Hamburg. Der Hamburger Forscher Matthias Glaubrecht warnt in seinem neuen Buch eindringlich vor einem Verschwinden der Arten.
Alle reden vom Klima. Prof. Matthias Glaubrecht, Direktor des Centrums für Naturkunde, spricht in seinem neuen Buch „Das Ende der Evolution“ über das Verschwinden zahlreicher Tier- und Pflanzenarten, die Ursachen – und die Perspektiven der Menschheit.
Hamburger Abendblatt: Alle reden vom Klima – für Sie ist das nur ein „Nebenkriegsschauplatz“. Gibt es nun einen Wettbewerb beim Weltuntergang?
Matthias Glaubrecht: Das Wort ,Nebenkriegsschauplatz‘ klingt wie eine Provokation, weil die Klimadebatte derzeit alles beherrscht. Tatsächlich aber ist das Artensterben neben dem Klima das große Zukunftsthema des 21. Jahrhunderts. Selbst wenn wir in der Klimapolitik alles richtig machen, wird uns der Artenschwund einholen.
1962 veröffentlichte die Biologin Rachel Carson das Buch „Der stumme Frühling“, das eine große Umweltdebatte auslöste. Aber so richtig viel ist im Artenschutz seitdem nicht passiert ...
Glaubrecht: Wir haben drei Probleme. Wir fokussieren uns auf Flaggschiff-Arten – aber wenn wir den Tiger retten, haben wir das Problem noch nicht gelöst. Zweitens übersehen wir mit unseren Roten Listen die Dimension, um welche Anzahl an Arten es insgesamt geht. Wir könnten eine Million Arten verlieren! Drittens nutzen wir inzwischen zwei Drittel der Landoberfläche. Die Menschheit dominiert die Erde, nur noch ein Drittel ist Wildnis. Dort aber konzentriert sich die Artenvielfalt. Unsere Kulturlandschaft ist weitgehend ausgeräumt, viele Vogel- und Insektenarten können dort nicht mehr überleben.
Was müsste geschehen?
Glaubrecht: Wir müssen einen Großteil der verbliebenen Wildnisgebiete radikal unter Naturschutz stellen. Bis zum Jahr 2030 müssen es 30 Prozent sein, bis zum Jahr 2050 sogar 50 Prozent. Und daneben müssen wir auch unsere Kulturlandschaft einschließlich unserer Gärten naturnah umbauen.
Es ist nicht lange her, da klebten im Sommer noch Hunderte Insekten an unseren Windschutzscheiben. Nun bleiben sie fast sauber.
Glaubrecht: Das Phänomen hat die Leute nachdenklich gemacht. Tatsächlich sind alle diese Zahlen zum Artenschwund beängstigend. Auch unsere Meere sind zu 80 Prozent überfischt. Zwei Drittel der Biomasse der Fluginsekten sind verschwunden, 300 Millionen Vögel fehlen allein in Europa, das ist ein Rückgang um 50 Prozent in vier Jahrzehnten; drei Milliarden sind es in Nordamerika. Der Tiger stirbt nicht aus, weil es ihn im Zoo noch gibt. Aber in der freien Wildbahn sind von 100.000 Tigern vor 100 Jahren heute noch knapp 4000 Exemplare geblieben – in der freien Natur ist er eigentlich nicht mehr präsent.
Sie prophezeien, dass es in der Wildnis in 20 bis 30 Jahren überhaupt keine großen Säugetiere mehr gibt ...
Glaubrecht: Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen, sondern evolutionsbiologisch nachweisbar. Die Menschheit hat wie ein Blitzkrieger auf allen Kontinenten außer Afrika die Großfauna ausgelöscht. Die großen Raubtiere unter ihnen stehen in der Nahrungspyramide ganz oben, benötigen größere Gebiete und sind Konkurrenten um Nahrung. Nur in Afrika, wo die Menschheit ihren Ursprung genommen hat, konnten sich die Arten an den Homo sapiens anpassen.
