne, von ihm ordentlich regiert zu werden. Dieses Image hat gelitten. Im Moment des Urteils habe ich gedacht, dass das der Anfang vom Ende des Hamburgers im Kanzleramt war – aber bei Scholz weiß man nie. Vielleicht ist sein größtes Talent, selbst nach heftigsten Rückschlägen weiterzumachen, als wäre nichts gewesen.

Hamburgs Plan B, wenn irgendwo Geld fehlt, heißt Kühne

Die Frage, wieso Scholz und Christian Lindner es nicht hinbekommen, die Schuldenbremse einzuhalten, bleibt trotzdem – schließlich haben das Peter Tschentscher und Andreas Dressel in Hamburg ganz locker geschafft. Mehr noch: In unserer Stadt hat man immer einen Plan B, wenn irgendwo finanzielle Schwierigkeiten drohen oder frisches Geld benötigt wird. Dieser Plan B heißt mit Vornamen Klaus-Michael und mit Nachnamen, richtig: Kühne. Nachdem der erst Hapag-Lloyd in Hamburg gehalten und damit der Stadt Milliarden-Einnahmen beschert hat, nachdem er mehr als 100 Millionen Euro in den HSV gepumpt hat und kurz davor ist, Hamburg eine neue Oper zu schenken, neigt man dazu, übrigens auch wir in der Redaktion, bei jedem neuen Problem immer dieselbe Frage zu stellen: Wann steigt Kühne ein? Den aktuellen Fall kennen Sie alle: Ich meine das Projekt, das Olaf Scholz gern als „das Hochhaus an der Elbe“ bezeichnet und das andere angesichts des Baustopps schon spöttisch den „kurzen Olaf“ nennen, weil noch ein paar Meter bis zur Vollendung fehlen … Wenn Kühne dem Elbtower tatsächlich zu voller Größe verhelfen und in diesem Jahr nicht nur der FC St. Pauli, sondern auch der HSV in die Bundesliga aufsteigen sollte, muss man vielleicht doch noch mal über die Sache mit der Ehrenbürgerschaft nachdenken, Schweiz hin, Schweiz her.

Nachdenken sollten wir alle auch darüber, wie Deutschland auf den Angriff der Hamas auf Israel reagiert hat. Der Bürgermeister hat kurz nach dem 7. Oktober gesagt, dass es in diesem Konflikt keine „Ja, aber“-Diskussionen geben dürfe, aber genau die sind geführt worden. Wo waren israelische Fahnen, die aus Solidarität von Hamburger Häusern wehten? Wo waren die Proteste der Kultur und der Intellektuellen, wie wir sie nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine kannten? Warum bleiben wir ausgerechnet dann seltsam still, wenn eine Terrororganisation versucht, den wichtigsten Schutzraum für Jüdinnen und Juden auszuradieren?

Es geht nicht nur um eine historische Verpflichtung, die wir gegenüber Israel haben, um die Staatsräson und das „Nie wieder!“. Es liegt in unserem ureigensten Interesse, dass die Hamas nicht erfolgreich ist, genauso, wie es in unserem ureigensten Interesse liegt, dass Russland den Krieg in der Ukraine nicht gewinnt. Denn beide kämpfen nicht nur gegen ihre Nachbarn, sie kämpfen gegen unsere Werte, unsere Überzeugungen und unseren Lebensstil. Was Israel angeht, möchte ich Golda Meir zitieren. Sie hat gesagt: „Wenn die Araber ihre Waffen heute niederlegen würden, gäbe es keine Gewalt mehr. Wenn die Juden ihre Waffen heute niederlegen würden, gäbe es kein Israel mehr.“

Was uns verbindet, tritt in den Hintergrund – auch in Hamburg

Dass der Konflikt aus dem Nahen Osten zum Teil auch auf unseren Straßen ausgefochten wird, dass wir die Folgen des russischen Krieges direkt an der Zahl der Geflüchteten merken, die selbst eine Stadt wie Hamburg an die Grenze der Belastungsfähigkeit bringt, zeigt, dass globale Krisen immer auch lokale Auswirkungen haben – und dass diese von Menschen wie Wladimir Putin gewollt sind. Wir müssen alle aufpassen, dass seine Strategie nicht aufgeht, dass es ihm und anderen Despoten mit Flüchtlingsströmen und steigenden Energiepreisen nicht gelingt, unsere freiheitlichen Gesellschaften zu spalten und den sozialen Frieden bei uns zu stören. Die bittere Wahrheit ist: Wir sind auf dem besten Weg dorthin.

