Hamburg. Problematisches Verhalten beobachten Experten immer häufiger bei Jugendlichen: UKE-Professor erklärt die Signale – und gibt Ratschläge.

In den vergangenen Jahren haben immer weniger Jugendliche in Hamburg Rauschmittel wie Alkohol oder Cannabis konsumiert. Dafür hat die problematische Nutzung von Computerspielen und Internetanwendungen zugenommen. Den Ergebnissen einer aktuellen Schüler- und Lehrkräftebefragung im Auftrag der Stadt (Schulbus-Studie) zufolge ist jeder Fünfte betroffen.

Diese Entwicklung besorgt auch Prof. Dr. Rainer Thomasius. Er ist ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, das jährlich 1600 Patientinnen und Patienten zwischen 12 und 28 Jahren betreut – davon 400 mit medienbezogenen Störungen. Mit dem Abendblatt sprach er darüber, woran man eine mögliche Sucht erkennt, und was hilft, damit sich diese gar nicht erst entwickelt.

Hamburger Abendblatt: Herr Thomasius, „Internetsucht“ ist erst mal ein großes Wort. Was heißt das genau?

Rainer Thomasius ist ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am UKE.
Rainer Thomasius ist ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am UKE. © UKE

Prof. Dr. Rainer Thomasius: Für Europa wurden kürzlich neue Diagnosekriterien festgelegt. Die WHO sagt: Für eine Computerspielsucht oder Abhängigkeit von sozialen Medien muss über 12 Monate hinweg beobachtbar sein, dass die Betreffenden einen Kontrollverlust in Bezug auf Frequenz, Intensität und Dauer aufweisen. Dass zusätzlich andere Freizeitaktivitäten, Schule und Familie vernachlässigt werden und dadurch signifikante, negative Konsequenzen wie schlechte Noten oder weniger Bewegung eingetreten sind.

Ab wann spricht man von einem problematischen Nutzungsverhalten?

Thomasius: Die Abgrenzung ist nicht ganz einfach, es gibt fließende Übergänge. Die WHO spricht auch hier von erhöhter Nutzungsfrequenz und -dauer, Vernachlässigung anderer Aktivitäten und negativen Konsequenzen – und das, obwohl dem Jugendlichen diese ungünstigen Entwicklungen durch das Spielverhalten bewusst sind. Also sehr ähnlich zur Sucht, der Unterschied liegt in den mehr oder weniger langen Zeiträumen.

Angenommen, ich mache als Jugendlicher meinen Schulunterricht und die Hausaufgaben übers Tablet und scrolle danach noch ein bisschen durch Instagram – das ist heutzutage relativ normal, aber nimmt doch einige Stunden in Anspruch. Woran merke ich, dass es zu viel wird?

Thomasius: Der Stundenaufwand allein ist kein starker Indikator. Wesentlich ist das Kontaktverhalten der Jugendlichen: Wenn sie persönlichen Begegnungen aus dem Weg gehen, Gespräche flüchtig und oberflächlich werden, sie launisch, wütend oder depressiv reagieren. Eltern berichten auch, dass ihre betroffenen Kinder nachlässig werden, bis in die Nacht hinein spielen und morgens nicht mehr aus dem Bett kommen.

Was können Eltern und Sorgeberechtigte in so einem Fall tun?

Thomasius: In Hamburg stehen in jedem Bezirk Jugendsuchtberatungsstellen zur Verfügung. Spezialisiert sind wir hier im UKE und arbeiten mit mehreren Terminen, um einschätzen zu können, wie ausgeprägt das Spielverhalten ist und welche Probleme bestehen. Dann steht ein ganzes Bündel unterschiedlicher Maßnahmen wie Beratungsgespräche für die Familie, therapeutische Begleitung oder ein Aufenthalt in der Tagesklinik zur Verfügung.

Was beobachten Sie am DZSKJ, wie viele Jugendliche betrifft diese Problematik in der jüngeren Vergangenheit?

Thomasius: Die Ergebnisse der Schulbus-Studie decken sich größtenteils mit unseren eigenen Langzeituntersuchungen zum Internetnutzungsverhalten. Wir haben auch festgestellt, dass die Nutzungszeiten für Computerspiele und soziale Medien während der Pandemie stark zugenommen haben. Bei den 10- bis 17-Jährigen haben wir in einer repräsentativen Studie im vergangenen Jahr auf Deutschland hochgerechnet 220.000 Behandlungsbedürftige mit einer Abhängigkeit von Computerspielen und 250.000 im Bereich Social Media festgestellt.