Hierzulande kehrt gerade der Wolf zurück – spricht das nicht gegen Ihre These?
Glaubrecht: Europäische Raubtiere wie Luchs, Wildkatze und Wolf sind eher ein Luxusproblem. Wir haben sie hierzulande ausgerottet, weil sie Nahrungskonkurrenten sind – und der Wolf zudem gefährlich war. Nun kommt er wieder – aber nicht als Teil eines funktionierenden Ökosystems. Er hat keine Gegner mehr und viel zu wenig Opfer. Deshalb vergreift sich der Wolf ja an Schafen. Das Phänomen erinnert an die hungernden Löwen in den Schutzgebieten in Afrika, die Rinder schlagen, weil Antilopen fehlen. Die Wildnis wird überall zurückgedrängt. Selbst da, wo es noch große Wälder gibt, leeren sie sich: Wir finden dort keinen Nashornvogel mehr, keinen Orang-Utan, keine Raubkatzen, die großen Tiere verschwinden.
Warum ist es so schlimm, wenn Arten verloren gehen?
Glaubrecht: Alles, was wir essen und trinken, ist abhängig von der Artenvielfalt. Tomate-Mozzarella beispielsweise ist ja keine Astronautennahrung, sondern die Tomaten sind von der Bestäubung durch Hummeln abhängig. Diese Bestäuber fehlen zunehmend. Jede Art hat im ökologischen Gefüge ihre spezifische Funktion, auch wenn wir nicht immer genau verstehen, welche das im Einzelnen ist. Im Buch vergleiche ich das Artensterben mit dem Spiel Jenga – einem Holzturm, aus dem man immer mehr Holzklötzchen entfernt, bis er zusammenfällt. Beim ersten Stab passiert nichts, aber je mehr Sie herausziehen, desto fragiler wird das System. Und irgendwann bricht der Turm zusammen.
Ist der Mensch einem Meteoriteneinschlag vergleichbar, der vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier und einen Großteil der Arten ausrottete?
Glaubrecht: Wir sind der Meteorit, wir sind der Verursacher des aktuellen Artensterbens. Damals hat ein Meteorit in Sekundenbruchteilen eine Kaskade von Kettenreaktionen ausgelöst – und damit übrigens den Säugetieren zum Aufstieg verholfen. Alle Säugetiere haben damals in einer Nachtnische gelebt, waren kälteresistent und konnten so die lange Zeit herrschende, einem nuklearen Winter vergleichbare Dunkelheit und Kälte nach dem Einschlag überleben. Nun machen wir etwas Ähnliches – die Menschheit hat in kürzester Zeit durch ihre schiere Zahl in viele Systeme und Erdprozesse eingegriffen. Wir räumen die Landschaften regelrecht aus. Nur ein Beispiel – wir haben unsere Hausfassaden so bereinigt, dass dort nicht einmal mehr Spatzen und Schwalben Nistplätze vorfinden.
Und am Ende stirbt der Mensch?
Glaubrecht: Ja, das ist möglich. Wir hängen von ganz wenigen Nahrungspflanzen ab – etwa vom Getreide. Wir haben eine Bananenform gezüchtet, die gegen den Bodenpilz TR1 immun war. Nun gibt es die Mutation TR 4, und in Südamerika ist die gesamte Bananenproduktion gefährdet. Wir merken das noch nicht, weil wir einfach Bananen aus anderen Ländern einführen. Aber Kolumbien hat deshalb den Notstand ausgerufen. Das ist nur ein Beispiel für die Anfälligkeit unserer Ernährung und mangelnde Vielfalt auf allen Ebenen. Irgendwann aber lassen sich nicht mehr alle Flächenbrände kompensieren.
Fortschreibungen in die Zukunft sind unsicher. Manche Prognosen des Clubs of Rome, etwa hinsichtlich der Verfügbarkeit von Rohstoffen, lagen ziemlich daneben ...
