Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über den Umgang mit den Älteren.
In „Wie jetzt?“ unterhalten sich Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider und der ehemalige Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute beschäftigen sie sich mit der Frage, wie wir mit den Älteren umgehen.
Lars Haider: Lieber Herr Lenzen, fahren Sie noch Auto?
Dieter Lenzen: Die Frage wäre berechtigt, wenn ich 100 Jahre alt wäre, das ist aber nicht der Fall. Selbstverständlich fahre ich noch Auto, mit großem Vergnügen und seit 55 Jahren unfallfrei, mit insgesamt zwei Millionen gefahrenen Kilometern.
Ich habe Ihnen die Frage auch nur gestellt, weil Sie vorgeschlagen haben, ob wir nicht einmal über die Fahrtüchtigkeit von älteren Menschen sprechen wollen, die regelmäßig in die Schlagzeilen gerät, wenn wieder jemand in der Waitzstraße in ein Schaufenster gefahren ist, zum Beispiel, weil er oder sie Gas- und Bremspedal verwechselt hat.
Lenzen: Ich finde die Diskussion über mögliche Altersbeschränkungen für Autofahrer seltsam und bin grundsätzlich dagegen, weil das ja der Annahme gleichkäme, dass alle Menschen ab Erreichen eines bestimmten Alters unfähig sind, dieses oder jenes zu tun, in diesem Fall Auto zu fahren. Das ist für mich Altersrassismus, ein Phänomen, das es auch in anderen Lebensbereichen gibt. Denken Sie zum Beispiel an das Höchstalter für Schöffen, das bei 70 liegt. Geht man davon aus, dass Menschen jenseits der 70 keine Urteilsfähigkeit mehr haben?
Das wäre absurd in einer Phase, in der überall über Fachkräftemangel geklagt wird, und in der es sich Unternehmen eigentlich nicht mehr leisten können, auf die Erfahrung älterer Kolleginnen und Kollegen zu verzichten. Mein Gefühl ist, dass sich durch die demografische Entwicklung der Blick auf das, was wir bisher Alter genannt haben, komplett drehen könnte.
Lenzen: Und wir wissen, dass die intellektuelle Kapazität im Alter keineswegs linear abbaut. Man muss unterscheiden zwischen einer fluiden und einer kristallinen Intelligenz. Ältere Menschen verfügen über eine sichere, zuverlässige Intelligenz, die auf sehr viel Erfahrung beruht, während jüngere Menschen eine Intelligenz haben, die flexibler ist und auf Veränderungen besser reagieren kann. Das eine ist nicht besser als das andere, man braucht in einem Unternehmen und in einer Gesellschaft beides.
Es kommt noch hinzu, und vielleicht kriegen wir dadurch die Kurve zum Autofahren, dass es in diesen aufregenden Zeiten hilft, wenn es in Unternehmen wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen Leute gibt, die die Ruhe bewahren, und sei es, weil sie in ihrem Leben viele aufregende Phasen erlebt haben und wissen, wie man damit umgehen muss.
Lenzen: Das stimmt, aber auch das gilt nicht für alle älteren Menschen. Jeder kennt jemanden, der auch oder gerade im Alter die Wände hochgeht. Wir müssen den Einzelfall anschauen und wegkommen von Pauschalisierungen. Bleiben wir bei dem Beispiel Autofahren: Mehr als 50 Prozent der schweren Autounfälle werden von 18- bis 24-Jährigen verursacht, und trotzdem stellen wir nicht die gesamte junge Generation unter den Verdacht, schlecht Auto fahren zu können. Nach dem Muster des öfter geäußerten Vorschlags, man sollte über 70-Jährige zwingen, sich auf ihre Fahrtüchtigkeit prüfen zu lassen, könnte man das auch, und aus gutem Grund, von den 18- bis 24-Jährigen verlangen. Das eine wie das andere wäre Unsinn.
Tatsächlich sind Ältere, wenn man sich die Statistiken ansieht, nicht überproportional an Unfällen beteiligt, sie sind also keine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer.
Lenzen: Unfälle, die von Älteren verursacht werden, sind sowieso zu einem großen Teil Blechschäden. Die Zahl von Menschen, die bei einem Unfall getötet werden, an dem ältere Autofahrer Schuld sind, sinkt ständig.
Wird sich diese Debatte nicht sowieso erledigen, weil sich in den nächsten Jahren die Kohorten verschieben und die große Mehrheit in diesem Land die Älteren sein werden und sich entsprechend deren Wahrnehmung noch einmal verschieben wird? Die sogenannten Boomer werden ganz andere Seniorinnen und Senioren sein als die Generationen davor.
