Hamburg. Fall Ibrahim A.: Länderübergreifendes Krisenmanagement funktionierte nicht. Erstes Gespräch auf Staatsratsebene geplant.

Ganz am Ende des Koalitionsvertrages, den SPD und Grüne Anfang Juni 2020 im Rathaus feierlich unterzeichnet haben, geht es in ein paar Sätzen um die Kooperation im Norden. „Eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit Hamburgs mit den anderen norddeutschen Ländern und in der Metropolregion ist selbstverständlicher Alltag ... Die Koalitionspartner wollen die regionale und norddeutsche Zusammenarbeit weiter intensivieren“, heißt es auf Seite 199.

So liest es sich, wenn in der Politik hehre Ansprüche in gehobener Stimmung auf geduldigem Papier formuliert werden. Die Wirklichkeit der vergangenen Wochen und Monate zwischen dem Stadtstaat und seinem engsten Nachbarn Schleswig-Holstein sieht doch reichlich anders aus. Enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit ist selbstverständlicher Alltag? Zusammenarbeit wird intensiviert? Davon konnte und kann schon bei dem Dauerstreit um das Thema Elbschlick nicht die Rede sein.

Und nun hat die Aufarbeitung der Hintergründe, die zu der schrecklichen Bluttat von Brokstedt am Mittwoch vor einer Woche geführt haben, deutlich werden lassen, wie schlecht das Krisenmanagement und die Abstimmung zwischen Kiel und Hamburg funktionieren, um von gedeihlicher oder intensiver Zusammenarbeit erst gar nicht zu reden.

„No blaming“ – keine Schuldzuweisungen – das ist die Hamburger Linie

Der 33 Jahre alte mutmaßlich staatenlose Palästinenser Ibrahim A. hat fünf Tage nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Billwerder in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg bei Brokstedt zwei Menschen erstochen und fünf weitere zum Teil schwer verletzt. A. wurde von Mitreisenden überwältigt und sitzt jetzt in der Justizvollzugsanstalt Neumünster ein.

Beide Bundesländer sind von dem Fall betroffen: In Kiel lebte A. eine Zeit lang, die dortige Ausländerbehörde ist für seinen Aufenthaltsstatus federführend. In Hamburg, wo er sich einige Wochen aufgehalten hatte, wurde er nach einer Messerattacke im Januar 2022 festgenommen und im August des Jahres wegen schwerer Körperverletzung zu einer Haftstrafe von einem Jahr und einer Woche ohne Bewährung verurteilt. Weil er über einen Anwalt Berufung gegen das Urteil eingelegt hatte, blieb er in Untersuchungshaft.

Messerattacke Brokstedt: Wer hat wann wen über die Inhaftierung informiert?

Wer hat wann wen über die Inhaftierung informiert? Welche Maßnahmen wurden für den Zeitpunkt nach der Entlassung von Ibrahim A. ergriffen? Und vor allem: Was passierte in den Tagen zwischen seiner Haftentlassung und der grausamen Tat? Die Schleswig-Holsteiner waren mit Vorwürfen schnell bei der Hand. Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) hielt Hamburg am Mittwoch vor, die Kieler Behörden zu spät über die Inhaftierung des Mannes informiert zu haben, und sah eine Verletzung der „Unterrichtungspflicht“ aufseiten der Hansestadt.

Pikant: Hauptadressatin der Kritik ist Tourés Parteifreundin, Justizsenatorin Anna Gallina. Deren Antwort fiel am Donnerstag vor dem Justizausschuss der Bürgerschaft recht souverän aus. Sachlich referierte Gallina, was die Rekonstruktion der Abläufe in den hiesigen Behörden und Dienststellen ergeben hatte. Unter anderem hatte ein Polizeibeamter die Kieler Ausländerbehörde schon unmittelbar nach der Verhaftung von A. im Januar 2022 darüber in Kenntnis gesetzt und das zweimal wiederholt, weil zunächst keine Reaktion erfolgte.

Gallina blieb sehr zurückhaltend, was Vorwürfe in Richtung Kiel angeht. „Wir zeigen mit dem Finger auf niemanden. Wir haben eine Aktenlage“, sagte die Senatorin in der rund zweistündigen Sitzung. Damit folgte Gallina genau der Linie, die Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) in der Senatsvorbesprechung am Dienstag ausgegeben hatte. „No blaming“ – keine Schuldzuweisungen – lautet Tschentschers Ansage, nachdem Gallina auch dort die Fakten im Fall Ibrahim A. aus Hamburger Sicht vorgetragen hatte.

Offensichtlich überzeugte die Darstellung der Senatorin auch Tschentscher. Schon argwöhnen manche, es könne sogar von Vorteil sein, dass sie als Nicht-Juristin nicht primär in Paragrafen und Verordnungen denke, sondern einen Außenblick auf die häufig genug arg bürokratischen und formalisierten Strukturen der Justiz werfe. Gallina war die fehlende juristische Qualifikation seit ihrer Amtsübernahme immer wieder vorgehalten worden.

