Hamburg. Täglich neue Mitglieder für Klimakämpfer. Eine Frage bleibt: Sind sie Straftäter oder Aktivisten für einen besseren Planeten? Ein Report.

Ein bisschen Angst habe sie schon, sagt Lea-Maria Rhein. Die 22-Jährige sitzt vor dem Transmontana auf dem Schulterblatt in der Sonne, trinkt einen Pfefferminztee – und ist aufgeregt. Bislang sei sie noch nie in Gewahrsam genommen worden. Irgendwie habe sie immer Glück gehabt. Hinter ihr, auf der Roten Flora, steht schwarz auf weiß in großen Buchstaben an der Wand: „Solidarität mit allen Klimakämpfern!“ Doch nun, nach den bundesweiten Razzien gegen die Klimakämpfer der Letzten Generation am 24. Mai, wisse Rhein nicht, ob ihre Glückssträhne an diesem Nachmittag reißen werde, wenn sie sich mit den anderen Aktivisten und Aktivistinnen am Karolinenplatz zu einem nicht angemeldeten Protestmarsch bis zum Neuen Pferdemarkt treffe.

Um es vorwegzunehmen: Die Glückssträhne hielt. Am Morgen nach dem Protestmarsch berichtet Rhein, die für den Großraum Hamburg Aktionen der Letzten Generation koordiniert, was am Vortag passierte. Eine Hundertschaft Polizisten habe die rund 85 Teilnehmer empfangen. Zunächst habe die Polizei versucht, die Aktivisten daran zu hindern, auf der Straße zu marschieren, dann habe sie die Straße aber abgesperrt und die Klimakämpfer begleitet gehen gelassen.

„Letzte Generation“ erhalte selbst von Polizisten Verständnis

„Viele Polizisten waren dabei, die Verständnis hatten“, lobt Rhein, die aber auch Kritik äußert: So seien einzelne Polizisten überhart vorgegangen. „Eine 16-Jährige, die nur friedlich demonstrieren wollte, wurde beispielsweise mehrfach sehr hart geschubst. Das finde ich total unverhältnismäßig.“ Auf Nachfrage des Abendblatts bei der Polizei hieß es, dass es ein ruhiger Einsatz ohne große Zwischenfälle gewesen sei.

Das Beispiel der 16-Jährigen im Kleinen steht für die zentralen Fragen um das große Ganze: Wie soll man mit der Letzten Generation umgehen? Sind die Klimakämpfer aufopferungsvolle Aktivisten für einen besseren Planeten? Oder Straftäter einer kriminellen Vereinigung?

Hamburgs CDU-Chef Thering spricht von „Straßenterror“

Eine sehr eindeutige Antwort auf diese nicht ganz einfachen Fragen hat Dennis Thering, der Vorsitzende der Hamburger CDU. „Die Letzte Generation begeht gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr mit Nötigung und Sachbeschädigungen“, sagt der Politiker, der sogar von „Straßenterror“ spricht. „Laut Berichten wurden rund 1,4 Millionen Euro gesammelt, um Straftaten begehen zu können, und damit besteht zumindest der Verdacht einer kriminellen Vereinigung. Das entscheidet aber nicht die Politik, das entscheiden Gerichte.“

Thering ist nicht nur Hamburgs CDU-Chef, er ist in der Stadt auch eine Art Chefkritiker der Letzten Generation.
Thering ist nicht nur Hamburgs CDU-Chef, er ist in der Stadt auch eine Art Chefkritiker der Letzten Generation. © FUNKE Foto Services | Mark Sandten / FUNKE FOTO SERVICES

Thering ist nicht nur Hamburgs CDU-Chef, er ist in der Stadt auch eine Art Chefkritiker der Letzten Generation. Auf mehrfache Gesprächsangebote der Aktivisten ging er bislang nicht ein – bis zum vergangenen Donnerstag, als er im Rahmen eines Bürgeraustausches auf dem Horner Marktplatz zum Gespräch quasi gezwungen wurde.

Hamburgs Letzte-Generation-Koordinatorin: Thering hat keine Antworten

„Bislang wollte Herr Thering ja leider nicht mit uns in den Dialog eintreten. Deswegen haben wir ihn besucht und mit ihm das Gespräch gesucht“, sagt Rhein, die auch diese Aktion am Tag nach dem Protestmarsch koordinierte. „Der Austausch war von beiden Seiten respektvoll, mir ist aber auch sehr klar geworden, dass Herr Thering leider keine Antwort auf die zentralen Fragen der Klimakrise hat.“

Thering hat da wenig überraschend eine andere Meinung. Wie hat er den spontanen Austausch empfunden? „Von ,Austausch‘ kann keine Rede sein, zumindest nicht im Sinne von Austausch von Argumenten, denn daran hatten die Vertreter der selbst ernannten Letzten Generation erkennbar kein Interesse“, sagt der Politiker auf Abendblatt-Nachfrage. „Ich war dankbar, dass sie sich nicht vor Ort angeklebt haben und es zu keinen weiteren Straftaten kam.“

In Hamburg wurde eine Kanzlei durchsucht

Thering steht mit seiner eindeutigen Meinung nicht allein. Das wurde vor knapp zwei Wochen klar, als im Auftrag des bayerischen Landeskriminalamts (LKA) und der Generalstaatsanwaltschaft München in einer bundesweiten Razzia gegen die Letzte Generation vorgegangen wurde. In sieben Bundesländern wurden insgesamt 15 Objekte durchsucht. In Hamburg war eine Kanzlei betroffen, die sich auf Abendblatt-Nachfrage nicht äußern wollte.

