Hamburg. Im April 1945 begehen die Nazis in Hamburg ein abscheuliches Kriegsverbrechen – fast hätten sie die Spuren verwischt. Worum es geht.
Manchmal sieht das Ende der Stadt wie das Ende der Welt aus – wer in diesen Wintertagen durch die Billstraße läuft oder über den Ausschläger Billdeich, vergisst, dass er in Europa ist. Auf den Standstreifen vergammeln abgemeldete Rostlauben, vor Wellblechschuppen türmt sich der Müll, und diverse Im- und Exporthändler verkaufen so ziemlich alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Hamburg hat diese Ecke vergessen.
Und mittendrin liegt der Ort eines Verbrechens, das die Stadt ebenfalls vergessen, ja verdrängt hat. Mit dem Untergang des alten Stadtteils Rothenburgsort ist auch die Erinnerung an einen Kindermord unter Schutt begraben worden. Dabei liegt der Tatort fast unverändert da – die Schule am Bullenhuser Damm, zwischen Gewerbehöfen und Autohökern. Die Gedenkstätte öffnet lediglich sonntags zwischen 10 und 17 Uhr und nach Vereinbarung für Führungen. Nur der Rosengarten ist immer geöffnet. Ein schlichtes Marmorschild erinnert als „Platz der Kinder vom Bullenhuser Damm“ an das Schicksal der 20 ermordeten Kinder, eine Gedenktafel beschreibt mit dürren Worten, was hier am 20. April 1945 geschah.
Doku-Drama: Nazi-Verbrechen an Kindern in Neuengamme
An diesem Sonntag erinnert ein bewegendes Doku-Drama an das ungeheuerliche Naziverbrechen in Hamburg, den Versuch, die Spuren eines medizinischen Menschenversuchs zu verwischen. In Neuengamme hatten die Nazis nicht nur mindestens 50.000 Gefangene ermordet, gequält und zu Tod geschunden, sondern auch widersinnige medizinische Versuche unternommen. Der Oberarzt Dr. Kurt Heißmeyer glaubte, die Lungentuberkulose mit einer Impfung bekämpfen zu können, die andere Mediziner längst verworfen hatten. Der in SS-Kreisen bestens vernetzte Mediziner erhielt schließlich die Erlaubnis von Reichsführer Heinrich Himmler persönlich, seine Versuche an „rassisch minderwertigem Menschenmaterial“ vorzunehmen.
Ab Sommer 1944 startete der ehrgeizige wie skrupellose Mediziner seine Versuche an erwachsenen Häftlingen, die ohne verwertbare Ergebnisse blieben. Aber Heißmeyer ließ nicht ab, sondern experimentierte an Kindern weiter.
20 Kinder wurden in Neuengamme zu Versuchskaninchen
Ende November 1944 wurden ihm 20 jüdische Kinder „zur Verfügung gestellt“. Geködert hatten die Nazis die Kinder im Vernichtungslager Auschwitz mit der perfiden Frage: „Wer von euch will die Mama wiedersehen?“ Es meldeten sich Lelka Birnbaum und Roman Zeller, zwölf Jahre alt, Surcis Goldinger und Blumel Mekler, beide elf, Marek Steinbaum, Ruchla Zylberberg und Eduard Reichenbaum, alle zehn, Lea Klygermann, neun, Riwka Herszberg sieben, Marek James und Roman Witónski, beide sechs, seine Schwester Eleonora Witónski sowie Mania Altmann, fünf Jahre alt.
Bei dem achtjährigen Polen H. Wassermann fehlt der Vorname. Zwei zwölfjährige Franzosen, Jacqueline Morgenstern und Georges-André Kohn, meldeten sich wie die beiden Holländer Eduard „Edo“, zwölf, und sein kleiner Bruder Alexander „Lexje“ Hornemann, acht. „Ja“ zu Mama sagten auch der zwölfjährige Walter Jungleib aus der Slowakei und der siebenjährige Sergio de Simone aus Italien. In einer Baracke der „Sonderabteilung Heißmeyer“ in Neuengamme wurden die 20 Kinder ab Dezember zu Versuchskaninchen.
