Othmarschen. „Furchtbare Entwicklung“: Historische Villen werden für Wohnwürfel abgerissen – dabei bleiben Natur und Ästhetik auf der Strecke.
Das größte zusammenhängende Villenviertel Europas hat Karies: In vielen Straßen der Elbvororte tun sich immer neue Löcher auf: Wo eben noch ein Bungalow aus den 50er-Jahren oder ein Einfamilienhaus aus der 30er-Jahren stand, wütet heute die Abrissbirne.
Nicht immer fällt dabei eine Schönheit, aber oft verlieren die Straßenzüge im Hamburger Westen ihren Charakter. Denn wo lange Einfamilienhäuser in üppigen Gärten standen, wird nun luxussaniert. Auf den großen Grundstücken verteilen die Investoren ihre sattsam bekannten Würfel.
Abriss und Neubau: „Elbvororte verlieren ihr Gesicht“ - warnt Experte
„Die Entwicklung ist furchtbar – die Elbvororte verlieren ihr Gesicht. Durch die finanzielle Entwicklung der letzten Jahre ist fast eine Sucht ausgebrochen, ältere Einfamilienhäuser oder die historischen Villen abzureißen und durch marktoptimierte Luxuswohnungen zu ersetzen“, warnt Peter Michelis, einer der Wegbereiter des Denkmalschutzes in der Hansestadt.
Er war Hochschullehrer, arbeitete lange in der Baubehörde für die behutsame Stadtsanierung und leitete jahrelang die Gustav-Oelsner-Gesellschaft. Michelis sieht den Denkmalschutz in der Pflicht: „Er muss sich für diese Stadtgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts stärker interessieren und für deren Erhalt einsetzen.“
Das Zauberwort heißt Verdichtung, auf der Strecke bleibt das Gewachsene
Denn die Bilder gleichen sich. Michelis nennt Beispiele in der Jürgensallee, der Baron-Voght-Straße oder am Othmarscher Kirchenweg. Ein oftmals in die Jahre gekommenes Einfamilienhaus, ein alter Bungalow, ein liebevoll gestaltetes Landhaus oder eine großbürgerliche Villa verschwinden, es wird verdichtet und massiv investiert.
Auf dem Grundstück entstehen plötzlich ein Dutzend Reihenhäuser oder so genannte Mehrfamilienhäuser. Der Begriff allerdings führt in die Irre: In die Penthäuser, Maisonettes oder Luxuswohnungen ziehen selten Familien, oft aber Singles oder sogenannte Dinkies (Double Income No Kids – doppeltes Einkommen, keine Kinder). Das ist schön für die Hamburger Wohnungsbaubilanz, die buchhaltergenau neue Wohneinheiten zählt. Aber Hamburg wird eher hässlich.
Immobilien Hamburg: Preisentwicklung beschleunigt Abrisstrend
„Der Trend scheint sich zu beschleunigen“, sagt Michelis, der selbst in der Elbvororten wohnt. Die Hauptursache sieht er in den explodierten Immobilienpreisen. „Viele wollen daran mitverdienen – so wird aus den Grundstücken das Maximum herausgeholt und bis zur Grenze des Möglichen der Grund und Boden betoniert.“
Blickt man in die so genannte Abgangsstatistik des Statistischen Landesamtes, zeigt sich, dass Einfamilienhäuser in den vergangenen Jahren meist die Hälfte der abgerissenen Gebäude ausmachen: Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren im Großen und Ganzen gleichgeblieben – die Debatten um graue Energie ist noch nicht auf allen Baustellen angekommen.
Zugleich hat die Preisexplosion bei fossilen Brennstoffen so manchen Häuslebauertraum aus den Nachkriegsjahren in einen Alptraum verwandelt: Schlechte Isolierungen und Ölheizungen drücken den Wert der altersschwachen Immobilien erheblich. Investitionen lohnen sich oft nicht mehr, das Grundstück ist oft wertvoller.
Abriss und Neubau: Oftmals bleibt im Erbfall nur diese Option übrig
Es ist nicht nur der Zahn der Zeit, der an den Gebäuden nagt: Oftmals sterben die Häuser mit ihrem letzten Bewohner. Danach beginnen die Probleme. Weil sich das Interesse an den alten Häusern oft in Grenzen hält, das Erbe nicht selten auf mehrere Kinder verteilt werden muss und die Erbschaftssteuer hoch ist, bleibt der Verkauf der Immobilie die fast zwangsläufige Folge. Käufer, die in betagte Villen einziehen wollen und die hohen Instandsetzungskosten nicht scheuen, gibt er nur noch wenige.
