Hamburg. Der Moderator und Autor hat ein Buch über seine Mutter Aenne und ihre Brüder geschrieben – keiner kehrte aus dem Krieg zurück.
Reinhold Beckmann, 67, machte seine erste Karriere als Sportmoderator und Kommentator, seine zweite als Talkmaster und Produzent. Seine dritte Karriere als Künstler aber hat das wohl intensivste Echo ausgelöst – denn mit seiner Band vertonte er das Schicksal seiner vier Onkel, die alle den Zweiten Weltkrieg nicht überlebten – und damit das Schicksal einer Generation.
Am Volkstrauertag 2021 spielte er den Song „Vier Brüder“ sogar im Bundestag. Nun hat er die Lebensgeschichte seiner Mutter und ihrer vier Brüder niedergeschrieben – ein bewegendes Buch über die Bitternis des Krieges, unbeugsamen Mut und grenzenloses Gottvertrauen.
Beckmann verwandelt Song verwandelt in ein Geschichts-Buch
Erst war der Song, dann kam das Buch. Wann reifte der Gedanke, die Geschichte Ihrer Familie niederzuschreiben?
Die Idee dazu war immer da – eigentlich schon vor knapp 20 Jahren. Mich hatte damals die Autorin Wibke Bruhns nach ihrem Bucherfolg „Meines Vaters Land“ ermuntert, meine Familiengeschichte aufzuschreiben. Aber mir war klar, dass man so ein Projekt nicht einfach mal nebenbei erledigen kann. Also blieb es lange liegen. Als wir nach unserem Konzert im Bundestag dann so viele Reaktionen von Menschen bekamen, die ihre eigenen Familiengeschichten geteilt haben, konnte ich nicht mehr kneifen, da musste ich es machen.
Feldpostbriefe aus dem Adidas-Schuhkarton
Im Buch heißt es: „Normalerweise kommen Onkel an Feiertagen zu Besuch, meine vier Onkel kamen immer im Schuhkarton.“ In diesem Schuhkarton lagen die Erinnerungen, die Briefe der toten Brüder. Wie oft fragt man sich: Wollen die Menschen das überhaupt lesen? Und sollen die Menschen das lesen?
Das habe ich mich überhaupt nicht gefragt. Es ist eine Familiengeschichte, die ich für unsere Familie aufgeschrieben habe – und auch für andere Familien, in denen es ein ähnliches Schicksal gab. Bei uns saßen zu Weihnachten gedanklich die vier Onkel immer mit am Tisch. Meine Mutter konnte nicht anders und dann sind Tränen geflossen, danach konnte man die Uhr stellen. Ihre Brüder waren immer präsent. Und ich habe sehr viele Gespräche mit meiner Mutter geführt, die im Gegensatz zu anderen ihrer Generation gerne erzählt hat. Ich glaube, sie wollte durch das Erzählen ihre Lieben lebendig halten. Deshalb hat sie mir den Schuhkarton vermacht. „Reinhold, mach was draus“, sagte sie.
Beckmann beschreibt ein Dorf auf dem Weg in den Faschismus
Ihr Buch ist Heimatlektüre im besten Sinne: Der kleine Ort Wellingholzhausen am Fuß des Teutoburger Waldes wird im Buch sehr plastisch – wie lässt man eine versunkene Welt wieder auferstehen?
Als Kind und Jugendlicher habe ich dort einige Sommer verbracht. Viele Menschen, die ich im Buch beschreibe, habe ich noch persönlich in Erinnerung. In den vergangenen Monaten bin ich dann oft nach Wellingholzhausen gefahren, bin auf einigen Dachböden herumgekrochen und habe lokale Historiker gebeten, mir zu helfen.
Für das Buch haben Sie auch alle rund 100 Feldpostbriefe ihrer Onkel ausgewertet…
Sie lagen in dem Schuhkarton „Adidas Brasilia“, in dem zuvor die Fußballschule meines Bruders gesteckt hatten. Schon früher habe ich ein wenig darin herumgelesen, aber nicht viel entziffern können – sie waren alle in Sütterlin verfasst. Man spürt aber sofort, unter welch schwierigen Bedingungen die Brüder geschrieben haben: Im Schützengraben fehlte es an Zigaretten und immer an Papier. So haben die Soldaten jede kleinste Stelle auf dem Blatt genutzt, um sich mitzuteilen.
Durch die Briefe lernt Beckmann seine Onkel erstmals kennen
Durch die Briefe haben Sie Ihre Onkel erstmals kennen gelernt. Franz, Hans, Alfons und Willi, keiner kehrte zurück. Entwickelt man eine Beziehung zu diesen Menschen, die man nie gesehen hat?
Ja, irgendwann sind sie als unterschiedliche Charaktere aus den Zeilen geschlüpft. Ich kann jetzt viel besser differenzieren, wer Hans war, wer Alfons, wer Franz. Von Willi gibt es leider keine Briefe. Mein Lieblingsonkel ist jetzt eindeutig Franz, der Älteste, weil er die berührendsten Worte findet und reflektierter als seine Brüder war. Er schreibt schon seit `41 von der Hölle im Osten. Sein kleiner Bruder Hans hatte sich hingegen weit vor dem Krieg zum Militär verpflichtet, weil er gutes, gesichertes Geld verdienen wollte. Er hat Zweifel für sich nicht zugelassen. 1942 fällt Hans. Er ist der erste der Brüder, der den Krieg nicht überlebt.
