Streubomben für die Ukraine und Bruch des Abkommens – auch Freunde brauchen Widerworte.

Es ist Juli. Oder doch August? Im August 1914 begrüßten viele Deutsche geradezu euphorisch den Kriegsausbruch. Der spätere Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann dichtete von einer lang ersehnten „Reinigung“, lobte den „Griff zum Schwert“ und sah seine Aufgabe in der „Ausdeutung, Verherrlichung, Vertiefung“ der Kriegsgeschehnisse. Viele Intellektuelle taten es ihm gleich, die Kriegsbegeisterung ging als „Augusterlebnis“ in die Geschichte ein. Kaiser Wilhelm II. prägte den Satz: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Heute wähnen wir uns aufgeklärter, aber schaut man sich im Stadtbild oder in den sozialen Netzwerken um, kennt man nur noch Ukra­iner: Überall flattern blau-gelbe Fahnen.

Nun ist Solidarität eine gute Sache, und Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich. Der deutsche Imperialismus des 20. Jahrhunderts hat nichts mit dem Verteidigungskrieg der Ukraine gegen den russischen Aggressor gemein, aber die Stimmung ist anno 2023 nicht ganz anders als 1914. Vielleicht sind wir nicht so kriegsbegeistert, aber genauso friedensvergessen. Wir feiern jede Siegesmeldung der Ukraine, wir kennen nur noch Gut und Böse, Schwarz und Weiß, und Pazifisten sind gefährliche Trottel. Der Krieg an sich, diese Maschinerie des Mordens, die Terrorherrschaft des Todes, ist wieder gesellschaftsfähig. Die Logik des Krieges mit der ihr innewohnenden Eskalation besorgt uns nicht einmal mehr.

Krieg gegen die Ukraine: Mehr als 100 Staaten haben Gebrauch von Streubomben geächtet

Ein besonders bitteres Beispiel ist die angekündigte Lieferung von US-Streubomben an die Ukraine. Mehr als 100 Staaten haben deren Gebrauch wegen der „Kollateralschäden“ für die Zivilbevölkerung geächtet, darunter Deutschland. Die USA, die jede Weltordnung stets im eigenen Interesse deuten, haben diese Konvention nicht unterzeichnet. Die Ukraine auch nicht. Aber wenn sie, wie es heißt, unsere Werte verteidigt, was sind unsere Werte dann noch wert?

Man hätte sich zumindest eine kritische Debatte gewünscht, ob diese Waffen wirklich eingesetzt werden dürfen. Abgesehen vom SPD-Außenpolitikexperten Michael Müller gab es kaum laute politische Kritik. Stattdessen überwiegen in den Medien Kommentare voller Verständnis. Vielleicht hatte der Psychoanalytiker und Pazifist Horst Eberhard Richter doch recht, als er spottete, es gebe vier Waffengattungen: Die Luftwaffe, die Marine, das Heer. Und die Medien.

Die Empörung von einst wirkt schal, wenn die Ukraine Gleiches tun will

Unwürdig ist das Verhalten des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Offenbar muss er seine Putinphilie früherer Tage überkompensieren und verteidigt die Lieferung von Streubomben an die Ukraine. Als Außenminister hatte er ein Abkommen unterzeichnet, das es Deutschland verbietet, diese Munition herzustellen, zu lagern oder weiterzugeben.

Erinnern wir uns an die Empörung, als im Sommer 2022 Vorwürfe laut wurden, die Russen würden Streumunition verwenden. Derlei Meldungen passten in unser sicherlich nicht falsches Bild einer Soldateska, für die Rücksicht ein Fremdwort ist. Aber die Empörung von einst wirkt schal, wenn die Ukraine Gleiches tun will.

Krieg gegen die Ukraine: Diplomatische Lösung rückt jetzt in noch weitere Ferne

Auch die Reaktionen auf den Deal zwischen dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dürfen überraschen. Das wird hierzulande als „Verhandlungserfolg“, „Heimholung“, „Coup“ oder „Schlappe für Putin“ gefeiert. Der Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine vom September 2022 ließ wie das Getreideabkommen Hoffnungen aufkommen, dass nicht alle Gesprächsfäden gerissen sind. Damals war unter Erdogans Vermittlung abgemacht worden, die Freigelassenen würden „in Sicherheit“ bis zum Ende des Krieges in der Türkei bleiben: So hatte Selenskyj es persönlich erklärt. Nun aber nimmt der Präsident fünf Kommandeure des Asow-Regiments aus der Türkei gegen die Vereinbarung mit in die Ukraine zurück. Eine diplomatische Lösung rückt jetzt in noch weitere Ferne – oder war das das Ziel der „Heimholung“?

Diese Fragen müssen wir dringend stellen. Oder sind wir schon Kriegspartei? Auch hier ergeben sich Parallelen zum Augusterlebnis. Inzwischen weiß die Forschung, dass 1914 nicht überall gefeiert wurde; in den Städten war die Begeisterung größer als auf dem Lande, im Bürgertum lauter als bei Arbeitern und Bauern, bei der Jugend stärker als bei den Älteren. Auch hier gleicht 2023 dem Jahre 1914.