Glaubrecht: Viele Prognosen waren richtig – wir können auf einem endlichen Planeten kein unendliches Wachstum erwarten. Das Hochrechnen war richtig, die Ableitungen waren vielleicht übertrieben. Dank der „grünen Revolution“ ließen sich in den 1960er-Jahren viel mehr Menschen ernähren als erwartet. Heute ist der Hunger in der Welt vor allem ein Verteilungsproblem – aber das wird sich angesichts der Bevölkerungsexplosion ändern: Die Produktivität lässt sich nicht ewig steigern, und wir werden viele Wildnisse für weitere Nutzflächen verlieren.
Bisher hat die Landwirtschaft ihre Erträge stets steigern können ...
Glaubrecht: Aber um welchen Preis? Die Neonicotinoide sind ein immenses Problem – wir diskutieren, ob Glyphosat krebserregend ist. Darum geht es aber nicht. Neonicotinoide machen tabula rasa. Dieses für Insekten hochwirksame Nervengift verbleibt zu 95 Prozent nicht in der Pflanze, sondern wird in den Boden und die Gewässer ausgespült. Es wundert mich nicht, dass wir 80 Prozent der Fluginsekten in den vergangenen drei Jahrzehnten verloren haben. Alles hängt eben mit allem zusammen: Wenn Sie in Ihrem Garten Gift gegen Blattläuse sprühen, schadet das dem Blaumeisen-Nachwuchs, was wiederum den Sitkaläusen in den Koniferen nützt. Viele banale ökologische Zusammenhänge sind uns Stadtmenschen fremd geworden.
Ist die Bevölkerungsexplosion unsere größte Bedrohung?
Glaubrecht: Ja, das Thema Weltbevölkerung ist ein Schlüssel – aber wir sprechen viel zu wenig darüber. Die Geburtenrate nimmt ab, aber das merken sie erst nach Jahrzehnten – wir werden noch von Jahr zu Jahr 80 Millionen Menschen mehr auf der Erde. In Afrika wächst die Bevölkerung besonders stark: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Bildung und Kinderzahl: Mit jedem weiteren Schuljahr haben die Frauen ein Kind weniger. Das Thema ist schwierig, weil es natürlich nach Neokolonialismus riecht.
Können wir die Welt retten, wenn in vielen Ländern der Welt mehr Wohlstand und Konsum größere Ziele als Nachhaltigkeit sind?
Glaubrecht: Die größte Biodiversität und die größten Wildnisflächen liegen in wenigen Ländern – unter anderem in Brasilien und Indonesien, in Australien, aber auch den USA, Kanada und Russland – die Politik dieser Staaten ist deshalb extrem wichtig. Wir leben inzwischen in einer globalisierten Welt, deshalb gehen die Amazonas-Wälder eben nicht nur Brasilien etwas an, sondern die gesamte Menschheit. Da müssen wir über die Uno und Handelsabkommen Druck aufbauen.
Sie stimmen der These zu, wir leben in einem neuen Erdzeitalter – dem Anthropozän, in dem die Art Homo sapiens den gesamten Planeten umgestaltet. Kann der Mensch sich am Ende überhaupt ändern?
Glaubrecht: Die Hoffnung habe ich. Wir haben seit der – durchaus problematischen, weil auch nachteiligen – Sesshaftwerdung und der Erfindung des Ackerbaus einen neuen kulturellen Verhaltenskodex erlernt. Das zeigt, dass wir so etwas können. Allerdings stehen uns heute genau jene Verhaltensweisen im Weg, die uns einst haben erfolgreich werden lassen. Und die Herausforderung ist, in einem deutlich kürzeren Zeitraum unser Verhalten radikal zu verändern.
Was kann ein jeder tun?