Also kommen die Investoren auf den Plan: Die sind weniger der Ästhetik des Gebäudes oder des Ensembles als vielmehr der Rendite verpflichtet. Es geht nicht darum, den Bau harmonisch in die Straße einzubetten, sondern ihn zu vermarkten. Die Neubauten gleichen sich meist wie ein Ei dem anderen – und den Wohnungsmangel in Hamburg lindern sie kaum.
Stadtentwicklung Hamburg: Aus einem Haus werden viele Reihenhäuser
Unter einem Flachdach finden sich dann beispielsweise fünf Wohnungen – ein großzügiges Penthouse über je zwei Luxuswohnungen im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss. Oder noch eines mehr. „Früher waren es zwei Geschosse mit einem Satteldach, danach steht dort ein Haus mit drei Geschossen plus Souterrain oder Staffelgeschoss.
Diesen „Verwertungsgebäuden“ fehle oft jeder Anspruch auf Schönheit, kritisiert Michelis. „Meine 14-jährige Enkelin hat mich neulich gefragt, warum überall solche Kisten entstehen. Das ist auch ein kultureller Verlust.“
Mit den Neubauten geht peu a peu verloren, was die Villengebiete einzigartig macht. „Die Einheit von Bebauung und Natur verschwindet“, warnt Michelis. Dabei sei die Landschaft mit starken Baumbewuchs und der untergeordneten Bebauung eine Charakteristik der Elbvororte. „Mit dem Abriss vieler alter Häuser wird der ehemalige Grüngürtel zerlöchert“, sagt er.
Stadtentwicklung: Die Gärten in Hamburg schrumpfen, die Natur verarmt
Die Gärten schrumpfen dramatisch, alte Bäume werden gefällt, Büsche verschwinden, Brutplätze gehen verloren, die Artenvielfalt nimmt ab, die Zahl der Vögel und Insekten sinkt. Da niemand sich bei den Neubauten um die Gärten kümmern wolle, werde Kies hineingekippt oder pflegeleichtes Grün angepflanzt. Und die vielen Autos verlangen auch ihren Platz – oder eine Tiefgarageneinfahrt.
Ihm ist ein Rätsel, wie viele Abrisse durchgewinkt werden. „Zwar muss jeder Abbruch genehmigt werden, dabei prüfen die Bezirke aber nur technische Fragen, nicht die Denkmalwürdigkeit.“ Was nicht unter Denkmalschutz stehe, werde so oft zum Abriss freigegeben. Zudem sei der Denkmalschutz in Hamburg traditionell schwach – weil er nicht unabhängig, sondern Teil der Kulturbehörde ist.
Immobilien Hamburg: „Gewinnstreben überlagert jedes Gespür für das Alte“
Michelis sieht dahinter auch ein kulturelles Problem: „Die Hamburger Mentalität erkennt nicht den Wert von historischer Bebauung, es fehlt das Bewusstsein für die Straße und den Stadtteil.“ Die Freie und Abrissstadt gebe es eben nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. „Es ist eine hamburgische Tradition, für mehr Rendite und nach dem Geschmack des Zeitgeistes abzureißen. Das Gewinnstreben überlagert jedes Gespür für das Alte und Schöne.“
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Dabei seien gerade die Elbchaussee, einst vom Dichter Detlev von Liliencron als die „schönste Straße der Welt“ gepriesen, und die angrenzenden Elbvororte einmalig in Europa. „Diese Schönheit gibt es, weil in den vergangenen 150 Jahren ein Gestaltungskodex entwickelt wurde, der jetzt verloren geht. Wir benötigen mehr Respekt vor Schönheit und Ästhetik. Dieses Gesamtkunstwerk muss erhalten werden.“
Große Hoffnungen aber hegt der 82-Jährige Michelis, der seit Jahrzehnten für den Erhalt gewachsener Strukturen kämpft, nicht. Nötig sei ein geschärftes Bewusstsein für Schönheit in der Gesellschaft, eine Stärkung des Denkmalschutzes und eine städtebauliche Erhaltungs- und Gestaltungssatzung für die Elbvororte. „Aber das haben sie in Blankenese schon seit 20 Jahren diskutiert – ohne Erfolg.“