Im Schanzenviertel lacht Rhein jetzt mit der Sonne um die Wette. „Natürlich muss man die Letzte Generation nicht mögen, aber wir sind keine kriminelle Vereinigung im Sinne des Paragrafen 129“, sagt die Sozialarbeiterin aus Lüneburg. „Wir begehen keine Straftaten von besonderer Bedeutung.“

Razzia wurde sogar bei den Vereinten Nationen zum Thema

Auch Rhein steht mit ihrer Meinung nicht allein. Die Razzia wurde bundesweit als völlig unverhältnismäßig kritisiert – und machte sogar internationale Schlagzeilen bis hin zu den Vereinten Nationen. Diese, so berichtete unter anderem „Spiegel.de“, hätten das deutsche Vorgehen gegen Klimaaktivisten stark kritisiert: „Der harte Kurs der deutschen Behörden gegen Klimakämpfer wird auch bei der Uno genau beobachtet – nun setzt es Kritik aus New York: Die moralische Stimme junger Menschen müsse geschützt werden.“

Rhein lächelt. „Die Unterstützung der UN, die das harte und unverhältnismäßige Vorgehen der Justiz kritisiert hat, tut gut“, sagt sie. Dabei hat die Meldung aus New York nur einen Schönheitsfehler: Sie ist nicht wahr. Zumindest nicht in dieser Deutlichkeit.

Unverständnis von Generalsekretär Guterres wurde so nie kommuniziert

Die mediale Behauptung, dass sogar Generalsekretär António Guterres sein Unverständnis über das Vorgehen der deutschen Sicherheitsbehörden zum Ausdruck gebracht habe, ist mindestens mal übertrieben. So soll „nur“ Guterres’ Sprecher Stéphane Dujarric im Anschluss an ein tägliches Pressebriefing in einem nicht offiziellen Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) über ein unverhältnismäßiges Vorgehen der deutschen Justiz gesprochen haben.

Sei’s drum. Im fernen Hamburg gab es wie Thering auch weitere Befürworter der Razzien – und natürlich auch Kritiker. „Die Aktionen der Letzten Generation mögen nicht allen gefallen – eine Demokratie kann und muss solchen Protest aber aushalten können“, sagt Cansu Özdemir. Für die justizpolitische Sprecherin der Fraktion der Linken stelle die Kriminalisierung der Gruppe einen erheblichen Angriff auf das demokratische Gemeinwesen und die Versammlungsfreiheit dar. Auch ein Sprecher des Verfassungsschutzes stellt auf Abendblatt-Nachfrage klar: „Die Letzte Generation ist kein Beobachtungsobjekt des Hamburger Verfassungsschutzes. Hierzu bedarf es hinreichender Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen in der Zielsetzung der Gruppierung. Dies ist gegenwärtig nicht gegeben.“

Die bundesweiten Razzien waren beste Werbung für die Letzte Generation

Die Razzien waren aber möglicherweise nicht nur ein „erheblicher Angriff auf das demokratische Gemeinwesen“, sondern auch noch beste Werbung. Das sagt zumindest Lea-Maria Rhein: „Nach den Razzien durch die bayerische Staatsanwaltschaft haben wir so viele Mitgliedsanfragen wie noch nie. Täglich fragen Menschen, ob sie uns unterstützen können und mitmachen dürfen.“

Bislang würden 40 bis 50 Aktivisten die Kerngruppe in Hamburg bilden, dazu kämen noch mal rund 100 Unterstützer, die sporadisch helfen. Tendenz: stark steigend. Der bayerischen Staatsanwaltschaft sei Dank.

„Letzte Generation“: Hamburg-Organisatorin hat Angst vor der nächsten Razzia

Grund zum Feiern gibt es allerdings auch für Lea-Maria Rhein nicht. Die Razzia hat auch ihr Angst gemacht. Sie habe davon erfahren, als sie von Freunden während der Arbeit angerufen wurde, ob auch ihr Haus gerade durchsucht werde? „Da habe ich mir auch Sorgen gemacht, ob meine Eltern jetzt betroffen sein könnten.“ Ihre Eltern seien stolz auf das Engagement der Tochter, würden sich aber gleichzeitig auch Sorgen machen.

Aufhören kommt für sie dennoch nicht infrage. Weder für Lea-Maria Rhein noch für ihre Eltern. Gegen eine Zahlungsforderung von rund 500 Euro nach einer Klebeaktion habe ihr Vater gerade erst Widerspruch eingelegt. Papa Rhein ist Jurist – was im Leben einer aktivistischen Tochter durchaus von Vorteil sei kann.

Bevor es vom 15. Juli bis zum 6. August bundesweit in eine Art Sommerpause geht, will die Letzte Generation von diesem Montag an übrigens neue Impulse setzen. Nicht mehr das Kleben auf der Straße soll im Vordergrund stehen, sondern der Protest gegen die Vermögenden, die laut der Aktivisten einen Großteil des Klimaschadens verursachen würden. „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“, heißt das neue Motto. Und da hier bundesweit die meisten Einkommensmillionäre wohnen, würde die neue Orientierung für Hamburg gleich doppelt passen, sagt Rhein, deren Vater sich schon mal auf weitere Arbeit gefasst machen sollte.

Anmerkung der Redaktion

In einer früheren Version dieses Artikels wurde versehentlich der Eindruck erweckt, der Verdacht der Bildung bzw. Unterstützung einer kriminellen Vereinigung habe sich auch gegen Anwälte der betroffenen Hamburger Kanzlei gerichtet. Da dies nicht zutreffend ist, haben wir den Artikel entsprechend abgeändert.