Glaubrecht: Fangen wir mal beim Garten an: Schaffen Sie Ihren Rasenroboter ab, die mähen alles nieder. Lassen Sie alte Bäume stehen. Reduzieren Sie den Ressourcenverbrauch, wo es geht – niemand muss zum Shoppen übers Wochenende nach Nizza oder New York fliegen. Wir müssen uns generell einschränken, Verzicht üben. Der E-Roller beispielsweise bringt niemanden weiter, ganz im Gegenteil ist das ein absurder Ressourcenverbrauch. Immerhin hilft uns jetzt die Klimadebatte. Hier hat es 40 Jahre gedauert, bis aus einem Wissenschaftsthema ein Gesellschaftsthema wurde. Ich hoffe, dass es beim Artensterben nicht genauso lange dauert.
Sie haben zwei Variationen für das Leben im Jahr 2062 im Buch entworfen – eine optimistische und eine pessimistische. Welche ist die wahrscheinlichere?
Glaubrecht: Wir haben Hoffnung. Ich fürchte aber, wir machen uns zu langsam auf dem Weg. Wir werden viele Arten verlieren. Hoffentlich werden es nicht so viele Jenga-Steine sein, dass das System zusammenbricht.
Wie wackelig ist denn der Jenga-Turm?
Glaubrecht: Viel wackeliger, als wir denken. Der Turm schwankt, wir stehen an der Schwelle zu dem sechsten Massensterben auf der Erde.
Ein Untergangs-Szenario – und eines der Umkehr
- Dieses Buch ist ein Schwergewicht – nicht nur angesichts von 1072 Seiten, 1006 Anmerkungen und 47 Seiten Literaturverweisen, es ist auch schwere Kost. „Das Ende der Evolution“ ruft Prof. Matthias Glaubrecht aus. Der Zoologe, der das Hamburger Centrum für Naturkunde an der Bundesstraße 52 leitet, beschreibt die Vernichtung der Arten so schonungslos wie klar verständlich: Bei der Lektüre wird schnell deutlich, dass Glaubrecht lange als Wissenschaftsjournalist gearbeitet hat und den Leser nicht aus dem Blick verliert.
- Der Hamburger macht klar, dass es eben beim Verschwinden von Pflanzen und Tieren nicht um einzelne entbehrliche Arten geht, sondern um „ökologische Netzwerke des Lebens, die immer mehr Knoten und Maschen verlieren. Am Ende werden es zu viele sein, sodass sie keine weitere Veränderung und Belastung mehr aushalten.“ So gerät auch die Menschheit und ihr Überleben in Gefahr. Dabei ist es die schiere Masse vom Menschen, die er als Ursache des Übels ausmacht. „Die simple, nur nicht gern gehörte und mithin allzu oft verdrängte Nachricht ist: Wir sind zu viele.“
- Die Menschheit als Opfer des eigenen Erfolgs? Er beschreibt den Aufstieg des Homo sapiens, des „weisen Menschen“, zum Gestalter und Unterwerfer der Welt – und wie die menschliche Natur die Natur zerstört. Das Artensterben steht im Mittelpunkt des zweiten Teils, der dritte Teil wagt den Blick in die Zukunft. Im Epilog schildert Glaubrecht, wie die Welt im Jahre 2062 aussehen könnte – wenn er 100 Jahre alt wäre. Version eins erzählt die Geschichte eines Untergangs, Version zwei die Geschichte einer Umkehr. Man mag manche Prognosen überzogen finden, das Bild aber ist erschreckend – vor allem weil die Untergangsversion aus heutiger Perspektive realistischer erscheint.
- Es geht am Ende um unseren Lebensstil – und um die Tatsache, dass knapp zehn Prozent der Menschheit im reichen Norden mehr als die Hälfte der Energie verbrauchen und 80 Prozent des Treibhauseffekts verursacht haben. Mit dem Aufstieg Chinas werden sich diese Relationen verschieben – eine gute Nachricht für Weltklima und Artenschutz ist das aber nicht. Unser Planet ist ein zerbrechlicher Planet – und der Himmel, so Glaubrecht, hängt eben nicht voller Erden. Wir haben nur eine.
- Matthias Glaubrecht: „Das Ende der Evolution – Der Mensch und die Vernichtung der Arten“, C. Bertelsmann, 1072 Seiten, gebunden, 38 Euro.