Hamburg. Ursula Schröder leitet das Institut für Friedensforschung. Diese Möglichkeiten sieht sie, Russlands Krieg in der Ukraine zu beenden.

Seit einem Jahr ist ihr Wissen überall gefragt: Ursula Schröder ist seit 2017 Wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg. Die gebürtige Schleswig-Holsteinerin schaut aus ihrem Büro am Schlump auf die Welt, die immer komplizierter wird. Mit dem Abendblatt sprach sie über Wege zum Frieden, Deutschlands Rolle und die Zeitenwende.

Hamburger Abendblatt: Am 24. Februar 2022 sind wir in einer anderen Welt aufgewacht. Frau Schröder, als Sie am Abend zuvor schlafen gingen, hatten Sie erwartet, dass Wladimir Putin die Ukraine überfällt?

Ursula Schröder: Ich habe das nicht kommen sehen. Ich habe damit gerechnet, dass Putin spielt, dass er blufft, dass er, um im Bild zu bleiben, in letzter Sekunde mit seinem Auto ausweichen und den Unfall vermeiden wird. Ich habe es nicht kommen sehen.

Damit befinden Sie sich in großer Gesellschaft. Abgesehen von einigen Geheimdienstlern hat kaum jemand die Invasion erwartet.

Einige der Russlandexperten haben es kommen sehen, Menschen, die die Propagandamaschinerie der Russischen Föderation und die ideologische Ausrichtung des Systems durchschaut haben. Dieser Krieg ist kein strategisch-rational kalkulierbarer Konflikt, sondern einer, der auf Ideologie und imperialistischen Ideen beruht. Das habe ich unterschätzt.

Wird der 24. Februar in die Menschheitsgeschichte eingehen wie der Kriegsbeginn am 1. September 1939 oder die Machtergreifung vom 30. Januar 1933?

Das wissen wir immer erst später. Der Begriff der Zeitenwende stammt aus der Geschichtswissenschaft. Zeitenwenden kann man nicht vorher ausrufen, sondern erst im Nachgang benennen. Ich gehe davon aus, dass dieser Tag zumindest eine Zäsur wird wie der 11. September 2001.

Ein Jahr nach dem Angriff auf die Ukraine – wo stehen wir heute?

Mitten im Sumpf. Der Krieg ist nicht zu Ende, es ist nicht einmal eine Lösung in Sicht. Keiner will derzeit ernsthaft verhandeln. Im letzten März gab es Ambitionen, diesen Krieg sehr schnell zu beenden. Das hätte gelingen können, doch dann kamen unter anderem die russischen Gräueltaten von Butscha. Deswegen scheiterte eine Verhandlungslösung. Meinen Informationen zufolge lagen damals weitreichende Angebote der ukrainischen Seite auf dem Tisch. Nun ist die Situation so verfahren, dass kaum ein Experte von einem raschen Ende ausgeht. Weder ist ein Sieg einer der beiden Parteien zu erwarten, noch dass eine Seite aufgibt. Die Waffenlieferungen des Westens, die ich für richtig halte, ermöglichen der Ukraine, sich zu verteidigen. Und die russische Seite ist offensichtlich noch nicht genügend von den Sanktionen und dem Widerstand geschwächt, dass sie aufgibt. Es könnte ein langer Krieg werden.

Welche Gesellschaft hält diesen Krieg länger durch?

Die gezielten Angriffe auf die zivile, kritische Infrastruktur in der Ukraine haben schwere Schäden angerichtet. Da geht es um die Wasserversorgung, die Energieversorgung, um Industrieanlagen, die zerstört werden, aber auch die Massenflucht von Millionen Menschen. Es ist nicht klar, wie lange eine Gesellschaft so etwas auszuhalten vermag. Und mit jedem Tag wird es für die ukrainische Seite schwieriger als für die russische, weil der Krieg auf ihrem Territorium stattfindet.

Die russische Gesellschaft hingegen ist Kummer gewöhnt …

Ja, in Russland herrscht schon lange ein autoritäres System. Viele Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, Wehrpflichtige werden schlecht behandelt. Viele kennen eigentlich nur eine Existenz, die konfliktreich und schwierig ist.

Und wie lange halten wir das durch?

Die Wirtschaft leidet, die Energiepreise steigen und die deutsche Gesellschaft ist schon jetzt gespalten. Das ist auch eine Frage der politischen Führung: Wir sind ein reiches, ein privilegiertes Land. Deutschland kann sehr viel sehr lange aushalten, wenn wir es denn wollen.

Deutschland kann aber auch sehr viel verlieren.