Auch in Deutschland und Hamburg tritt das, was uns verbindet, in den Hintergrund und macht Platz für das, was uns trennt. An dieser Stelle passt vielleicht ein kleiner Schwenk zu den anstehenden Landtagswahlen in diesem Jahr: Wir sollten nicht so viel über die AfD sprechen. Wir sollten uns Gedanken machen, warum auf einmal in einigen Ländern mehr als jeder Dritte bereit ist, diese Partei zu wählen. Und wie es sein kann, dass die SPD in Sachsen in Umfragen unter fünf Prozent rutscht …

Und das alles ausgerechnet in einer Zeit, in der wir eigentlich gemeinsam gegen die wirklich große Bedrohung kämpfen müssten: gegen den Klimawandel. Ich habe neulich den Klimaforscher Mojib Latif gefragt, wann wir das 1,5-Grad-Ziel reißen werden und was das bedeuten würde. Und er hat gesagt, dass man das gar nicht so genau wisse und dass das eigentlich das Hauptproblem sei: Wir würden uns wie ein Autofahrer auf der Autobahn verhalten, der im dichten Nebel mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs ist, obwohl er nicht weiß, ob gleich ein Stau vor ihm kommt – und trotzdem schaffen wir es nicht mal, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen.

Eine entrüstete Gesellschaft, die in Bürokratie erstickt

Es ist schon irre, wie schwer wir uns in Deutschland mit Veränderungen tun, selbst dann, wenn sie dringend nötig sind. Das hat mehrere Gründe: Erstens gehören wir zu den Ländern, die im neuen Jahr am meisten zu verlieren haben, und damit meine ich nicht nur die Vorrundenspiele bei der Fußball-Europameisterschaft. Zweitens haben wir uns in unsere eigene Bürokratie verstrickt. Wie hat es Olaf Scholz bei seinem Dialog mit Abendblatt-Lesern formuliert?: „Um Gesetze abzuschaffen, müssen wir erst mal neue Gesetze erlassen …“

Man könnte darüber lachen, wenn es nicht die Wahrheit wäre. Und drittens leben wir leider in einer Gesellschaft, die zwischen den Extremen schwankt. Um es mit einem Zitat zu sagen, das Winston Churchill zugeschrieben wird: „Man hat die Deutschen entweder an der Gurgel oder zu seinen Füßen.“ Oder plötzlich am Fähranleger stehen, wenn man als Minister von einem Kurzurlaub auf der Hallig Hooge wiederkommt … Ganz ehrlich: Das geht gar nicht.

Wobei ich mich persönlich nicht frei davon machen will, selbst ein Teil der neuen Entrüstungsgesellschaft zu sein. Ich dachte immer, dass ich ein ganz entspannter und gelassener Typ bin – bis ich das Deutschlandticket gekauft habe. Um es gleich zu sagen: Es ist ein Albtraum, und die nächsten 20 Neujahrsreden würden nicht ausreichen, wenn ich Ihnen alles erzählen würde, was ich mit der Bahn erlebt habe. Ich könnte schreien, wenn ich bei Verspätungen Sätze wie „Grund ist eine defekte Tür“ oder „Grund ist eine Oberleitungsstörung“ höre.