„In diese Schlinge hängte Frahm den schlafenden Jungen ein“
Heißmeyer selbst experimentierte mit wildem Ehrgeiz: So führte er bei drei Kindern einen Gummischlauch in die Lunge ein und spritzte eine Bakterienlösung, anderen rieb er Tuberkelbazillen in die aufgeritzte Haut. Mitte Januar operierte er den Kindern Lymphknoten heraus, um die Wirkung der Infektion zu untersuchen. Assistieren mussten ihm zwei holländische Krankenpfleger und zwei französische Gefangene, die im Frieden als Ärzte gearbeitet hatten.
Es kam, wie es kommen musste: Der Gesundheitszustand der Kinder verschlechterte sich, sämtliche Experimente blieben ohne Ergebnis. Mitte April standen die Briten vor der Stadt. Am 20. April erging per Fernschreiber der Befehl: „Die Abteilung Heißmeyer ist aufzulösen.“ Im Klartext: Die Kinder und ihre Betreuer sollten getötet werden. Sie wurden zur Außenstelle des KZ in die Schule Bullenhuser Damm gebracht, die bei den Bombenangriffen 1943 schwer getroffen worden, aber inmitten von Trümmern stehen geblieben war. Dort verabreichte SS-Lagerarzt Alfred Trzebinski den Kindern Morphiumspritzen.
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Die schlafenden Körper trug Unterscharführer Johannes Frahm nacheinander in den Keller und hängte sie an Heizungsrohren auf. „Frahm nahm den zwölfjährigen Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen: Er wird jetzt ins Bett gebracht. Er ging mit ihm in einen Raum, der vielleicht sechs bis acht Meter von dem Aufenthaltsraum entfernt war, und dort sah ich schon eine Schlinge an einem Haken“, sagte Trzebinski später aus. „In diese Schlinge hängte Frahm den schlafenden Jungen ein und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Körper des Jungen, damit die Schlinge sich zuzog. Ich habe in meiner KZ-Zeit schon viel menschliches Leid gesehen und war auch gewissermaßen abgestumpft, aber Kinder erhängt habe ich noch nie gesehen.“
Zwei der Täter wurden nie für ihre Verbrechen bestraft
Der Prozess gegen die Lagerführung von Neuengamme im Curio-Haus 1946 brachte die Untaten zutage. Das britische Militärgericht verurteilte den KZ-Kommandanten Max Pauly und neun seiner Untergebenen zum Tode. Drei Tätern vom Bullenhuser Damm gelang es zu entkommen: Kurt Heißmeyer hatte sich in die sowjetischen Besatzungszone abgesetzt. Er führte unter seinem Namen eine Lungenfacharztpraxis in Magdeburg. 1964 wurde der Arzt verhaftet und 1966 wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ zu lebenslangem Zuchthaus in Bautzen verurteilt, wo er ein Jahr später er an einem Herzinfarkt starb.
Der Pathologe Hans Klein, der an den Menschenversuchen beteiligt war, wurde nie behelligt, machte Karriere in Heidelberg und gehörte dort später dem Wissenschaftsrat an. Auch der SS-Hauptsturmführer Arnold Strippel wurde wegen seiner Verbrechen in Neuengamme nicht bestraft. Den Eifer, den die Briten an den Tag legten, ließen die deutschen Staatsanwälte später vermissen.