Momentan halten sich die Verluste in Deutschland noch sehr in Grenzen. Wir haben die finanziellen Ressourcen und müssen langfristig denken. Was passiert denn, wenn wir die Ukraine nicht unterstützen? Dann bekommt Europa noch ganz andere sicherheitspolitische Probleme. Es gibt aus meiner Sicht keine gute Alternative. Die aktuelle politische Linie mag kein schöner Weg sein. Ich sehe aber momentan keinen schöneren oder kon­struktiveren Weg, der zu mehr Stabilität und Frieden führt. Das ist bitter.

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  • 2014 haben Frankreich und Deutschland zwischen Russland und der Ukraine das Minsker Abkommen vermitteln können. Wer kann jetzt noch schlichten? Die Türkei, China? Oder gibt es keinen mehr?

    Vermittlungen finden oft nicht bilateral statt, sondern in Gesprächen mit mehreren Staaten. So könnte sich die Ukraine jemanden dazu suchen, etwa die USA, und Russland beispielsweise China. Wir können auch Richtung Südafrika denken. Die Schweiz bietet sich an, um einen in der Vermittlung erfahrenen Staat miteinzubeziehen, oder die Vereinten Nationen. Es wird aber kompliziert, eine solche konzertierte Verhandlungsinitiative zusammenzustellen. Da wird es nicht reichen, einmal Putin anzurufen.

    Deutschland ist der zweitgrößter Finanzier der Ukraine – sind wir damit als Vermittler raus?

    Nein. Aber ich sehe die Rolle Deutschlands anderswo. Wir müssen schon jetzt die Frage des ukrainischen Wiederaufbaus und der Westbindung beleuchten. Welches politische Projekt steht hinter der jetzigen militärischen Unterstützung? Es geht darum, den souveränen Staat der Ukraine zu erhalten – und der muss auch ökonomisch souverän sein. Die Wiederaufbauhilfe liegt im Eigeninteresse Europas. Dabei kann Deutschland eine sehr große Rolle spielen.

    Wie könnte eine Kompromissformel lauten? Kein NATO-Beitritt der Ukraine? Gebietszugeständnisse an die Russen?

    Das ist vor Verhandlungen schwer zu sagen. Dabei können auch unkonventionelle Souveränitätskonstruktionen auf den Tisch kommen. Man muss sich das genau anschauen, um abzuschätzen, was funktionieren könnte. Im Friedensabkommen von Dayton wurde 1995 in Bosnien-Herzegowina die weitgehend autonome Republika Srpska anerkannt. Nach mehr als 25 Jahren stehen wir dort wieder vor einer Eskalation. Das ist keine gute Blaupause.

    Wie sieht Ihr Best-Case-Szenario aus?

    Ich würde mir wünschen, dass sich eine Kontaktgruppe etabliert, in der sich mehrere von beiden Seiten akzeptierte Länder um Vorgespräche über Verhandlungen bemühen und ausloten, was möglich ist. Das hängt aber von der russischen Seite ab. Die Europäische Union muss sich zugleich ernsthaft mit Fragen der EU-Osterweiterung auseinanderzusetzen, nicht nur mit der Ukraine, sondern auch den Balkanstaaten. Wir haben mit der EU ein geniales politisches Integrationsprojekt, das wir nicht aufgeben sollten.

    Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?

    Leider halte ich es für plausibel, dass dieser Krieg nicht schnell endet. Vielleicht bildet sich irgendeine Form einer Kontaktlinie zwischen zwei verfeindeten Staaten, die mehr oder weniger stabil bleibt, an der aber immer wieder blutige Kämpfe aufflammen. Ich erwarte aber nicht, dass die Ukraine und Russland schnell zu einem Status-quo-Abkommen gelangen, das diesen Krieg beendet. Ein solches Abkommen, das die Koexistenz von zwei souveränen Staaten erlaubt, wäre schon ein großer Schritt. Echte Friedensverhandlungen sehe ich leider überhaupt nicht.

    Viele Deutsche fürchten einem Atomkrieg. Wie realistisch ist die Angst in Ihren Augen?

    Das ist Spekulation. Natürlich gibt es prinzipiell eine Möglichkeit der nuklearen Eskalation, einfach weil es Atomwaffen gibt. Aber ich halte diese Gefahr für extrem gering. Es gibt sehr wenige plausible Szenarien, unter denen die russische Seite ein Interesse oder eine Motivation hätte, auch nur eine taktische Nuklearwaffe zu zünden.

    Sind Hoffnungen auf einen Regimewechsel in Russland eine realistische Option? Und wohin würde dieser führen?