Und ich gebe zu, dass ich fast geweint hätte, als mich zwei Fahrkartenkontrolleure in Altona aus der S-Bahn herausgeholt haben, weil die Deutsche Bahn ihre App umgestellt hatte und ich mein Deutschlandticket in meinem Handy nicht mehr finden konnte. Das alles unter den Augen besorgter Mitbürger, die tuschelten: „Ist das nicht der Chefredakteur vom Abendblatt? Meinste, die haben den beim Schwarzfahren erwischt?“ Immerhin konnte das heute nicht passieren, danke GDL! Kurzer Check: Wer von Ihnen hat auch das Deutschlandticket? Immerhin mehr als vergangenes Jahr, als ich gefragt hatte, wer schon viermal gegen Corona geimpft ist …

Das versöhnliche Ende eines Neujahrsempfangs

So, und wie komme ich jetzt zu einem versöhnlichen, fröhlichen Ende? Ich habe noch mal die KI befragt, nach etwas Lustigem, und sie bot mir dieses Mal folgende Anekdote an: „Was ist der Unterschied zwischen einem Hamburger und einem Bremer Kaufmann?“ Antwort: „Beide würden ihre Schwiegermutter verkaufen. Aber der Bremer liefert auch.“ Ich habe mit ihrem müden Lächeln gerechnet und will deshalb mit einer wirklich wahren Geschichte schließen, die einer künstlichen Intelligenz niemals passieren würde, schlicht, weil sie keinen Wein trinkt.

Wir haben beim Hamburger Abendblatt ja viele erfolgreiche Podcasts: Sehr empfehlen kann ich Ihnen den neuesten, „Becker am Morgen“, der schnell eine große Fangemeinde bekommen hat. Unseren Podcast mit meiner Kollegin Lisa Jessen und Ernährungsdoc Matthias Riedl hören inzwischen sogar rund 150.000 Menschen pro Folge … Riedl hat mir als Weinliebhaber Mut gemacht, als er auf die Frage, ob er selbst auch Wein trinke, mit Ja geantwortet hat. Ich dachte: Siehste, so ungesund kann das also alles nicht sein. Aber dann wurde der Ernährungsdoc leider gefragt, wie viel er denn trinke, und Riedl antwortete: „Ein Glas alle zwei Wochen – und das teile ich mir mit meiner Frau.“

Was Jon Bon Jovi und das Abendblatt zusammengebracht hat

So, und damit sind wir bei der Geschichte, die ich Ihnen zum Schluss erzählen wollte. Das Abendblatt hat mit „Vier Flaschen“ den erfolgreichsten deutschen Weinpodcast in seinem Programm. Das Prinzip ist einfach: Zwei Kollegen und ich testen alle zwei Wochen vier Flaschen Wein, reden darüber und laden uns interessante Gäste ein. Luisa Neubauer war schon da, Günther Jauch, Ulrich Wickert und Wolfgang Kubicki natürlich. Im vergangenen Jahr meldete sich dann das Management von, Achtung, Jon Bon Jovi bei uns: Der Sänger würde gern im Podcast zu Gast sein, ob wir uns das vorstellen könnten. Wir überlegten lange, sagten dann aber trotz einiger Bedenken zu … Kleiner Scherz. Jon Bon Jovi kam tatsächlich, einen eigenen Rosé im Gepäck, und ich muss sagen, dass ich vor der Aufzeichnung des Podcasts wirklich aufgeregt war. Um nicht gleich die Begrüßung zu versemmeln, hatte ich mir vorgenommen, folgende zwei Sätze zu sagen: „Nice to meet you. My Name is Lars.“
Als es so weit war, kam als Erstes der Sohn von Jon Bon Jovi: „Hi, I’m Jesse“, sagte er.
Ich antwortete: „Nice to meet you. My Name is Lars.“
Dann erschien der Winzer von Jon Bon Jovi, Gérard Bertrand: „Hi, I’m Gérard.“
Ich sagte: „Nice to meet you. My Name is Lars.“
Und dann kam schließlich Jon Bon Jovi selbst und sagte „Hi, I’m Jon.“
Und was sagte ich? Ich sagte einfach nur: „Nice.“

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes, nices neues Jahr. Vielen Dank!