Wenn man die Briefe gerade von Franz liest, wundert man sich über seine Offenheit: „Wann hat doch bloß diese verfluchte Zeit ein Ende“, heißt es da beispielsweise.
Das hat auch ein Militärhistoriker als ziemlich mutig benannt. Es gab eine Prüfstelle, die Briefe herauszog, um zu sehen, wie es um die Moral in der Truppe steht. Franz‘ Schicksal ist am Ende sehr tragisch. Im Oktober 1944 hat er im Heimaturlaub noch seine große Liebe geheiratet und sein Vetter bot ihm an, ihn in einem Verschlag zu verstecken. Er lehnte ab, aus Angst entdeckt zu werden, und starb kurz vor Kriegsende in Ostpreußen.
Die ersten Briefe klingen noch ganz anders, Alfons schrieb von einem „gemütlichen Krieg“, es riecht nach Abenteuer, man spürt die Freude über den frisch erworbenen Führerschein. Mit dem Russlandfeldzug wird alles anders…
Russland verändert alles. Man merkt die Trostlosigkeit, die Hoffnungslosigkeit; die Briefe werden immer wortkarger, kommen seltener. Bevor Alfons am Heiligabend 1942 in Stalingrad fällt, war er zwei Jahre nicht zu Hause, weil damals nur die Ehemänner und die Verlobten Fronturlaub bekamen. Wenn man das alles liest, bleiben nur tiefe Leere und Einsamkeit zurück. Alfons galt lange Zeit als vermisst. Erst 2003 kam wie durch ein Wunder die Nachricht, dass man ihn gefunden habe. 61 Jahre nach seinem Tod. Da habe ich gelernt und verstanden, welche aufwändige Arbeit der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bis heute leistet.
Und immer schwingt die Hoffnung auf die Antwort mit
Viele Briefe enden mit dem Satz: Bitte schreib sofort wieder zurück…
Ja, darin steckt die Botschaft: Ihr dürft uns nicht vergessen. Das hat meine Mutter wirklich beherzigt. Je länger der Krieg dauert, um so unzuverlässiger wird die Zustellung, und immer mehr Briefe gehen verloren.
Sie haben selbst eingedenk der Geschichte der Familie den Kriegsdienst verweigert. Würden Sie es heute immer noch machen?
Ich vermute ja – auch unter diesen neuen Umständen. Seinerzeit stand die Verweigerung für mich außer Frage. Ich war ein Hippiekind, hatte eine harte linke Phase. Damals musste man noch zur Gewissensprüfung: Da saßen dann drei ältere Männer, die sich kein bisschen für meine Familiengeschichte interessierten, über meine langen Haare witzelten und mich komplett auflaufen ließen. Ich ging dann in Berufung und beim zweiten Mal war alles anders: Der Vorsitzende mochte mich, am Ende haben wir über Musik geplaudert und der Antrag ging durch.
Heute sind die Kriegsorte von einst wieder Schauplätze des Kampfes
Wie blickt man auf den Krieg in der Ukraine, wenn man selbst in diesen Kriegsrecherchen gefangen ist?
Ich hatte mehrere Monate lang recherchiert und mit Hilfe von Historikern die Briefe, die als Ortsangabe ja meist „im Felde“ tragen, geografisch zugeordnet. Am 21. Februar 2022 habe ich mich dann hingesetzt und angefangen zu schreiben. Drei Tage darauf sind die Russen in die Ukraine einmarschiert – und plötzlich waren die Orte aus meinem Buch, ob Mariupol oder Rostow, in den Nachrichten. Als Kriegsschauplätze! Es ist schockierend, wie sich Geschichte wiederholt: Heute fürchten Eltern in der Ukraine und in Russland wieder die Nachricht, dass ihre Kinder nie mehr nach Hause kommen.
Die Menschheit wird nicht klüger…
Wir hatten gedacht, ein solcher Krieg wäre in Europa Geschichte. Welch ein Irrtum! Und je länger der Krieg dauert, das habe ich bei der Recherche gelernt, umso größer wird die Verrohung, wird der Hass. Wie viele Generationen mag es dauern, bis dieser ganze Hass wieder der Versöhnung weichen kann?
Nur die Kirche wehrte sich gegen die Nazis – zu Beginn
Sehr plastisch beschreiben Sie den Aufstieg des Nationalsozialismus, wie in dem westfälischen Dorf immer mehr Menschen dem Führer verfallen. Bekommt man da einen intensiveren Blick auf unsere eigene Geschichte?
Ja, und das hat mich zurückgeführt zu den heftigen Diskussionen mit meinem Vater in meiner Jugendzeit, in denen ich wohl nicht immer gerecht argumentiert habe. Wellingholzhausen war erzkatholisch und daher zunächst sehr skeptisch gegenüber den Nazis. Beim Recherchieren ist mir noch einmal klar geworden, welche Chance die katholische Kirche als soziale Kraft in diesen Regionen verpasst hat, sich gegen die Nationalsozialisten zu stellen.