Lenzen: Als ich Kind war, war ein 60 Jahre alter Mann ein uralter Opa, heute würde das niemand mehr behaupten. Die Rolle, die die Älteren in den kommenden Jahren spielen werden, wird eine neue sein, allein deshalb schon, weil sie die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler stellen werden. Und wer dann zum Beispiel als Politikerin oder Politiker fordert, dass ältere Menschen regelhaft zu Fahrtüchtigkeitsuntersuchungen gehen müssen, läuft Gefahr, es sich mit genau dieser wichtigen Gruppe zu verscherzen. Die Älteren werden entscheidend sein für die Entwicklung, die unsere Demokratie nehmen wird.
Trotzdem schauen die meisten immer noch darauf, wie sie am besten die jungen Menschen erreichen. Das ist natürlich eine relevante Frage, allerdings mit der Einschränkung, dass in Deutschland die jüngeren Zielgruppen in den nächsten Jahren auch kleine Zielgruppen sind. Und was die Politik angeht, kann man sagen: Die nächsten Wahlen werden von den Älteren entschieden, das kann man gut finden oder schlecht, aber es ist auf jeden Fall ein Fakt.
Lenzen: Nicht von ungefähr kommt die Forderung, das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen – aus Parteien, die glauben, eher jüngere Menschen anzusprechen, mit dem Hintergedanken, dann bessere Chancen bei einer Wahl zu haben. Ähnliche Überlegungen gab es schon einmal in den 70er-Jahren, damals sind sie nicht aufgegangen.
Ich wäre sehr dafür, das Wahlalter überall auf 16 zu senken, allein schon, um den demografischen Nachteil für jüngere Generationen wenigstens etwas auszugleichen.
Lenzen: Deswegen gibt es ja auch den gefährlichen Vorschlag, dass Menschen ab einem bestimmten Alter nicht mehr wählen können sollen. Oder dass eine Gewichtung von Stimmen stattfinden soll, die von Jüngeren könnten zum Beispiel doppelt gezählt werden. Das ist gefährlich, weil mit solchen Vorschlägen verschiedene Generationen gegeneinander ausgespielt werden. Alle Generationen werden in gleicher Weise gebraucht, um das große Schiff Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch über Wasser zu halten.
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Das heißt auch, dass Olaf Scholz recht damit hatte, als er kurz vor Weihnachten in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt sagte, dass man in Deutschland alles dafür tun müsse, dass die Menschen möglichst lange Spaß an ihrer Arbeit haben und möglichst spät auf den Gedanken kommen, in den Ruhestand gehen zu wollen. Ich glaube, wir müssen offen aussprechen, dass wir den Arbeitskräftemangel, diese 400.000 Leute, die im Saldo pro Jahr in Deutschland fehlen werden, nicht allein durch Zuwanderung werden ausgleichen können. Soll heißen: Wir werden alle länger arbeiten müssen, und ich kenne viele, die das gar nicht schlimm finden. Vielleicht wollen sie nicht mehr Vollzeit arbeiten, aber zwei, drei Tage die Woche würden ja auch schon helfen.
Lenzen: Es ist im Interesse vieler Menschen, die nach dem abrupten Renteneintritt plötzlich in ein tiefes Loch fallen, weil sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr gebraucht werden. Das ist nicht gesund. Es wäre viel besser für alle Beteiligten, wenn wir die Kompetenz von älteren Menschen so lange wie möglich nutzen würden. Natürlich kann man mit 70 Jahren nicht mehr am Hochofen stehen, aber solche Jobs sind ja im Jahr 2023 auch nicht mehr der Normalfall. Wenn wir wollen, dass ältere Menschen lange arbeiten können, müssen wir ihr Umfeld so gestalten, dass das auch tatsächlich möglich ist. Das gilt für den Straßenverkehr genauso: Wenn wir feststellen, dass ältere Menschen dort Schwierigkeiten haben, dann ist die Lösung nicht, ihnen die Teilnahme am Straßenverkehr zu verbieten. Wir müssen den so organisieren, dass sie sich im Auto, auf dem Fahrrad oder als Fußgänger gefahrlos und sicher bewegen können. Dazu gehört übrigens auch, dass es weiter genügend Parkplätze in einer Stadt wie Hamburg gibt.
Wie kriegen wir die Einstellung zum Alter und den Älteren insgesamt gedreht?
Lenzen: Wir müssen die Teilnahmebedingung an der Gesellschaft so gestalten, dass sie niemanden ausschließt, das kleine Kind genauso wenig wie den 80- oder 90-Jährigen. Übrigens: Eine Tante von mir ist 102 Jahre alt und arbeitet immer noch als Gynäkologin. Sie macht das mit ihrer Tochter zusammen, die inzwischen auch schon 70 ist, und die Patientinnen sind begeistert und rennen den beiden die Bude ein.