Hamburg. Matthias Glaubrecht erhält Sigmund-Freud-Preis. Wofür der Zoologe und Projektleiter für das neue Naturkundemuseum ausgezeichnet wird.

Ein Hamburger hat jetzt etwas mit Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Carl Friedrich von Weizsäcker und Peter Sloterdijk gemeinsam – er ist Träger des Sigmund-Freud-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Der hoch dotierte Preise für wissenschaftliche Prosa geht am 4. November an Matthias Glaubrecht.

Und nach dem Preis ist vor dem Preis. Für sein Buch „Die Rache des Pangolin“ ist Glaubrecht auch für den Hamburger Literaturpreis nominiert. Das Werk steht auf einer Shortlist unter fünf Sachbüchern. Die Entscheidung über die Preisvergabe fällt im November, verliehen wird er am 4. Dezember 2023 im Literaturhaus.

Für Glaubrecht ist das eine beeindruckende Anerkennung seiner publizistischen Arbeit. Im Brotberuf ist der frühere Leiter des Naturkundemuseums Berlin und des Hamburger Centrums für Naturkunde heute wissenschaftlicher Projektleiter am Evolutioneum, wie das geplante Naturkundemuseum heißen soll.

Der Hamburger hat allein drei Bücher in vier Jahren veröffentlicht

Daneben aber hat der Zoologe eine unstillbare Lust am Schreiben: Innerhalb von vier Jahren hat er gleich drei große Sachbücher herausgebracht – eines über den Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso, eines über die Pandemie und eines über die Vernichtung der Arten. Sie sind nicht nur wissenschaftlich anerkannt, sondern zugleich auch für den Laien lesbar. Und nun preisgekrönt.

„Ich war mit meiner Familie auf dem Weg in die Bretagne. Als ich abends meine Mails gecheckt habe, bat der Präsident der Akademie um Rückruf“, erzählt Glaubrecht im Gespräch mit dem Abendblatt. „Ich dachte, er hat eine Rückfrage zu Adelbert von Chamisso. Und dann hat er mich zum Sigmund-Freud-Preis beglückwünscht.“

Matthias Glaubrecht möchte Wissenschaft erklären

In der Jury-Begründung heißt es, Glaubrechts „Bücher bieten fundierte Aufklärung über die Lebensprozesse auf unserem Planeten in der Epoche des Anthropozän.“ Der 61-Jährige freut sich über den Literaturpreis – „das ist eine Anerkennung auch für den Schreibstil.“ Wissenschaftler seien in den vergangenen Jahrzehnten eher selten bedacht worden, auch weil viele daran scheiterten, eine komplexe Materie allgemeinverständlich zu erklären.

Glaubrecht bedauert, dass anders als in Amerika das Schreiben und Kommunizieren an den Universitäten nicht gefördert wird. „Das vermisse ich. In Amerika ist es die Krönung einer Wissenschaftskarriere, wenn man einen allgemeinverständlichen Bestseller landet. Hierzulande rümpfen einige darüber bis heute die Nase. Manche glauben, wer verständlich schreibt, kann nicht wissenschaftlich sein.“

Sein jüngstes Werk widmet sich dem Forscher und Literaten Chamisso

Sein jüngstes Buch über Adelbert von Chamisso beruht noch auf seinen Vorbereitungen zur Ausstellung „Evolution in Aktion“ im Berliner Naturkundemuseum aus dem Jahr 2007. Dabei stieß er auf die dreijährige Forschungsweltreise des Literaten und schließlich auf 500 dort gesammelte Objekte, die sich in der Sammlung des Museums fanden. Glaubrechts Interesse für den Flüchtling Chamisso, den die Wirren der Französischen Revolution nach Berlin führten, der dann der deutschen Literatur die Figur des Peter Schlemihl schenkte und parallel als Naturforscher arbeitete, war geweckt.