    Es ist vollkommen offen, wie ein Regimewechsel in Russland aussehen würde. Ich kann nicht erkennen, dass ein demokratischer Regimewechsel hin zu einem offeneren System kommt. Es könnte auch ein Wechsel vor uns stehen, der Russland fragmentiert, in unterschiedliche Gebiete und Machtstrukturen aufteilt. Vor dem Hintergrund der Bewaffnung Russlands halte ich das für gefährliche Gedankenspiele. Die westliche Allianz ist gut beraten, hier ex­trem vorsichtig zu sein. Der Regimewechsel berührt die russische Innenpolitik und damit die Existenz der Föderation. Da wird es politisch schnell gefährlich.

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  • Die Welt ist in Unordnung geraten. Russland wird geschwächt aus diesem Konflikt herausgehen, Europa auch. Es entsteht eine Weltarchitektur, die ziemlich chaotisch aussieht.

    Ich habe die Weltordnung einmal als Interregnum bezeichnet, als eine Ordnung, die noch nicht geboren werden kann, die zwischen einer alten und einer neuen Ordnung hängt. Die Krisensymptome, die wir sehen, könnten Ausdruck eines solchen Wandels sein. Die alte Idee gilt nicht mehr, die Idee einer hegemonialen, regelbasierten, oft als liberal bezeichneten Ordnung, in der Regeln gelten, internationale Organisationen Probleme lösen helfen und die Staaten immer enger zusammenarbeiten. Diese Ordnung ist schon vor dem Krieg in die Krise geraten, auch weil viele Länder des globalen Südens das System für ungerecht halten.

    Der Westen ist jetzt wieder allein zu Hause. Ob Afrika oder Südamerika – die meisten Staaten halten sich aus dem Ukraine-Krieg heraus.

    Das stimmt, diese Länder verlangen Respekt und wollen auf Augenhöhe mit westlichen Staaten verhandeln. Das hat Russland früh erkannt, der russische Außenminister Lawrow ist sehr häufig in Afrika zu Besuch. Die europäische Seite hält sich da eher zurück. Das rächt sich jetzt.

    Die Amerikaner stehen zudem in der Kritik, weil sie sich selbst nicht immer an das Völkerrecht halten, etwa als es um den Irak, Panama oder Grenada ging.

    Genau das ist die kritisierte Doppelzüngigkeit des Westens. Da stellen viele Länder die Frage, ob sich der Westen herausnehmen kann, moralische Statements über die Welt zu machen.

    Zugleich zieht ein neuer Großkonflikt zwischen den USA und China auf.

    Diesen Konflikt gibt es auf mehreren Ebenen schon länger. Den Handelskrieg hat Donald Trump vor fünf Jahren ausgerufen. Dabei sind die beiden Volkswirtschaften längst so eng miteinander verbunden, dass man nicht so einfach wieder voneinander loskommt. Damit haben wir im Übrigen eine andere Situation als beispielsweise während des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den USA. Damals gab es diese Form der tiefen ökonomischen Integration nicht. Deswegen gehe ich davon aus, dass es auch keine militärische Konfrontation mit China geben wird. Ich hoffe nur, dass Peking keine falsche Bewegung Richtung Taiwan macht.

    Wenn Sie die Geschichte betrachten, leben wir gerade in besonders herausfordernden Zeiten?

    Absolut. Ich sehe historisch keine Konfliktlage, die so durch und durch unerquicklich mit anderen großen Krisen verwoben ist wie der Ukrainekrieg. Hinzu kommen die Klimakrise und die geopolitische Neuorientierung nach der Pandemie, die die Globalisierung in Teilen wieder zurückdreht. Das alles beeinflusst sich ungünstig. Wir hatten es in der Geschichte der Menschheit nie mit einer Situation zu tun, in der das Überleben der Menschheit auf dem Planeten, wie wir es kennen, gefährdet ist. Die Situation erfordert, diese drei Krisen zusammen zu sehen. Nationale Politiken werden nicht weiterhelfen, das ist allen klar. Unklar bleibt, ob daraus ein gemeinsames Handeln erfolgt.

    Ist die Zeitenwende eigentlich in den Köpfen der Menschen schon richtig angekommen, oder tröpfelt sie erst langsam ein?

    Immerhin öffnet sich jetzt ein Fenster der Möglichkeiten, weil alle Menschen sehen, welche Probleme vor uns liegen. Es gibt nur wenige Momente, in denen politische Akteure gestalten können und die große Mehrheit versteht, dass Gestaltung nötig ist. Insgesamt würde ich mir von der Politik mehr Mut wünschen. Niemand denkt über große Visionen für morgen nach. Wir brauchen aber eigentlich einen Aufbruch wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als die alte Ordnung in Trümmer gefallen war und etwas ganz Neues geschaffen werden musste. Eine Abkehr vom Prinzip des „Immer weiter so“ könnte Teil dieser Zeitenwende sein.