Der Dorfpfarrer wird aber als sehr mutig und unbeugsam dargestellt.
Ja, er musste häufiger Strafgeld bezahlen und hat immer versucht, kleine Lücken zu finden und den Einfluss der katholischen Kirche zu wahren. In Wellingholzhausen haben die Nazis die Leute unter Druck gesetzt und Angst verbreitet. Und dann wurde der Schuldirektor ausgewechselt, um die nächste Generation auf Kurs zu bringen.
Die Dorfjugend zieht verblendet als Volkssturm in den längst verlorenen Krieg
Mit Erfolg?
Den 15-, 16-, 17-Jährigen hat man diese blinde Gefolgschaft zu Hitler anerzogen – die haben bis zum Ende an die Wunderwaffe geglaubt und dass Hitler übers Wasser gehen kann. Die ältere Generation hat ihre eigenen Söhne nicht wiedererkannt, sie hatten auch nicht mehr die Kraft, der verblendeten Jugend ihre Zweifel entgegenzustellen. Meinen jüngsten Onkel Willi holten die Feldjäger aus dem Kohlenkeller, er musste mit 17 auf den letzten Metern des Kriegs noch in den ‚Volkssturm‘ – und fiel einen Monat vor der Befreiung.
Sie erzählen eine sehr deutsche Geschichte, die Zehntausende Familien geprägt und auseinandergerissen hat.
Es ist die Geschichte einer einfachen Familie, zwei Schuster, ein Schneider, ein Automobilschlosser. Meine Mutter Aenne hat mit 13 die Schule verlassen und ist beim Bauern ‚in Stellung‘ gegangen. Da spielte Bildung keine große Rolle, erst recht keine politischer Bildung. So etwas war nicht vorgesehen.
Beckmann: „Ihr Schicksal hat sie nicht verbogen, sie ist nie bitter oder zynisch geworden“
Aber die Herzensbildung hat gut funktioniert.
Das stimmt, und das habe ich immer an ihr bewundert. Ihr Schicksal hat sie nicht verbogen, sie ist nie bitter oder zynisch geworden. Sie hatte eine große Offenheit und Toleranz, die ich als Jugendlicher ziemlich strapaziert habe, wenn ich schräge Vögel mit nach Hause brachte. Meine Mutter besaß trotz der Verluste eine Unverlierbarkeit im Guten, sie hat sich darauf verlassen, dass der Herrgott auf sie aufpasst. Nach dem Krieg hat sie es gewagt, 100 Kilometer weiter nördlich nach Twistringen, in eine andere katholische Gemeinde in Niedersachsen zu ziehen, um dort ein eigenes Leben aufzubauen - im Wissen, zuhause alles verloren zu haben. Sie hatte keine Eltern mehr, keine vier Brüder, nur noch ihre Stiefeltern und eine Halbschwester. Und doch war Mutter zufrieden! Ich mochte ihre Bescheidenheit im Glück.
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Beneiden Sie sie manchmal um ihr Gottvertrauen?
Da bin ich zerrissen. Ich bin immer noch in der katholischen Kirche, hadere aber mit der Institution und habe auch ziemlich mit ihr gebrochen, weil die Enttäuschung einfach zu groß ist. Ich habe mich journalistisch damit beschäftigt, Kirchenvertreter in Sendungen eingeladen. Aber Rom ist eine solche mafiöse Organisation, die selbst der sozial engagierter Papst Franziskus aus Argentinien nicht aufgebrochen hat. Der Vatikan ist nicht bereit, den Laden aufzuräumen. Aber ich glaube an eine Energie, die mich tröstet und stärkt. Früher waren die Kirchen voll, aber dieses Gemeinschaftsgefühl von damals, diese Gottergebenheit, der Glaube an eine größere Kraft, ist verloren gegangen. Diese Obdachlosigkeit, die man heute ein bisschen in sich spürt, gab es in der Generation zuvor nicht.
Hat Sie das Buch verändert?
Ich bin vor fünf Jahren aus diesem Fernsehleben auch mit der Absicht herausgegangen, zurück ins normale Leben zu gelangen, zu mir selbst. Das empfinde ich als echten Gewinn. Die vielen Jahre vor der Kamera und in der Öffentlichkeit hinterlassen Spuren. Nun bin ich unabhängig und mache Dinge, die mir Spaß machen: Das Musikmachen gehört dazu, Songs zu schreiben, und wenn ein Erfolg wie die „Vier Brüder“ dabei herauskommt, erfüllt mich das mit Stolz. Das Lied durften wir im Bundestag spielen. Wer hätte das gedacht? Ja, das Buch zu schreiben hat mich verändert, auch weil es eine sehr einsame Angelegenheit war. Ich hatte zwischendurch ein paar wirklich schwierige Tage, die mich an meine Grenzen geführt haben. Aber am Ende ist es eine große Befriedigung, wenn abends wieder zwei Seiten fertig sind.
Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder, Propyläen, 353 Seiten, 26 Euro