Das Ergebnis ist die fast 700-seitige Biografie über eine faszinierende Figur der Geschichte. „Er lebte ein bisschen eine Doppelrolle, als Wissenschaftler und Literat. Das hat mich angesprochen.“ Glaubrecht begann, über ein Forschungsprojekt Chamissos Nachlass aufzuarbeiten, das Reisetagebuch zu digitalisieren und auszuwerten. „Darin können wir heute lesen, wie sich die Klimakrise 1816 nach der Explosion des Vulkans Tambora in der Arktis ausgewirkt hat.“

„Ich fange morgens um 5 Uhr an zu schreiben“

Glaubrecht, der derzeit das Naturkundemuseum in der Hansestadt vorantreibt, ist ein akribischer Arbeiter. „Ich fange morgens um 5 Uhr an zu schreiben, wenn die Kinder noch schlafen. Und ich schreibe am Wochenende und im Urlaub.“ Seine Frau, die ebenfalls Naturwissenschaftlerin ist, habe dafür Verständnis.

Das Buch „Die Rache des Pangolin“, das Artensterben und Pandemien in Beziehung setzt, entstand als Reaktion auf die Corona-Krise. „Wir manipulieren die Natur inzwischen in einem Ausmaß, dass diese Pandemie eine Katastrophe mit Ansage war“, warnt der gebürtige Hamburger.

Warum der Zoologe heute etwas optimistischer ist als vor einigen Jahren

Die Artenvielfalt ist Glaubrechts Lebensthema, wie er es in „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten“ umfangreich beschreibt. „Die Erkenntnis, was wir verlieren, wird noch brutaler, wenn man Chamisso liest. Das Artensterben hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich beschleunigt. Wir verändern die Natur in dramatischer Weise und merken es manchmal nicht einmal, weil sich Dynamik und Dimension nicht sofort erschließen.“

Sein nächstes Buch wird eine Zusammenfassung des „Ende der Evolution“ – aus mehr als 1000 Seiten werden bald rund 350 Seiten als Taschenbuch, eine Aktualisierung des Werkes von 2019. „Ich sehe heute hoffnungsvoller in die Zukunft als vor vier Jahren“, sagt er. „Damals war die Diskussion über das 30-mal-30-Ziel noch akademisch.“ Dahinter steckt das Ziel der UN-Biodiversitätskonferenz, bis 2030 weltweit 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche unter Naturschutz zu stellen.

Wie seine Forschung auch seinen Lebensstil verändert hat

„Inzwischen sind wir weiter. In Montreal haben das 196 Nationen im vergangenen Jahr verabredet.“ Allerdings schränkt er auch ein: „Wir haben uns auf den richtigen Weg gemacht, aber im Alltag ist das noch nicht angekommen, wenn ich mir etwa neue Infrastrukturprojekte sogar in Naturschutzgebieten oder gar Nationalparks anschaue. Wir werden unseren Lebensstil ändern müssen, vor allem aber unsere Einstellung zur Natur.“ Er hält die Verzichtsdebatten für unzureichend. „Wir sehen nur, was wir verlieren, wenn wir anders leben – aber übersehen, was wir verlieren, wenn wir so weitermachen.“ Die Natur sei überlebenswichtig. „Unser bisheriges Geschäftsmodell der Ausplünderung der Natur funktioniert nicht mehr.“

Seine Arbeit wirkt sich längst auf sein Leben aus: Sein Handy sei zehn Jahre alt. Eigentlich wollte er nach Teneriffa fliegen, um auf den Spuren Alexander von Humboldts den Teide zu besteigen, am Ende fuhr die Familie in den Harz. „Ich bin in einer Generation groß geworden, wo Flugreisen selbstverständlich wurden, und bin auch als Forscher lange überall unterwegs gewesen. Das mache ich nicht mehr.“

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Der Mensch und die Natur stehen auch im Mittelpunkt des geplanten Evolutioneum. „Der Name ist Programm. Wir wollen dort eben nicht nur einen ausgestopften Eisbären ausstellen, sondern die Ergebnisse unserer Forschung darstellen und den Menschen als Evolutionsfaktor zeigen.“ Das neue, innovative Haus in der HafenCity soll 500.000 Besucher im Jahr anlocken. „Ich wünsche mir ein prächtiges Erlebnis-Museum. Mit der Weichenstellung des Senats werden wir das schaffen.“

Ein wenig verrät er schon: „Wir wollen dort eine Installation schaffen, bei der der Besucher auf eine Wand mit einem Naturbild zugeht. Je näher er der Wand kommt, umso stärker verändert sich diese Landschaft in eine menschengemachte. So spürt jeder, dass der Mensch Spuren hinterlässt.“ Bis zur Realisierung dahin wird noch viel Wasser die Elbe hinunterfließen – vor 2028 dürfte die Eröffnung kaum anstehen.