Messerattacke Brokstedt: Länderübergreifendes Krisenmanagement funktionierte nicht

Wie dem auch sei – auch wenn sich der Eindruck aufdrängt, die Ministerien, Behörden und Dienststellen seien vor allem mit der Aufklärung der Abläufe in den eigenen Häusern beschäftigt: Völlig ohne Kommunikation auf politischer Ebene verliefen die Tage nach der Mordtat zwischen Kiel und Hamburg nicht. Bereits am Freitag der vergangenen Woche telefonierte Gallina mit der Staatssekretärin im Kieler Sozialministerium, Marjam Samadzade, einer Hamburgerin, die hier als Anwältin und Richterin gearbeitet hat.

Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) auf dem Weg in den Justizausschuss.
Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) auf dem Weg in den Justizausschuss. © dpa | Marcus Brandt

Die beiden Frauen tauschten sich über die wechselseitige Erkenntnislage im Fall Ibrahim A. aus. Dabei konnte Gallina nach Abendblatt-Informationen die Einschätzung aus Kiel korrigieren, die Justizvollzugsanstalt Billwerder habe auf eine E-Mail der Kieler Ausländerbehörde nicht reagiert. Am 4. Mai 2022 hatte die Anstalt die Behörde über die Inhaftierung von Ibrahim A. informiert. Dabei ging es um Fragen zum ausländerrechtlichen Status des Gefangenen. Die Kieler hatten Rückfragen unter anderem zur Dauer der Inhaftierung, die nach Hamburger Aktenlage wiederum beantwortet wurden. Nur findet sich diese Antwort weder in den Akten noch in den E-Mail-Fächern der Kieler.

Eigentlich hatten Samadzade und Gallina sich darauf verständigt, in der prekären Lage angesichts des großen öffentlichen Drucks nach der Brokstedt-Tat sich nicht gegenseitig mit Schuldvorwürfen zu überziehen. Das hat augenscheinlich nicht gut funktioniert. Aminata Touré und Anna Gallina haben nach Abendblatt-Informationen bis heute nicht miteinander gesprochen.

Direkten Kontakt zwischen den Regierungschefs beider Länder gab es nicht

Trotz der erkennbaren Dissonanzen und sich anbahnenden Zerwürfnisse hat es auch keinen Kontakt zwischen Tschen­tscher und Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) gegeben. Insgesamt konnte so in dieser Woche der Eindruck entstehen, dass angesichts der nahe liegenden Frage vieler Menschen, wie es überhaupt zu dieser furchtbaren Tat kommen konnte, in erster Linie jeder und jede um Schadensbegrenzung im eigenen Land bemüht war.

Die Gelegenheit, entstandenen Vertrauensschaden abzubauen und neues Vertrauen aufzubauen, ergibt sich allerdings schon bald. Ende März werden die Regierungen der fünf norddeutschen Länder in Bremen zu ihrer jährlich stattfindenden Konferenz Norddeutschland zusammenkommen. Traditionell sprechen die Ministerpräsidenten und Bürgermeister zum Auftakt für ein bis zwei Stunden miteinander, ehe der Kreis geweitet wird.

Eine weitere Gelegenheit, die Kommunikation zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein zu verbessern und die Zusammenarbeit zu intensivieren, besteht Anfang April. Dann wollen sich die Regierungen beider Länder zur gemeinsamen Kabinettssitzung in Brunsbüttel treffen. Diese jährlichen Begegnungen hatten der damalige Erste Bürgermeister Henning Voscherau und Ministerpräsident Björn Engholm (beide SPD) 1991 ins Leben gerufen. Damals wurde sogar eine „Vertragsgemeinschaft“ zwischen beiden Ländern geschlossen, und der Nordstaat schien nur ein paar Schritte entfernt ...

Zurück in die nüchterne Realität: Auf Initiative Hamburgs soll es nun möglichst zeitnah aus Anlass des Falls Ibrahim A. eine erste Gesprächsrunde auf Ebene der Staatsräte und -sekretäre aus den Bereichen Justiz, Inneres und Soziales (nur Schleswig-Holstein) geben, „um länder- und ressortübergreifend gemeinsame Handlungsoptionen für die Zukunft zu erörtern“, wie Justiz-Staatsrat Holger Schatz in seiner Einladung formuliert. Es sei sinnvoll, so Schatz, „über künftige Verbesserungen in den Kommunikationswegen und über etwaige rechtliche Handlungsbedarfe zu sprechen“. Außerdem soll geklärt werden, wer wann wen „bestenfalls hätte informieren sollen oder müssen“. Das alles scheint in der Tat nötig zu sein.