Hamburg. Vor 250 Jahren wurde der große Denker Alexander von Humboldt geboren. Der Zoologe Matthias Glaubrecht sieht ihn aber kritisch.

Superlative beschreiben sein Leben: Er gilt als zweiter Entdecker Amerikas, als Wegbereiter Darwins, als Aufklärer, als letzter Universalgelehrter. Die Bundeskanzlerin eröffnete ihre Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit einem Verweis auf ihn und zitierte den berühmten Satz: „Alles ist Wechselwirkung.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte ihn eine „Leitfigur“. In der Hansestadt läuft noch bis Ende des Monats die Sonderausstellung „Humboldt lebt“ im Centrum für Naturkunde. Dessen Direktor Matthias Glaubrecht ist ein Humboldt-Kenner – und gießt nun Wasser in den Wein der Humboldt-Festtage.

Hamburger Abendblatt: „Humboldt lebt“ heißt Ihre Ausstellung. Was genau lebt noch von Alexander von Humboldt?

Matthias Glaubrecht: Wir haben die Ausstellung so genannt, weil Alexander von Humboldt ausgerechnet in der Hansestadt 1804 für tot erklärt wurde. Der „Hamburger Correspondent“ hatte vermeldet, der Forscher sei zu Acapulco an Gelbfieber verstorben. Solche Falschmeldungen gab es damals gar nicht so selten. Aber man muss auch wissen, dass Alexander von Humboldt ein Selbstdarsteller vor dem Herrn war. Er hielt es wohl wie Mark Twain, der einmal gesagt hat: „Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ Auch die Mona Lisa wurde erst weltberühmt, nachdem das Bild 1911 gestohlen worden und dann zwei Jahre verschwunden war.

Hat Humboldt etwa sein Ableben selbst lanciert?

Glaubrecht: Das ginge zu weit und ist durch die Forschung nicht gedeckt.

Alexander von Humboldt wird weltweit verehrt, hierzulande gilt er als letztes Universalgenie. Wie großartig war der gebürtige Berliner?

Glaubrecht: Er war großartig! Und er ist sicher einer der verdienstvollsten und großartigsten Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Er reiht sich ein in eine Reihe mit Charles Darwin, Alfred Russel Wallace oder Ernst Haeckel. Er hatte eine Vorbildwirkung für viele andere Forscher, weil er diese unglaublich erfolgreiche Reise gemacht hat. Und er hat seine Expeditionen sehr gut aufbereitet. Es ist aber ärgerlich, wenn er jetzt so maßlos überhöht wird.

Das machen aber viele ...

Glaubrecht: In Lateinamerika ist die Freiheitsbewegung eng verknüpft mit Alexander von Humboldt. Hier gilt er als zweiter Entdecker Amerikas – da werden viele, die ihm zuvorkamen, ignoriert. Humboldt reiste beispielsweise auf den Spuren des Franzosen Charles Marie de La Condamine. Eigentlich war dieser der Vermesser Südamerikas – aber er ist in Vergessenheit geraten, und Humboldt erntet den Ruhm.

Er hatte ja auch eine Verbindung nach Hamburg, wie Ihre Ausstellung zeigt.

Glaubrecht: Ja, sogar eine ganz wichtige: Von August 1790 bis April 1791 hat er hier in Hamburg Kameralistik studiert – an der privaten Handelsakademie von Johann Georg Büsch. Das würde man heute wohl als Wirtschafts- und Verwaltungslehre bezeichnen – das war ein wichtiger Teil seiner Ausbildung. Er hat in dieser Zeit auch eine achttägige Exkursion nach Helgoland gemacht, um dort Steine zu sammeln. Hamburg hat ihn aber darüber hinaus geprägt: In den Untiefen vor Kuba etwa hat er sich an die gute Sicherung der Elbmündung mit Signaltonnen erinnert.

Dieses Humboldt-Jahr in Hamburg hat die Stadt vergessen ...

Glaubrecht: Ja, weil der Berliner Humboldt sicher prägender war als der Hamburger Humboldt. Er ist eben eng mit dem preußischen Hof verbunden.

Wie sehr ist unsere Wahrnehmung inzwischen von Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ und Detlev Bucks Verfilmung geprägt? Trifft dieses Bild die Person?