Die Gräueltaten vom Bullenhuser Damm wurden Jahre lang verdrängt
Der Mord wurde vergessen, verleugnet, verdrängt. Interessant ist, wie wenig sich die Nachkriegsgeneration mit dem Verbrechen beschäftigen wollte. Gibt man den Suchbegriff „Bullenhuser Damm“ ins Archiv dieser Zeitung ein, datieren die ersten beiden relevanten Treffer aus dem Januar 1963, beide fallen denkbar kurz aus und behandeln die „Erinnerung an eine grausige Tat“ – am 30. Januar 1963 wurde in der damals noch genutzten Schule eine Gedenktafel für Opfer des Dritten Reichs enthüllt: „Die Tafel erinnert daran, daß kurz vor der Kapitulation in der Schule, die damals eine Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme war, 24 Menschen ermordet worden sind. Bei den Ermordeten handelte es sich um 20 kleine Kinder und ihre vier Pfleger, die bei dem Vormarsch der Russen aus dem Lager Auschwitz nach Hamburg gebracht worden waren. Die vier bis zwölf Jahre alten Kinder waren in Auschwitz zu verbrecherischen ärztlichen Versuchen mißbraucht worden.“ Viele Passivsätze, wenig Klarheit.
Das ändert sich erst 1968 mit einem längeren Beitrag – fortan wird häufiger an die Untaten erinnert. 1970 beschreibt ein Reporter den „mausgrauen Schulflur. Farbtöpfe, abgestellte Möbel, von denen Hausmeister Sieber meint, sie stünden zwar schlecht an dieser Gedenkstätte, aber die Maler hätten nun mal das Sagen. Hier also die quadratische Steintafel, die an 24 Opfer erinnert. Darunter, auf dem farbbeklecksten Fußboden, Kranzschleifen.“
Erst 34 Jahre nach dem Mord wird das Thema richtig groß – nicht zuletzt durch den „Stern“-Reporter Günther Schwarberg. Er recherchierte mehrere Artikel und schließlich ein ganzes Buch zu dem NS-Kriegsverbrechen, gab den Opfern ein Gesicht und den Tätern Namen. Mit Angehörigen der ermordeten Kinder gründete Schwarberg die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm und initiierte die Gedenkstätte. Ihm ist es zu verdanken, dass bis heute an die Untaten erinnert wird.
1986 kam es in Hamburg zu einem internationalen Tribunal
1980 verübten zwei Neonazis einen Sprengstoffanschlag auf die Schule, die kurz zuvor in Gedenken an das NS-Opfer in Janusz-Korczak-Schule umbenannt worden war. Kurze Zeit später steckten sie ein Ausländerwohnheim an der Halskestraße in Brand, bei dem zwei junge Vietnamesen starben. Das Urteil der Justiz fiel milde aus – die Mordbrenner bekamen 48 beziehungsweise 41 Monate Gefängnis. Das Hanseatische Oberlandesgericht befand, die Angeklagten seien nur Randfiguren und müssten „eher als Verführte angesehen werden“.
Die Milde der Justiz gegenüber den NS-Tätern geriet immer wieder in der Kritik. Anzeigen gegen den SS-Mann Strippel, der von Dezember 1944 bis Mai 1945 Stützpunktleiter aller Hamburger Nebenlager des KZ Neuengamme war, versandeten. 1967 wurde das Verfahren gegen ihn mit der Begründung eingestellt, den Kindern sei „über die Vernichtung ihres Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden, sie hatten insbesondere nicht besonders lange seelisch oder körperlich zu leiden“.
Die Unfähigkeit zu trauern empörte im In- und Ausland. 1986 fand in der Hansestadt ein internationales Tribunal mit hochrangigen Richtern und Juristen aus Frankreich, der Sowjetunion, Belgien, Italien und der Bundesrepublik statt. Dabei erklärte der frühere Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch: „Es geht hier um das vielleicht schändlichste Verbrechen, das je in der Geschichte der Menschheit geschehen ist.“ Nachdem drei Tage Protokolle der Verhandlungen von 1946, Zeugenaussagen und Gutachter gehört worden waren, stellte das Tribunal fest: „Die Nichtverfolgung der Beschuldigten am Bullenhuser Damm ist ... beispielhaft für den Umgang der bundesdeutschen Justiz mit Naziverbrechen.“
Ein beispielloses Versagen.
Info: Am Sonntag, 16. Januar, zeigt die ARD den 90-minütigen Film „Nazijäger – eine Reise in die Finsternis“ ab 21.45 Uhr.