Laut Schulbus-Studie sind Mädchen stark betroffen, gerade wenn es um problematische Nutzung von sozialen Medien geht.

Thomasius: Diese Unterschiede sehen wir in unseren Studien nicht. Bei der problematischen Computerspielnutzung sind Jungen deutlich häufiger betroffen. Und bei sozialen Medien haben wir eine Geschlechterparität festgestellt. Im klinischen Setting sehen wir etwa 90 Prozent Jungen mit problematischen Internetnutzungsmustern.

Woran liegt das?

Thomasius: Das überlegen wir schon lange – die Vermutung ist, dass sich bei Jungen die Computersucht in den Vordergrund drängt und daher zu den Hilfegesuchen durch die Eltern oder Sorgeberechtigten führt. Typischerweise liegt exzessivem Computerspielverhalten eine Sozialphobie zugrunde. Es geht also um Jungen, die in ihrem Selbstwertgefühl von Kindheit an beeinträchtigt sind, keinen Zugang zu Gleichaltrigen finden und möglicherweise eine Konzentrationsstörung haben. Und sich in Computerspielen als grandios, stark und andere beeinflussend erleben.

Und bei den Mädchen?

Thomasius: Betroffene Mädchen sind wahrscheinlich aufgrund anderer psychischer Belastungen wie Depressionen, Selbstverletzungen oder Essstörungen in Behandlung. Dass eine Kombination mit problematischer Mediennutzung vorliegen kann, wird leider nicht immer hinreichend berücksichtigt und geht dann in der Behandlung unter.

Welche weiteren Entwicklungen beobachten Sie?

Thomasius: Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass Jugendliche mit riskantem Nutzungsverhalten nicht zwangsläufig eine Sucht entwickeln – das ist ein großer Unterschied zu den substanzbezogenen Süchten, also bei Cannabis oder Alkohol. Hier ist die Gefahr, dass der riskante Gebrauch in eine Sucht bis ins Erwachsenenalter übergeht, sehr viel größer. Beim Internetkonsum finden viele auch ohne therapeutische Hilfe wieder zu einem normalen Nutzungsverhalten.

Gilt das auch für die Zeit während und nach der Corona-Pandemie?

Thomasius: In pubertären Krisen oder diesen pandemiebedingten Situationen wie Lockdowns, in denen Kitas und Schulen geschlossen waren und der Kontakt zu Freunden und Sport fehlte, wurde zeitweilig mit einer überhöhten Internetnutzung gegenreguliert. Das muss nicht zwangsläufig in eine Sucht münden. Dennoch sind wir besorgt, weil sich zeigt, dass bei den Jugendlichen, die schon vorher pro­blematische Muster hatten, sich diese im Laufe der Pandemie verstärkt haben. Es waren also nicht alle Jugendlichen gleich betroffen.

Was kann man präventiv tun, damit es gar nicht erst zu Sucht und problematischer Nutzung kommt?

Thomasius: Ich teile die Auffassung der Schulbus-Autoren, dass es sehr wichtig ist, Medienkompetenz zu vermitteln. Aber nicht nur den Jugendlichen, sondern auch den Eltern. Eine wesentliche Erkenntnis unserer Studien ist, dass eine gute Betreuung und Anleitung einen sehr starken präventiven Effekt haben.

Und das findet aktuell noch nicht genug statt?

Thomasius: 50 Prozent aller Eltern machen keine Vorgaben zur Internetnutzungszeit ihrer Kinder. Ein Drittel macht darüber hinaus auch keine Vorgaben zu den Inhalten, die ihre Kinder im Netz konsumieren dürfen – weil sie meist selbst nicht genug darüber informiert sind. Das ist bedenklich, weil Kinder, die zu früh im Internet allein gelassen werden, ein erhöhtes Risiko für ein problematisches Nutzungsverhalten haben. Wir empfehlen daher zum Beispiel, dass Kinder bis zum Schulbeginn nicht mithilfe digitaler Medien lernen und spielen und vor der 5. Klasse auch kein eigenes Smartphone oder einen PC im Zimmer haben sollten.