Glaubrecht: Kehlmann hat das sehr raffiniert gemacht. Aber er hat das überhöhte Bild von Humboldt bekräftigt. Eigentlich hat – wie gesagt – der Franzose Condamine schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Vermessung der Welt begonnen. Seit Kehlmann denkt man, Humboldt war der erste Verrückte, der mit 25 verschiedenen Messgeräten die Berge hinaufkraxelt. Er ist aber nicht der Erfinder der Vermessung der Welt – deshalb ist der Titel falsch. Humboldt hat viele Instrumente und Techniken anderer Forscher benutzt und in den Anden nur übertragen, was es damals in den Alpen schon längst gab.

Wird Humboldt also überschätzt?

Glaubrecht: Mitunter schon, wenn ich etwa den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier höre. Die Verknüpfung von Empirie und Ästhetik und sein von der Antike geprägtes Weltbild machen ihn aber völlig ungeeignet als „Leitfigur für das 21. Jahrhundert“. Die berühmte Formel von der „Wechselwirkung“ stammt übrigens gar nicht von Humboldt, sondern einem französischen Naturforscher, Jean-Louis Giraud-Soulavie, den Humboldt nachweislich kannte, aber später verleugnete.

In seinem „Naturgemälde der Anden“ mit dem Chimborazo in Ecuador erfasst Humboldt die Klima- und Vegetationsstufen – sie gilt als erste Infografik.

Glaubrecht: Auch da muss ich leider feststellen: Er war nicht der Erste – und dieses Naturgemälde ist auch nicht korrekt. Er kombiniert in diesem Tableau eine Tabelle und ein Gemälde eines Andenberges, den er aufschneidet und mit vielen Pflanzennamen versieht. Diesen 3-D-Schnitt durch den Berg hat er sich von zwei Vorgängern, Giraud-Soulavie und Zimmermann, in Europa abgeschaut. Das finde ich alles noch nicht so schlimm, weil wir wissen, dass große Menschen auf den Schultern von Giganten stehen. Schlimm aber sind zwei jüngere Erkenntnisse: Ein Botaniker hat nun festgestellt, dass Humboldt oberhalb von 3600 Metern auf dem Chimborazo keine Pflanzen mehr gesammelt hat, diese aber dort einträgt. Und diese Pflanzen kommen dort gar nicht vor, sie stammen vom benachbarten Antisana. Er nimmt es mit den Fakten nicht so ernst. Humboldt ist leider nicht der exakte Wissenschaftler, der er in unserer Wahrnehmung war. Und das finde ich als Naturforscher schon erschütternd.

Manche sehen in ihm einen Vordenker für Darwin ...

Glaubrecht: Das ist wirklich erstaunlich, dass einige aus der Berliner Akademieforschung und in deren Gefolge nun auch Andrea Wulf in ihrer gefeierten Biografie ihn unbedingt als Vordenker sehen wollen. Da steckt weniger der naturwissenschaftliche Kontext dahinter. Humboldt hat versucht, durch unzählige gesammelte Fakten eine Theorie der Welt zu entwickeln. Aber das funktioniert nicht – diese Theorie gelang erst Charles Darwin. In der Philosophie ist Humboldt der Antike und der deutschen Romantik verhaftet. Er sucht nach Ordnung, Harmonie, Kosmos und will so die Natur erklären. Er kann deshalb aus seinen Messungen und Beobachtungen keine Gesetzmäßigkeit entwickeln. Das macht ihn zum tragischen Helden. Humboldt stirbt am 6. Mai 1859 – ein halbes Jahr später erscheint Darwins Werk „Über die Entstehung der Arten“. Diese Theorie gibt uns eine neue Weltsicht. Die Evolutionsdynamik durch Selektion hat Humboldt nicht gesehen.

Ist Humboldt also ein hoffnungsloser Romantiker?

Glaubrecht: Ja, ich glaube, er ist hin- und hergerissen zwischen dem unromantischen Vermessen und dem romantischen Versuch, die Welt zu erklären. Vielleicht gefällt er uns auch deshalb heute so gut. Vieles wird Humboldt einfach zu Unrecht zugeschrieben.

Dann wäre er ein Opfer der Zuschreibung. Oder ist er ein Blender?

Glaubrecht: Ich vermute, beides. Wie jeder Wissenschaftler ist er auch an seinem Image interessiert. Bei seiner Südamerika-Reise hat er durch seine Briefe gezielt für das Interesse an seiner Person gesorgt. Da hilft auch die Meldung über seinen Tod. Und schauen Sie sich einmal die Bilder an, die ihn noch im hohen Alter zeigen: Es ist immer der Chimborazo im Hintergrund, und er schreibt immer auf seinem Knie schnell etwas auf, so als sei er noch immer auf Reisen. Man muss aber auch sagen: Jede Generation bastelt sich ihren eigenen Humboldt.

Basteln Sie nicht auch Ihren eigenen Humboldt, wenn Sie nun das Denkmal vom Sockel stürzen?

Glaubrecht: Mich stört weniger das Image, das Humboldt von sich entwirft, als seine Manipulationen. Es mit den Fakten nicht ernst zu nehmen ist unverzeihlich. Mich stört vor allem aber der Personenkult, den er im Übrigen auch gar nicht nötig hat.

Prof. Matthias Glaubrecht, Zoologe in Hamburg, hat die Ausstellung „Humboldt lebt“ am CeNak mitentwickelt.
Prof. Matthias Glaubrecht, Zoologe in Hamburg, hat die Ausstellung „Humboldt lebt“ am CeNak mitentwickelt. © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Humboldt hat sich selbst als Getriebener bezeichnet.

Glaubrecht: Das war er ganz sicher – was er sich aber vorgenommen hatte, konnte nur scheitern. Auch wenn er eine Akademie in einer Person war.

Höhlenkunde, Vulkanologie, Kartografie, Magnetismus, Botanik, Zoologie, Ethnologie, Physik, Geologie, Klimakunde, Wirtschaft, Landwirtschaft, Bergbau, Astronomie, Meteorologie und Meereskunde. Das alles hat Humboldt erforscht und zwischen 1805 und 1839 sein 34-bändiges Reisewerk publiziert ...

Glaubrecht: Sein Freund Arago sagte von ihm einmal, er könne kein Werk vollenden – was stimmt. Auch sein Reisebericht bricht bereits in Kolumbien ab. Vieles müssen die Leser sich in Sekundärquellen zusammensuchen. Der größte Erfolg war nachher sein Werk „Kosmos“, obwohl es eigentlich komplett unlesbar war. Genial aber waren seine Kosmos-Vorlesungen 1828, 1829, die er für ganz Berlin gehalten hat, den Handwerker wie den König. Das waren Sternstunden.

Humboldt ist 90 Jahre alt geworden – wahrscheinlich älter als jeder andere Weltreisende dieser Zeit.

Glaubrecht: Ernst Mayr, der Darwin des 20. Jahrhunderts, ist sogar 100 Jahre alt geworden. Vielleicht muss man in jungen Jahren in die Tropen fahren und dann am besten gar nicht mehr. Auch Darwin und Wallace sind alt geworden: Reisen hält jung – wenn sie die Strapazen überleben. Interessanterweise war Humboldt als junger Mensch kränkelnd – und hat dann eine Rossnatur entwickelt. Sie müssen sich vorstellen, wie Humboldt damals unterwegs war, in Halbschuhen und mit Straßenkleidung ist er auf Sechstausender geklettert. Das zeigen wir auch in unserer Ausstellung. Übrigens wollen wir die Schau dreidimensional sichern und sie als virtuelle Ausstellung im Internet zur Verfügung stellen.

Sagen Sie uns zum Schluss doch noch mal etwas Nettes über Humboldt!

Glaubrecht: Das Gesamtwerk, diese ungeheure Breite seines Interesses, diese unerschöpfliche Energie, mit der er tätig war, nötigt mir enormen Respekt ab. Er hat für die Sache sein Privatleben und sein Privatvermögen geopfert. Ich sehe Humboldt gar nicht so kritisch, nur die heutigen Abhandlungen über sein Leben und die unzutreffenden Zuschreibungen. Ich bin mir sicher: Da hätte sich Humboldt selbst nicht wiedererkannt.